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Akteur*innen & Projekte/Forschungseinblicke

Buch über die Erinnerungskultur in der Colonia Dignidad im März erschienen

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Buch über die Erinnerungskultur in der Colonia Dignidad im März erschienen

Im März 2022 ist das Buch

„Die Colonia Dignidad zwischen Erinnern und Vergessen

Zur Erinnerungskultur in der ehemaligen Siedlungsgemeinschaft“

von Meike Dreckmann-Nielen im Transcript-Verlag erschienen.

Aus dem Klappentext:

Die Colonia Dignidad erlangte wegen zahlreicher bis heute unaufgeklärter Menschenrechtsverbrechen internationale Bekanntheit. Dass einstige Mitglieder der deutschen Gruppe das historische Siedlungsgelände in Chile unter dem Namen »Villa Baviera« (deutsch: bayerisches Dorf) schrittweise zu einem touristischen Freizeitort umfunktioniert haben, sorgt angesichts der mangelnden Aufarbeitung für anhaltende Kritik. Meike Dreckmann-Nielen untersucht, wie sich einstige Mitglieder der Gruppe heute an ihre eigene Vergangenheit erinnern. In ihrer Studie ermöglicht sie einen intimen Einblick in komplexe erinnerungskulturelle Dynamiken im Mikrokosmos der ehemaligen Siedlungsgemeinschaft.

 

 

Interview des Transcript-Verlags mit der Autorin:

1. Warum ein Buch zu diesem Thema?

Die Zeit der Colonia Dignidad zählt zu den dunkelsten Kapiteln deutsch-chilenischer Geschichte. Da die Aufarbeitung der dort begangenen Verbrechen bis heute nur schleppend vorangeht, ist sie allerdings längst nicht nur ein historisches Kapitel, sondern für viele Opfer bittere Gegenwart. Dieses Buch möchte nun einen Beitrag zur Aufarbeitung leisten, indem es aufzeigt, wie die eigene Vergangenheit im Mikrokosmos der ehemaligen Colonia Dignidad heute verhandelt wird und welche Konsequenzen dies hat.

2. Welche neuen Perspektiven eröffnet Ihr Buch?

Das Buch blickt erstmals dezidiert mit einer erinnerungskulturellen Fragestellung auf die Colonia Dignidad. Es untersucht den Umgang der einstigen Mitglieder der Colonia Dignidad mit ihrer eigenen Vergangenheit an dem Ort der historischen Menschenrechtsverbrechen, dem heutigen Tourismusort ›Villa Baviera‹. Das Buch spürt gruppeninternen Narrativen und Geschichtsbildern nach, um schließlich Wirkmechanismen erinnerungskultureller Dynamiken aufzuzeigen.

3. Welche Bedeutung kommt dem Thema in den aktuellen Forschungsdebatten zu?

Der Forschungsstand zum Thema Colonia Dignidad ist bisher sehr dünn. Eine ganze Monographie zum erinnerungskulturellen Erbe der Siedlungsgemeinschaft hat es bisher noch nicht gegeben. Das Buch knüpft damit vor allem an bisherige Grundlagenstudien zur Verbrechensgeschichte an und spannt einen Bogen in die Gegenwart, indem es die Bedeutung komplexer Aushandlungsprozesse von Vergangenem in der Gegenwart einer spezifischen Siedlungsgemeinschaft analysiert.

4. Mit wem würden Sie Ihr Buch am liebsten diskutieren?

Ich wünsche mir noch einmal die Gelegenheit, persönlich mit den Betroffenen über meine Erkenntnisse aus der Forschungsarbeit zu sprechen. Leider kam die Pandemie dazwischen, sodass noch kein neues Treffen stattfinden konnte. Aktuell freue ich mich darauf, bei der Buchpräsentation im März 2022 mit Renate Künast und Elke Gryglewski über meine Ergebnisse zu diskutieren und ihre spezifischen Sichtweisen dazu zu hören.

5. Ihr Buch in einem Satz:

Das Buch beleuchtet, wie die ehemaligen Mitglieder der Colonia Dignidad heute am historischen Ort der Siedlung mit der eigenen Geschichte umgehen.

 

Hinweis: Dieses Interview mit der Autorin Meike Dreckmann-Nielen ist zuerst auf der Webseite des Transcript-Verlages erschienen und darf mit freundlicher Erlaubnis auch hier zur Verfügung gestellt werden.

 

 

Gastbeiträge

Dieter Maier über das „Täter-Opfer-Syndrom“ in der Colonia Dignidad

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Dieter Maier über das „Täter-Opfer-Syndrom“ in der Colonia Dignidad

Foto von dem bisherigen Museum der Villa Baviera, Bildrechte: MDN

Kommentar zur Veröffentlichung des Zeitzeugenberichts von Friedhelm Bensch auf diesem Blog

ein Gastbeitrag von Dieter Maier 

Täter*in oder Opfer?

Viele Ich-Berichte ehemaliger Bewohner*innen der Colonia Dignidad enthalten bezeichnende Lücken. Sie verweisen auf das kaum zu lösende Problem, wer Opfer und wer Täter*in war. Schäfer hatte dafür gesorgt, dass nahezu jede*r schlug und jede*r geschlagen wurde. Ehemalige Bewohner*innen, die ausschließlich Opfer waren, gab es kaum. Ein früherer Bewohner, der wie kaum ein Anderer zum Opfer der Colonia Dignidad geworden war, ist sich heute sicher, dass die „Colonos“ nicht nur Opfer sondern auch Täter*innen waren. Er selbst, und nicht nur er, bezeichnet sich als beides. Es gab in Schäfers System kaum eine Alternative. Bisher wurden nur wenige Geschichten gesammelt, in denen einstige Colonia-Mitglieder von Momenten des Widerstands berichten, in denen sie sich der Willkür Paul Schäfers widersetzen konnten.

Auch von Zeitzeug*innen verfasste Texte auf diesem Blog enthalten dieses Täter-Opfer-Syndrom. Edeltraud Bohnau berichtet beispielsweise, wie ihr Mann Willi Malessa auf Befehl Schäfers Leichen von ermordeten chilenischen politischen Gefangenen ausgrub. Machte ihn das zum Mittäter? Friedhelm Bensch schreibt in seinem Bericht: „Diese Prügelstrafen konnten jeden treffen. Das nächste Mal wurde Manfred verschlagen…  ich war auch bei denen, die zuschlugen. Erst als ich erwachsen, reifer wurde, stellte ich mich nicht mehr in die Reihe der Schläger. Ich fühlte mich bei solchen Auseinandersetzungen so, als würde ich die Strafe selber erleiden.“ Was Bensch schildert, weist ihn ohne Frage als Opfer aus, aber in einer Publikation, die Abgeordneten des Deutschen Bundestags übergeben wurde, wird Bensch ohne weitere Angabe von Gründen als einer der Täter genannt, „die unser Leben zerstörten und unheilbare Wunden in unserer Seele hinterließen“ (Die Opfer fordern Gerechtigkeit (ohne Autor), 3. Aufl. Lindenberg (Druckort) 2017).

Die früheren Bewohner*innen sehen sich heute fast alle als Opfer. Täter waren Schäfer, der schon tot war, und einige wenige enge Gefolgsleute. Dieser Blog möchte dazu beitragen, den dauernden Opfer-Diskurs zu durchbrechen, um differenzierter auf das System der Colonia Dignidad zu blicken. Denn jenes System beruhte auf ebendieser Beteiligung seiner Mitglieder an den Verbrechen. Fast in jedem Fall gibt es einen Opfer- und einen Täteranteil, und es wäre in einer gemeinsamen interdisziplinären Diskussion zu klären, wie und wozu diese zu gewichten wären.

Rückmeldungen zum Bericht von Friedhelm Bensch

Ich habe mich umgehört, um einen Eindruck zu gewinnen, wie der zuletzt auf diesem Blog veröffentlichte Text von Friedhelm Bensch im historischen Bezugsrahmen der Colonia Dignidad zu verstehen sein könnte. Bisher stehen leider erst wenige Zeitzeugenberichte zur öffentlichen Verfügung, um etwas über die Geschichte der Colonia Dignidad zu erfahren. Um in Zukunft einen angemessenen multiperspektivischen Blick auf einzelne Berichte zu ermöglichen, macht das Oral History Projekt der Freien Universität Berlin Hoffnung.

Erste Kommentare zu Benschs Text waren etwa:

Friedhelm Bensch hat Schäfer früh durchschaut. Er wurde deshalb von Schäfer auch immer schlecht angesehen.

Eine frühe Bewohnerin der Colonia Dignidad schrieb:

Jeder hat sich auf seine Weise und mit seinen Mitteln durchgekämpft.

Andere Personen wünschen sich, dass die Äußerungen einzelner ehemaliger Colonia-Bewohner*innen weitere zum Aufschreiben ihrer Erinnerungen motivieren kann. So schrieb mir einer:

Halte es für äußerst wichtig, diesen Link überall hin zu verteilen, besonders an ehemalige Colonos, damit auch seine Niederschrift als Beispiel wirkt und sich andere motivieren lassen gleiches zu tun.

Das Kontrollsystem „Bimmel und Bammel“

Ein Blick auf das perfide System der „Bimmel und Bammel“ innerhalb der Colonia Dignidad eignet sich, um den schmalen Grat des Opfer- und Täterseins zu verdeutlichen. Deshalb möchte ich abschließend noch einmal darauf eingehen. Die kleinen Jungen wurden durch ein System mit dem unscheinbaren Namen „Bimmel und Bammel“ in die Hierarchie der Colonia Dignidad eingebunden. Die Bammel waren ältere Jugendliche oder junge Männer, die den ganzen Tag die jüngeren Bimmel überwachten. Schäfer organisierte sein „Teile-und-Herrsche“, indem er jeweils einen Bammel einem Bimmel zuwies.

Einen Bammel zu haben, war eine Erziehungs- und Strafmaßnahme. Die Bammel durften die Bimmel schlagen, erniedrigen und beschuldigen. Bimmel und Bammel mussten Distanz halten. Wenn sich ein Bimmel dem anderen näher als einen Meter näherte oder sich mehr als zwei Meter entfernte, gab es sofort Schläge. Der Bammel wiederum war an den Bimmel gebunden, denn er durfte sich nur wenige Meter von ihm entfernen. Die Bimmel durften nicht miteinander sprechen, spielen oder gar sich berühren. Es war ein unerträglicher Dauerkonflikt zwischen Nähe und Distanz, der sich regelmäßig in Aggressionen der Bammel gegen die durch unsichtbare Ketten an sie gebundenen Bimmel entlud. Die Bammel gaben die Gewalt weiter, die sie selbst zuvor erlitten hatten. Für Schäfer lag der praktische Sinn dieses Systems darin, dass er tagsüber die Jungen, denen er sexualisierte Gewalt antat, von den anderen isolieren konnte. Sie konnten mit niemanden über ihre sexualisierte Gewalterfahrungen sprechen.

 

[Hinweis: Der CDPHB macht sich die Beiträge seiner Gastautor*innen nicht zu eigen.] 

Akteur*innen & Projekte/Forschungseinblicke/Interviews

„Songs of Repression“ – neue Doku über das Leben nach der Colonia Dignidad

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„Songs of Repression“ – neue Doku über das Leben nach der Colonia Dignidad

Ein Bewohner vor einer Sauna in der ehemaligen Colonia Dignidad

Im März 2020 feierte der Dokumentarfilm „Songs of Repression“ von den Filmemacher*innen Marianne Hougen-Moraga und Estephan Wagner Premiere auf dem diesjährigen Internationalen Dokumentarfilmfestival Kopenhagen (CPH:DOX). Dort gewann er gleich zwei Preise: einen für den besten dänischen Film (Politiken:Dok:Award) und den Hauptpreis des Festivals, den DOX:Award. Ende dieser Woche läuft er auch (online) beim DOK.fest in München an.

Inzwischen hat es zahlreiche dokumentarische und journalistische Filmprojekte zum Thema Colonia Dignidad gegeben. „Songs of Repression“ nähert sich der Thematik aus einem besonderen Blickwinkel: Er nimmt die Erinnerungen der bis heute in der ehemaligen Colonia Dignidad lebenden Menschen in den Blick. Er schaut sich an, wie die Menschen ihrer Vergangenheit in der Colonia Dignidad rückblickend Sinn verleihen. Dabei bemüht er sich nicht darum, eine detaillierte Chronik der historischen Ereignisse zu zeigen. Er nimmt vielmehr die individuellen Bewältigungsstrategien in den Fokus. Die Geschichten der Sprechenden erzählen von unterschiedlich erfolgreichen Strategien: von Verdrängung, Verleugnung, Reue, Schuld, über Trauer, Überforderung; hin zu kleinen Freuden, Hoffnung und Sehnsucht.

Drei Männer in der Villa Baviera beim Musizieren, Foto: Wagner & Hougen-Moraga

Musik durchzieht den Film als zentrales Motiv wie ein roter Faden. Deshalb auch der Titel „Songs of Repression“, welchen die Filmemacher*innen für den 90-minütigen Film gewählt haben. Die Rolle der Musik habe die Filmemacher*innen besonders beschäftigt, weil sie als etwas „eigentlich schönes und freies“ in der Colonia Dignidad auch zu einem Werkzeug der Repression verwandelt worden sei.

Die Berliner Professorin für Musiktherapie, Susanne Bauer, war nach der Festnahme Paul Schäfers Teil eines Psychotherapeut*innen-Teams, welches die Menschen der Colonia Dignidad psychotherapeutisch betreute. In einem Aufsatz zur Rolle von Musik in der Colonia schreibt sie:

Sie [die Musik, Anm. MD] war in vielen Fällen ein Mittel zur Unterdrückung, Demütigung und Beschämung, gleichzeitig aber auch ein Gegenmittel zu so mancher malignen Intention von Sektenführer Schäfer. In und mit ihr konnte man gute Gefühle spüren, die nicht einfach zunichte gemacht oder weggenommen werden konnten. (1)

Bis heute polarisiert das Thema Musik in der ehemaligen Colonia Dignidad. Während einige bis heute Freude an Chor-Gesang haben, musizieren manche lieber alleine und wieder andere schließen kategorisch für sich aus, jemals wieder singen zu wollen. Was manche rückblickend als gemeinschaftsstiftend empfanden, wirkt bei anderen schon bei dem Gedanken daran retraumatisierend. Zu schmerzhaft die Repressionen, die sie in Chor oder Orchester erleben mussten. Wieder anderen ist die Musik ein Rückzugsort, an den sie sich zurückziehen, um ihre Vergangenheit für einen Moment ruhen zu lassen. „Songs of Repression“ gibt all diesen Empfindungen Raum und lässt sie dennoch nie alleine stehen. Denn jede Geschichte einer Person ist nur einen präzisen Schnitt von einer anderen Perspektive entfernt.

Was der Film leider nicht berücksichtigt, ist die Bedeutung von klassischer Musik für chilenische Oppositionelle, die während der Militärdiktatur zu Stücken von Tschaikowsky oder Mozart in der Colonia Dignidad gefoltert worden sind. Eine Geheimdiensttechnik, die den „Schwanensee“ oder „Eine kleine Nachtmusik“ in zynische Waffen gegen Menschen verwandelte.

Chor singt auf dem Friedhof der Villa Baviera, Foto: Wagner & Hougen-Moraga

Insgesamt ist ein beeindruckend aufmerksamer und sensibler Dokumentarfilm entstanden, dem es gelingt, vielschichtige Facetten von Erinnerungen an ein totalitäres System einzufangen. Ein Film mit viel Empathie für die traumatischen Erfahrungen Einzelner, aber vor allem mit einem kritischen und differenzierten Blick auf die komplexen Zusammenhänge der konfliktbehafteten Erinnerungskultur in der heutigen Villa Baviera. Spannend ist dabei, dass ihm das nahezu ausschließlich mit den Erinnerungen von Zeitzeug*innen gelingt. Während andere Produktionen manchmal versuchen, die Moral mit dem Vorschlaghammer einzubläuen und damit Gefahr laufen, den Blick für die Komplexität des Themas zu verlieren, gelingt es dieser Produktion viel subtiler, sich an den Kern erinnerungskultureller Aushandlungsprozesse heranzutasten.

Estephan Wagner und Marianne Hougen-Moraga

Die beiden Regisseur*innen Marianne Hougen-Moraga und Estephan Wagner sind ein Paar und leben heute in Kopenhagen. Sie ist Dänin-Chilenin und er Deutsch-Chilene. Das Thema Colonia Dignidad beschäftigt sie nicht erst seit dem gemeinsamen Filmprojekt „Songs of Repression“. Beide begegneten der Colonia Dignidad bereits im Kindes- und Jugendalter. Allerdings aus zwei gegensätzlichen Perspektiven, die vielen Chile*innen bekannt vorkommen dürften. Wagner kannte die Gruppe um Schäfer von dem Familienrestaurant „Casino Familar“, welches die Colonia in der chilenischen Stadt Bulnes betrieb. (2) Auf dem Weg in den Urlaub nach Südchile wählte seine Familie das Restaurant der deutschen Siedler*innen, weil ihnen das deutsche Essen schmeckte und ihnen der Ort gefiel. Seine Familie verteidigte die Gruppe und ihr Vorzeige-Image gegen Anfeindungen und Vorwürfe. Hougen-Moragas Familie hingegen kannte früh die Gerüchte von dem Folterlager, welches der chilenische Geheimdienst DINA in der Colonia Dignidad eingerichtet hatte. Sie wusste, dass in der Colonia Dignidad im Auftrag der Militärdiktatur Augusto Pinochets gefoltert und gemordet wurde. Sie wuchs bei ihrer Mutter im dänischen Exil auf und kannte die Warnungen vor der Gruppe um Paul Schäfer.

Als die beiden Filmemacher*innen sich in ihren 30ern kennenlernten, hatten sie längst begonnen, die Geschichten über die Colonia Dignidad weiter zu hinterfragen. Beiden war klar: Sie wollten sich von einem Schwarz-Weiß-Bild ihrer Kindheit und Jugend lösen und die komplexen Facetten in den Blick nehmen, welche die Geschichte der Colonia Dignidad mit sich bringt. Insgesamt besuchten sie die heutige Villa Baviera und ihre Bewohner*innen über einen Zeitraum von dreieinhalb Jahren in regelmäßigen Abständen. Gemeinsam mit ihren Kindern zogen sie für sechs Monate in die nähergelegene Stadt Chillán. Sie ließen die Menschen sprechen und luden sie ein, ihre Sichtweisen auf die eigene Vergangenheit zu teilen. Dabei hatten sie das Ziel vor Augen, die Menschen zu verstehen und die Logik der historischen Sinngebungen zu begreifen.

Auf die Frage, wie Hougen-Moraga und Wagner ihre Interviewpartner*innen ausgewählt haben, hebt Wagner im Gespräch mit diesem Blog hervor:

Wir machen keine Interviews. Wir haben uns mit den Menschen unterhalten. Das ist für uns ein riesiger Unterschied. Denn das Wort Interview beinhaltet ein Machtgefälle zwischen Interviewendem und Interviewten. Wir haben oft und auch sehr lange mit den Menschen gesprochen. Auch ohne Kamera. Wir haben auch einen ganzen Monat die Kamera gar nicht rausgeholt. Viele sind selbst auf uns zugekommen, sobald sie Vertrauen gefasst hatten.

Hougen-Moraga und Wagner fanden unterschiedliche Bewältigungsstrategien für den Umgang mit eigenen Traumata vor:

We found that behind the attempt to create a paradise for themselves and for tourists, people living there have very different strategies for dealing with their traumas: from staying silent about the past and choosing only to remember the bright moments, to a desire to open up while being unable to vocalize their pain.

Zwei ältere einstige Colonia-Anhängerinnen auf der Pflegestation der Villa Baviera, Foto: Wagner & Hougen-Moraga

Die Frage danach, wer eigentlich Opfer des Systems und wer Täter*in war, gelangt dabei in den Hintergrund. Diese Entscheidung der Filmemacher*innen hätte in Anbetracht der mangelnden Aufarbeitung der Verbrechen problematisch ausgehen können. Ist sie aber nicht – ganz im Gegenteil: Die Zuschauerin spürt in jedem Moment die Verwicklungen der gezeigten Personen und ihre individuellen Aushandlungen mit der eigenen oft schmerzhaften und auch schuldaufgeladenen Vergangenheit. Bauchbinden mit Namen, Rolle und Verantwortung im historischen System Colonia Dignidad sind in diesem Film gar nicht nötig, während sie in anderen Doku-Formaten dringender vermisst wurden. „Songs of Repression“ braucht sie nicht, weil der Film nicht auf eine Kategorisierung in Schuld und Unschuld abzielt. Ein geschichtskultureller Drahtseilakt, bei dem die Filmemacher*innen die vielfältigen Bewältigungsstrategien der Betroffenen offenlegen, ohne die Sprechenden vorzuführen.

Eine weitere Besonderheit an diesem feinfühligen Dokumentarfilm ist, dass Wagner und Hougen-Moraga sich von den so genannten Talking Heads, sprechenden Köpfen, entfernt haben. Sie geben ihren Gesprächen mit den Betroffenen einen Kontext. Die Zuschauerin erhält einen Einblick in die Sekunden, manchmal Minuten vor dem offiziellen Beginn. Das verleiht den Aufnahmen eine Authentizität, wie sie Talking Heads und dramatische Erzähl-Stimmen nicht schaffen können. „Songs of Repression“ braucht auch keine dramatisierende Hintergrundmusik oder eine*n Sprecher*in, die das Unbeschreibliche weiter zuspitzt. Der Schmerz der Vergangenheit und die Bewältigungsstrategien sind derart spürbar, dass keine speziellen Effekte nötig sind. Einzig präzise Schnitte, die den Perspektivwechsel dann vornehmen, wenn er dramaturgisch nötig ist, um ein komplexeres Bild von den Menschen in der ehemaligen Colonia Dignidad zu zeichnen. Die filmische Inszenierung gelingt, weil viele Nuancen eingefangen wurden und die Menschen für sich selbst sprechen dürfen.

Bewohner der Villa Baviera, Foto: Wagner & Hougen-Moraga

Dieser souveräne Umgang mit einem erinnerungskulturellen Minenfeld liegt vielleicht auch in der Erfahrung mit problematischen Vergangenheiten begründet, auf die das Team der beiden Regisseur*innen Hougen-Moraga und Wagner zurückgreifen kann. Denn die Produzent*innen Joshua Oppenheimer und Signe Bryge Sørensen haben Erfahrung mit konfliktbehafteten Erinnerungskulturen und ihren vielschichtigen Ausprägungen. Sie wagten mit dem Dokumentarfilm „The Act of Killing“ (2012) eine umstrittene Annäherung an die Täter-Perspektive auf die Massaker in Indonesien 1965–1966.

Dokumentarfilm-Fans und Interessierte an der Geschichte der Colonia Dignidad sehen einen Film, der Ambivalenzen hervorhebt anstatt zu moralisieren. Aber auch ohne Geschehenes zu beschönigen. Der Film ist auf Augenhöhe mit den Betroffenen produziert worden. Und die Beziehung zwischen Filmemacher*innen und Dargestellten endete nicht mit seiner Fertigstellung. Denn Hougen-Moraga und Wagner flogen mit dem fertigen Film zunächst nach Chile, um ihn in der ehemaligen Colonia Dignidad vor der Premiere vorzuführen. Das hatten sie versprochen. Im Gespräch mit diesem Blog heben sie hervor:

Wir möchten weiterhin an dem Thema bleiben. Wir haben viel Kontakt zu den Menschen und wir haben Freundschaften geschlossen. Das ist uns ganz wichtig. Unser Interesse hört nicht auf, weil wir aufgehört haben zu drehen. Deshalb sind wir auch dorthin gefahren, um den Film zu zeigen. Das hat etwas mit Respekt zutun. Wir arbeiten auf eine Art und Weise, wo wir nichts verbergen wollen. Die Offenheit, und ich glaube, dass man das auch im Film merkt, ist uns ganz wichtig.

Was wie eine Kleinigkeit daherkommt, bedeutet den Menschen vor Ort eine Menge. Denn Vertrauen fällt den meisten bis heute nicht leicht. Und zuletzt war es für die Betroffenen häufig schwierig die Filme, Serien und Dokus, an denen sie häufig mitgewirkt haben, überhaupt zu sehen.

Vielversprechend wäre es auch, wenn Hougen-Moraga und Wagner einen zweiten Teil drehen würden – dieses Mal auch mit Perspektiven von außerhalb der Villa Baviera. Zum Beispiel mit explizitem Fokus auf die Erinnerungen der Familienangehörigen von in der Colonia Dignidad Verschwundenen. Oder auch mit Blick auf die Erfahrungen der chilenischen Jungen, die noch in den 1990er-Jahren im so genannten „Intensivinternat“ der Villa Baviera zu Opfern sexualisierter Gewalt durch Paul Schäfer geworden sind. Die politische, juristische, künstlerische und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Colonia Dignidad ist längst nicht abgeschlossen.

„Songs of Repression“ kann ab sofort online beim DOKfest München angesehen werden.

 


Regie: Estephan Wagner & Marianne Hougen-Moraga

Produktion: Signe Bryge Sørensen & Heidi Elise Christensen

Produktionsleitung: Joshua Oppenheimer

Filmlänge: 90 Minuten

Sprachen: Deutsch und Spanisch, englische Untertitel


 

(1) Das Casino Familiar besteht bis heute und wird von der gegenwärtigen Villa Baviera geführt.

(2) Susanne Bauer, Über die Bedeutung und den Einfluss von Musik auf Menschen in extremen Lebenssituationen am Beispiel der Sekte ‚Colonia Dignidad‘ in Chile, in: Stephan Grätzel und Jann E. Schlimme (Hg.), psycho-logik, Jahrbuch für Psychotherapie, Philosophie und Kultur, Freiburg/München 2013, S. 217.

Akteur*innen & Projekte

Dieter Maier erhält „Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland am Bande“

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Dieter Maier erhält „Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland am Bande“

Menschenrechtler Dieter Maier und Darmstädter Regierungspräsidentin Brigitte Lindscheid © Regierungspräsidium Darmstadt

Der freie Journalist und Publizist Dieter Maier wurde am 1. November 2019 mit dem „Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland am Bande“ ausgezeichnet. Überreicht wurde ihm der Orden für sein außergewöhnliches Engagement für das Gemeinwohl. Dieter Maier ist insbesondere für seine Publikationen zur berüchtigten Colonia Dignidad in Chile bekannt geworden.

Die Auszeichnung war Dieter Maier am vergangenen Freitag durch die Regierungspräsidentin des Regierungsbezirks Darmstadt Brigitte Lindscheid übergeben worden. Mit dem Verdienstorden soll der Menschenrechtler vor allem dafür geehrt werden, dass er durch wissenschaftliche, journalistische und politische Arbeit in besonderem Maße dazu beitrug, dass die in der Colonia Dignidad begangenen Menschenrechtsverbrechen aufgeklärt wurden.

Auf Anfrage dieses Blogs teilte Dieter Maier mit, dass er sich zwar über die Ehrung seiner Arbeit freue, aber dennoch einen ambivalenten Blick auf die „Symbolpolitik“ behalte:

Ich empfinde die Auszeichnung als verspätete Anerkennung. Das macht mich immerhin zufrieden. Aber müssen immer erst 40 Jahre vergehen, ehe solche Würdigungen kommen? Die Bundesregierung hätte viel Leid verhindern können, wenn Sie uns 1977, als wir die Broschüre von Amnesty International über die Colonia Dignidad schrieben, ernst genommen hätte. Sie hat uns aber die Tür vor der Nase zugeschlagen. Mir bleibt der fahle Nachgeschmack, dass Symbolpolitik jetzt richten soll, was die Realpolitik damals vermasselt hat.

Dieter Maier studierte in den 1960/70er-Jahren Germanistik, evangelische Theologie und Philosophie. Im Rahmen seiner Arbeit für Amnesty International verfasste Dieter Maier gemeinsam mit seinem Co-Autor Jürgen Karwelat im Jahr 1977 eine Informationsbroschüre über die menschenrechtswidrigen Zustände in der Colonia Dignidad. Diese war gemeinsam von Amnesty International und der Zeitschrift STERN unter dem Titel „Colonia Dignidad. Ein deutsches Mustergut in Chile – ein Folterlager der DINA“ veröffentlicht worden. Die Führung der Colonia Dignidad klagte daraufhin auf Unterlassung. Es folgte ein jahrzehntelanger Rechtsstreit, der erst beendet wurde, als die bundesdeutsche Vertretung der Colonia Dignidad sich aufgelöst hatte. Erstmals gab diese Broschüre auch chilenischen Menschen eine Stimme, die auf dem Gelände der Colonia Dignidad durch den chilenischen Geheimdienst DINA gefoltert wurden. Neben dieser Broschüre publizierte Dieter Maier außerdem einige Sachbücher zum Thema Colonia Dignidad, sowie eine Täterbiographie über den chilenischen Militärdiktator Augusto Pinochet.

Quelle: Pressemitteilung des Regierungspräsidiums Darmstadt 

Akteur*innen & Projekte/Interviews

„Wir waren am meisten und intensivsten von der Sektenbildung betroffen.“

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„Wir waren am meisten und intensivsten von der Sektenbildung betroffen.“

Michael Gordon ist Pastor in der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde (Baptisten) Gronau. Auf Wunsch jüngerer Gemeindemitglieder hat er sich die Erforschung der Vorgeschichte der Colonia Dignidad in Gronau vorgenommen. Im Interview gibt er einen ersten Einblick in seine Nachforschungen und erklärt, warum Paul Schäfer weder als Evangelist, noch als Baptist bezeichnet werden könne.

Gronauer Pastor Michael Gordon im Interview über seine Forschungen zur Colonia Dignidad 

Meike Dreckmann-Nielen: Herr Gordon, inwiefern ist die Geschichte der Colonia Dignidad denn ein wichtiger Teil der Geschichte Ihrer Baptistengemeinde?

Michael Gordon: Fast die Hälfte der 300 ehemaligen Bewohner*innen der Colonia Dignidad stammte direkt oder indirekt (Mitglieder, Freund*innen, Kinder) aus der Baptistengemeinde Gronau. Wir waren am meisten und intensivsten von der Sektenbildung betroffen. Die Gemeinde verlor durch den Verlust der vielen Familien mit Kindern ihre natürliche Zukunft.

MD: Wie viele gegenwärtige Mitglieder Ihrer Gemeinde sind aus der ehemaligen Colonia Dignidad zu Ihnen gekommen?

MG: Dauerhaft hat sich uns nur eine Familie angeschlossen. Ich kenne aber die meisten anderen ehemaligen Bewohner*innen der Colonia Dignidad, die in Gronau wohnen, und habe zumeist einen guten, aber nicht engen Kontakt. Nach meinem Wissen haben nur wenige ehemalige Bewohner*innen der Colonia in einer deutschen Freikirche eine Heimat gefunden.

Paul Schäfers Zielgruppe waren Christ*innen.

MD: Der Gronauer Prediger Hugo Baar spaltete damals die örtliche Baptistengemeinde, indem er sich dem freien Evangelisten Paul Schäfer anschloss. Was faszinierte Hugo Baar und seine Anhänger*innen damals an der Person Paul Schäfer und an seinen „Lehren“?

MG: Zunächst möchte ich sagen, dass die Selbstbezeichnung Paul Schäfers als „Evangelist“ irreführend ist. Der Titel war und ist nicht geschützt und wurde in frommen Kreisen mit etwas Anerkennenswertem assoziiert. Leben, Aktivitäten und Zielgruppe von Paul Schäfer entsprachen aber nicht der eines solchen Evangelisten. Nach meiner bisherigen Erkenntnis hat sich kaum jemand unmittelbar durch Paul Schäfer bekehrt (man vergleiche als Gegenbeispiel Billy Graham). Gerhard Mücke dürfte einer der ganz wenigen gewesen sein. Paul Schäfer hat sicherlich nicht durch Evangelisationen die Menschen an sich gezogen. Seine Zielgruppe waren Christ*innen. Hugo Baar hatte sich Mitte 1954 Paul Schäfer angeschlossen, was sich sofort in seiner veränderten Tätigkeit als Prediger in einer Baptistengemeinde in Salzgitter bemerkbar machte und sich dann bei seiner Arbeit in Gronau fortsetzte. Die Spaltung in Gronau ist ein komplexes Geschehen, zu dem ich mich an anderer Stelle äußern werde, genauso die Gründe, warum man sich Paul Schäfer angeschlossen hat. Sie dürften aber unterschiedlich gewesen sein.

Es ist eine meiner Herausforderungen, das spezifisch „Schäferische“ herauszuarbeiten.

MD: Wo sehen Sie baptistische Einflüsse in Schäfers „Lehren“ und an welchen Stellen wurde das damalige Glaubensgerüst eindeutig zu einer Privatreligion Schäfers?

MG: Paul Schäfer war nie Baptist, ließ sich zwar in den fünfziger Jahren taufen und taufte auch kurzzeitig selbst. Die Taufe spielte aber schon bald in seiner „Theologie“ keine Rolle mehr. Zwar stammten 85 % seiner Anhänger*innen aus den Baptistengemeinden, die entscheidende Mehrheit hatte sich aber mit dem Anschluss an Paul Schäfer/Hugo Baar innerlich von Grundgedanken des Baptismus entfernt. Entscheidend muss für Paul Schäfer seine Begegnung mit –im weitesten Sinne– Pfingstlern gewesen sein. Der Entschluss zu einer eigenen „Kirche“ fiel vermutlich schon gegen Ende seines Aufenthaltes in Gartow Anfang der 50er-Jahre. Wie vorhin erwähnt, ist es eine meiner Herausforderungen, das spezifisch „Schäferische“ herauszuarbeiten. Die von Paul Schäfer im Laufe der Zeit vorgenommenen inhaltlichen und praktischen Veränderung bei der Beichte gehören sicherlich dazu. Hatte sie zu Anfang noch sehr viel Ähnlichkeit mit vergleichbaren „Beichten“ in anderen christlichen Gruppen und Strömungen, so war sie Anfang 1960 nur noch ein Zerrbild. Diese Änderung der Beichte geschah in einem Prozess in den 50er-Jahren.

Die Leitung und die Predigerschaft unseres Baptistenbundes waren damals in das tragische Geschehen involviert.

MD: Wie kam es dazu, dass Sie sich die Erforschung dieses Teils der Gemeindegeschichte vornahmen?

MG: Die kriminellen Machenschaften in der Colonia Dignidad, die durch den Spielfilm „Colonia Dignidad – Es gibt kein Zurück“ einem breiteren internationalen Publikum bekannter wurden, aber auch die Rückkehr ehemaliger Colonia-Bewohner*innen nach Gronau und auch Anfragen von außerhalb der Gemeinde, ließen die Frage intern bei den Jüngeren aufkommen, was damals in der Gemeinde vor 1962 passierte. Diese Frage konnte oder wollte kaum einer von den damals Beteiligten beantworten. Wir fanden dann ein altes Protokollbuch des Gemeindeleiters (beginnend 1957) und es wurde deutlich, dass das Drama in Gronau viel größere Dimensionen hatte, als wir „Jüngeren“ wussten oder gar ahnten. Die Leitung und die Predigerschaft unseres Baptistenbundes waren damals in das tragische Geschehen involviert. Bis Ende 1957 waren mehrere Baptistengemeinden in drei verschiedenen Landesverbänden von Spaltungen betroffen und drei Prediger wurden von der Prediger-Liste gestrichen, d.h. sie durften nicht mehr als Prediger der Baptistengemeinden arbeiten.

MD: Wie müssen sich die Leser*innen den Umfang Ihrer Nachforschungen vorstellen?

MG: Es leiten mich drei Fragen. Erstens: Was passierte genau in Gronau? Hier geht es dann insbesondere um die Jahre 1955 -1962. Zweitens: Warum passierte es, oder besser: Wie konnte so etwas passieren? Und drittens: Worin genau unterschied sich im Laufe der Zeit die Gruppe um Paul Schäfer und Hugo Baar von allen anderen vergleichbaren christlichen Bewegungen der 50er-Jahre?

MD: Und können Sie schon erste Erkenntnisse teilen?

MG: Erst im Laufe der umfangreichen Recherchen und auch dann durch meinen Besuch im Frühjahr diesen Jahres in der ehemaligen Colonia Dignidad wurde mir deutlich, dass man Gronau nicht separat betrachten kann und darf, sondern es um alle Personen und Gemeinden geht, die sich Paul Schäfer und Hugo Baar anschlossen. Alle Ereignisse und Personen stehen in Wechselwirkung zueinander.

Als Pastor oder Theologe geht es mir dabei insbesondere um das religiöse Weltbild und die religiösen Praktiken der betroffenen Personen in den Gemeinden und der Hauptakteure Paul Schäfer und Hugo Baar. Der Forschungszeitraum umfasst, in Bezug auf die Anhänger*innen der späteren Sekte beziehungsweise die betroffenen Gemeinden, die Nachkriegszeit bis 1962; in Bezug auf Paul Schäfer und Hugo Baar deren Lebensgeschichte bis 1962. Die Folgezeit in Chile wird insofern mit einbezogen, als dass man anhand der späteren Früchte auf die Wurzeln schließen kann.

Es lässt sich nachweisen, dass sehr viele Gedanken und Aktivitäten der späteren Sekte in den 50er-Jahren Parallelen zu den frommen christlichen evangelischen Kreisen der damaligen Zeit aufweisen. Die Herausforderung besteht nun darin, herauszukristallisieren, worin genau das Spezifikum bestand, sodass aus der Anhängerschaft Schäfer/Baar eine Sekte entstehen konnte.

MD: Welche Ziele verfolgen Sie mit Ihren Nachforschungen?

MG: Die Zielsetzung der Forschungsarbeit und einer beabsichtigten Publikation ist vielschichtig.

  1. Für unsere Gemeinde ist es wichtig, a) dass sie weiß, was damals passierte und dass sie sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzt und, b) dass sie sprachfähig ist, gegenüber der Außenwelt, die uns immer mit der Colonia Dignidad in Verbindung bringen wird.
  2. Das Gleiche gilt in geminderter Form für die anderen damals betroffenen Gemeinden und in ähnlicher Weise für den deutschen Baptismus.
  3. Den ehemaligen Bewohner*innen der Colonia Dignidad soll es ebenfalls helfen, ihre Wurzeln zu verstehen, um so vielleicht etwas besser mit ihrem Schicksal umgehen zu können.
  4. Die Bürger*innen der Stadt Gronau haben damals die schrecklichen Ereignisse hautnah miterlebt, denn es waren ihre Nachbar*innen, Arbeitskolleg*innen, Schulkamerad*innen und bisweilen auch ihre Verwandten. Auch sie haben ein Recht zu erfahren, was warum geschah.
  5. Die Geschichte der Colonia Dignidad wird sicherlich über Jahrzehnte ein Forschungsprojekt unterschiedlicher Disziplinen sein. Meine spezifische Sichtweise und Darbietung alter Dokumente soll anderen Forschenden in ihrem Bemühen eine Unterstützung sein.

Michael Gordon im Oncken-Archiv des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden

MD: Wie sieht es denn in den Kirchenarchiven aus? Mit welchem Bestand arbeiten Sie?

MG: Die Freikirchen haben nicht automatisch ein gepflegtes Kirchenarchiv noch eine*n Zuständige*n für alte Gemeindeakten. So ist es sehr mühselig und zeitraubend, entsprechende Dokumente zu finden oder zu erhalten und ich bin auf die Mithilfe anderer angewiesen. Am umfangreichsten ist sicherlich das Material aus Gronau, beziehungsweise das, was ich im Archiv unseres Gemeindebundes gefunden habe und das sich überwiegend auf Gronau bezieht. Insgesamt habe ich mittlerweile etliche 100 Seiten bisher nicht ausgewerteter Dokumente angesammelt.

MD: Wurden Sie bei Ihrer Dokumentensuche auch von älteren Gemeindemitgliedern und Zeitzeug*innen aus Gronau unterstützt?

MG: Den Grundstock bildet ein Ordner von Heinz Rahl, dessen Angehörige teilweise zur Colonia Dignidad gehörten. Er hatte mir den Ordner vor seinem Tod gegeben, zu einem Zeitpunkt, an dem ich mich aber erst wenig für die Colonia interessierte. Er enthält unter anderem Gronauer Zeitungsberichte aus den frühen 60er-Jahren und zwei interessante Briefe. Privatpersonen in Gronau besitzen sonst meistens keine relevanten Dokumente, zumal die allermeisten damals unmittelbar Betroffenen mittlerweile verstorben sind. Mündlich wird mir aber das ein oder andere erzählt.

Wie gesagt, alles sind kleine Details, die zusammen ein Gesamtbild ergeben werden.

MD: Gab es besonders unerwartete Materialfunde während Ihrer Recherche?

MG: Jedes neue Dokument ist wie ein Puzzleteil, welches das Bild nach und nach vervollständigt. So bekam ich vor einiger Zeit ein Dokument über Paul Schäfers Bemühen, in der Pfingstgemeinde Graz Einfluss zu nehmen. Kurz darauf fand ich in einer Autobiographie eines österreichischen Pfingstpredigers einen kurzen kritischen, persönlichen Bericht über seine Begegnung mit Paul Schäfer, der im Zusammenhang mit genau diesem Dokument steht. Zuletzt erhielt ich auch Einsicht in Protokolle von Baptistengemeinden aus dem Großraum Schwülper/Wasbüttel, die Aufschluss über die Zusammenarbeit mit Paul Schäfer geben. Wie gesagt, alles sind kleine Details, die zusammen ein Gesamtbild ergeben werden.

MD: Und zuletzt: Ist es auch anderen Forscher*innen und Interessierten möglich, in Ihren Gemeindearchiven zu der Frühgeschichte der Colonia Dignidad zu recherchieren? An wen können sich Interessierte denn am besten wenden?

MG: Ich beabsichtige nach einer Publikation, meine Dokumente einem Archiv zur weiteren Forschung zur Verfügung zu stellen. Alles andere ist leider schwierig, da das Meiste über persönliche Kontakte lief. Viele Kontakt wurden mir als Pastor aus der Baptistengemeinde Gronau, die unmittelbar betroffen war und ist, anvertraut.

(Michael Gordon beantwortete die Fragen schriftlich via Email.) 

Akteur*innen & Projekte/Interviews

„Wenn plötzlich jemand anfängt zu reden.“

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„Wenn plötzlich jemand anfängt zu reden.“

Die Sonderpädagogin Heike Rittel nahm sich Auszeiten vom Lehrer-Beruf und reiste mehrmals in die ehemalige Colonia Dignidad nach Chile. Aus ihrem anfänglich privaten Interesse entwickelte sich über die Jahre ein Buch-Projekt, das als erste Publikation die Erfahrungen der weiblichen Sektenmitglieder in den Mittelpunkt stellt. Im Interview gibt sie einen Einblick in persönliche Herausforderungen, emotionale Begegnungen und Reaktionen auf die “Frauenprotokolle”.

Heike Rittel im Interview zu ihrem Buch über die Frauen der Colonia Dignidad

Meike Dreckmann: Im Jahr 2012 warst du im Rahmen einer privaten Chile-Reise zum ersten Mal in der Villa Baviera. Danach ließ dich das Thema nicht mehr los und es schlossen sich weitere Reisen für dich an. 2018 hast du dann gemeinsam mit Jürgen Karwelat das Buch „Lasst uns reden. Frauenprotokolle aus der Colonia Digniad“ im Schmetterling Verlag veröffentlicht. Wie ist die Idee für dieses Buch entstanden und wie kam es zu der Zusammenarbeit mit Jürgen Karwelat?

Heike Rittel: Wer als Deutscher durch Chile reist, stößt überall auf Spuren und Einflüsse Deutscher. Und so kommt man früher oder später auch nicht an den Spuren der ehemaligen Colonia Dignidad vorbei. Was bei diesem Thema sofort neugierig macht, ist die extrem unterschiedliche Bewertung der Berichtenden. Man findet bis heute in Chile genügend Menschen, die sich vor allem an gelungene Kulturprogramme und deftiges deutsches Essen in den Restaurants der Colonia erinnern und man hört auf der anderen Seite von den langjährigen Verbrechen an verschiedenen Opfergruppen. Mit dieser Neugier fuhren wir dorthin, um uns selbst ein Bild zu machen. Wir hatten uns vorher umfassend in Literatur und Medien informiert und waren so sicher, über ein gefestigtes und politisch korrektes Bild der Geschehnisse vor Ort zu verfügen.

Und dann ließ uns vor allem ein Satz aufhorchen, den wir nur allzu gut kannten: „Es war nicht alles schlecht.“ Da wurde uns plötzlich ein Spiegel vorgehalten, zu dem, was wir im Umgang mit der DDR-Geschichte von zu Hause kannten. Und aus dieser Erfahrung wollten wir keineswegs die Besserwisser von außen sein, sondern begannen erst einmal gründlich mit dem Zuhören. Schon das erste vertraute Gespräch mit Maria Schnellenkamp, der Tochter des Mitbegründers dieser Sekte, machte mich fassungslos. Zaghaft begann sie zu erzählen. Irgendwann wagte ich Fragen zu stellen.

Wir konnten hiesige Medien für das Thema interessieren und erste Lesungen fanden in Spremberg in kleinen Frauengruppen, der Volkssolidarität oder auch anderen Ortsgruppen statt. Parallel dazu lernte ich Jürgen Karwelat am Rande eines Treffens im Haus der Wannsee-Konferenz kennen. Jürgen lud uns anschließend zu einem Treffen der Not- und Interessengemeinschaft nach Hamburg ein. Auch dort las ich aus einem Protokoll. Nach jeder Lesung motivierte man mich zum Schreiben eines Buches. Dies tat ich dann im zweiten Sabbatjahr und bat Jürgen um die geschichtliche Einbettung.

Über die Jahre hatten wir auch schon vielfach Zeitzeugen aus der Villa Baviera bei uns zu Gast im Haus.

MD: Zur Zeit deiner ersten Reise in die Villa Baviera gab es ja noch keine Tourismus-Strukturen. Wie müssen sich die Leser*innen den Ablauf deiner Reisen in die Villa Baviera vorstellen? Wie haben die Menschen auf dich reagiert, wo hast du geschlafen, gegessen und gearbeitet?

HR: Während unserer ersten Reise schliefen wir auf dem Fundo im noch nicht fertigen Hotel in einem schönen Zimmer. Wir kamen sehr schnell mit den ehemaligen Sektenmitgliedern ins Gespräch. Sie hörten uns zu und wir ihnen noch viel lieber. Wir aßen allein oder mit ihnen im Zippelsaal und arbeiteten während der ersten Reise gar nicht. Während aller anderen Reisen schliefen wir immer privat bei den Leuten. Über die Jahre hatten wir auch schon vielfach Zeitzeugen aus der Villa Baviera bei uns zu Gast im Haus. Die Interviews führte ich meistens im Freihaus oder bei den Frauen zu Hause.

Die größte Herausforderung war für uns meine atheistische Erziehung und Denkweise.

MD: Wie hast du die Interviewpartnerinnen ausgewählt? Und was waren bei deiner Arbeit die größten Herausforderungen?

HR: Wichtig war mir der Querschnitt durch alle Altersgruppen und nach Möglichkeit auch verschiedene Lebenslinien. Die größte Herausforderung war für uns meine atheistische Erziehung und Denkweise. Unser gemeinsamer Glaube an das Gute im Menschen schaffte uns dann aber ein gutes Fundament im Miteinander. Wichtig war für die Frauen auch, dass sie das Protokoll nach jeder Interviewsitzung nochmals lesen durften. Daraus schöpften die Frauen – aus meiner Sicht- ein enormes Vertrauen.

Maria Schnellenkamp und Heike Rittel während eines Familienausfluges

MD: In den Frauenprotokollen sind die Geschichten einzelner Frauen in ihrer Rohform zu lesen. Sie sind zwar zur besseren Lesbarkeit redigiert, lassen die Leser*innen aber mit der Brutalität der Erfahrungen in der Colonia Dignidad allein. Ich gebe zu, dass ich mit diesen Protokollen, die häufig von sexualisierter Gewalterfahrung erzählen, emotional zu kämpfen hatte. Warum hast du dich dafür entschieden, die Interviews für sich stehend zu veröffentlichen?

HR: Ich wollte den Frauen die Möglichkeit geben, ihren entbehrungsreichen Lebensweg umfassend zu erzählen. Mir erschien eine zusätzliche Wertung überflüssig. Dies überlasse ich dem*r interessierten Leser*in. Hilfestellungen sind dafür sicher im Buch die geschichtliche Einbettung, der Zeitstrahl, aber auch die Begriffserklärung und das Personenregister.

Im Gegensatz zu den Erfahrungen der Männer denke ich, dass jede Frau, jedes Mädchen der Colonia Dignidad mit dieser Gewalterfahrung allein umgehen musste.

MD: In der bisherigen Berichterstattung zu der Geschichte der Colonia Dignidad wurden die Erfahrungen der Mädchen und Frauen mit sexualisierter Gewalt wenig berücksichtigt. Dein Buch stellt sie mit den Geschichten der Frauen in den Mittelpunkt. Was unterscheidet deiner Meinung nach die Erfahrungen der Frauen von denen der Männer in der Colonia Dignidad?

HR: Meiner Meinung nach stelle ich die sexualisierte Gewalt der Frauen in der ehemaligen Colonia Dignidad nicht in den Mittelpunkt des Buches. Alle Fragen waren mir gleichrangig. Und nach sexueller Gewalt fragte ich direkt gar nicht. Die Frauen erzählten erst nach einigen Jahren über diese persönlich besonders schrecklichen Erlebnisse, denn sie mussten mir hier enorm vertrauen, und als sich das Buchprojekt entwickelte, mussten sie sich darüber klarwerden, dass diese emotional stark belastenden, beschämenden Momente ihres Lebens nun öffentlich werden. Dies war ein Prozess, den ich mit jeder Frau ganz allein und individuell ging. Vielleicht half mir hier auch meine langjährige Arbeit als Sonderpädagogin. Im Gegensatz zu den Erfahrungen der Männer denke ich, dass jede Frau, jedes Mädchen der Colonia Dignidad mit dieser Gewalterfahrung allein umgehen musste. Wem sollten sie sich anvertrauen? Alles wurde sofort Schäfer erzählt und die Strafe, ob in Form von Redeverbot, Prügel vor der ganzen Gemeinschaft, Gruppenkeile oder langjährige Isolation wären die Folge gewesen. Die jüngeren männlichen Mitglieder der Colonia Dignidad ahnten untereinander, was sich im Zimmer von Schäfer abspielte; wenn z.B. einer als Sprinter über Nacht bei Schäfer schlafen durfte, Zuneigung erhielt, vielleicht sogar Schokolade, aber auch sexualisierte Gewalt erlitt.

Doch ich weiß auch von einer Frau, dass sie jetzt unter ihrer Aufrichtigkeit leidet.

MD: Während meines Forschungsaufenthaltes in der heutigen Villa Baviera habe ich im Februar 2019 etwas Interessantes erlebt: Frauen, die während meiner ersten Reise in die Villa Baviera im Jahr 2016 noch schüchtern vor Interview-Situationen davongelaufen waren, verhielten sich nun anders. Viele Zeitzeuginnen stellten sich mir recht stolz vor mit Sätzen wie: „Ich bin ja auch in dem Buch.“ oder „Meine Geschichte kennst du vielleicht aus dem Buch.“ Andere hingegen fühlen sich immer noch von den Älteren in der Villa Baviera für ihr Mitmachen verurteilt und deshalb etwas unwohl mit ihrer Entscheidung für ein Interview. Wie lautet denn deine persönliche Bilanz? Welchen Einfluss hatten die Frauenprotokolle innerhalb der Villa Baviera und auch außerhalb?

HR: Diese Protokolle haben die aktiven Frauen mehrheitlich enorm gestärkt. Doch ich weiß auch von einer Frau, dass sie jetzt unter ihrer Aufrichtigkeit leidet. Ihre Gruppentante lebt noch auf dem Fundo und verurteilte die Protokolle sehr harsch, täglich begegnen sie sich. Diese ängstliche Frau bleibt in solchen Situationen auch jetzt noch das kleine Kind, obwohl sie mittlerweile 60 Jahre alt ist. Dieses hierarchische Denken, verbunden mit der starken Angst, etwas falsch gemacht zu haben, ist in ihr leider wieder aufgekeimt. Ich erhielt aber auch Leserbriefe von ehemaligen Sektenmitgliedern, die nun in Deutschland leben, sich bei mir für das emotionale Buch bedankten und oft schrieben: „Vielen Dank für Ihre breite Sichtweise auf das Leben in der Colonia Dignidad. Ich habe ja gar nicht gewusst, dass so viele so viel aushalten mussten.“ Und hier liegt auch eine meiner weiteren Beobachtungen: Ob es nun die „Protokollfrauen“ selbst oder ehemalige Sektenmitglieder sind, sie bleiben immer in der Betrachtung: „Das von damals habe ich ja gar nicht so gewusst.“ Natürlich nicht. Das wird dem*r Leser*in auch sehr schnell klar. Bei den Lesungen in Deutschland verneigen sich die Zuhörer*innen vor den „Protokollfrauen“, ihren Familien, ihrem Lebensmut, ihrer Lebenskraft und ihrem Leben, Arbeiten und Denken im Jetzt.

Heike Rittel im Interview mit Renate Malessa

MD: Welches waren deine emotionalsten Momente während des Buchprojektes?

HR: Unmöglich, alle Erlebnisse aufzuzählen. Neben atemberaubenden gemeinsamen Momenten in der wunderbaren Natur sind es immer wieder vor allem Gesprächsmomente, die verblüffen und beeindrucken. Wenn plötzlich jemand anfängt zu reden, der sich bisher komplett verweigert hatte. Wenn einem eine Frau, die man nun schon jahrelang zu kennen glaubt, plötzlich völlig neue Ungeheuerlichkeiten eröffnet, über die sie bisher nicht zu sprechen gewagt hatte. Wenn man scheinbar nebenbei um Rat gebeten wird zu Erziehungsfragen und Aufklärungsfragen bezüglich der Kinder, die uns banal erschienen, jedoch für die dort Lebenden aufgrund des Verbots von Familienleben einfach nicht zum Erfahrungsschatz gehören. Wenn man Widerstand erfährt, die Nachforschung und Aufklärung behindert wird und plötzlich stehen dort mutige Frauen solidarisch neben einem und lassen sich das Reden nicht mehr verbieten. Wenn man erfährt, wie jahrelanges persönliches Leiden ohne Rachegedanken und Hass verarbeitet werden. Und welch ambivalente Rolle der Glaube an Gott spielen kann, einerseits jahrzehntelang im Interesse der Unterdrücker und Peiniger, andererseits nun, um persönliche Stabilität und Souveränität im neugewonnenen freien Leben zu gewinnen.

MD: Was hat dich dein Buchprojekt gelehrt?

HR: Die Prozesse um die Entstehung des Buches haben mich einzigartig gelehrt, wie extrem wichtig und befreiend reden, zuhören und das Erfahren von Aufmerksamkeit bei Betroffenen in unterschiedlichsten Zusammenhängen sein können. Und dass Menschlichkeit unabhängig von der jeweiligen politischen Lage unteilbar und selbst unter schlimmsten Bedingungen unausrottbar ist. Außerdem bin ich bei den Arbeiten am Buch in eine Gemeinschaft aufgeklärter und engagierter Menschen in Deutschland und Chile geraten, die sich unter- und füreinander unterstützen, motivieren, konstruktiv kritisieren und zuhören. Das allein ist schon eine sehr wohltuende und solidarische Erfahrung.

Meine Schule hat eine Schulpartnerschaft mit der Grundschule vor den Toren der Villa Baviera.

MD: Wie engagierst du dich über das Buchprojekt hinaus für die ehemaligen Sektenmitglieder?

HR: Ich gehe sehr gern mit ein oder zwei „Protokollfrauen“ auf Lesereise. Ich möchte die Frauen auch weiterhin stärken, und gemeinsam wollen wir aufklären über das Dasein in der ehemaligen Colonia Dignidad und ihrem heutigen entbehrungsreichen Leben in Deutschland oder Chile.

Meine Schule hat eine Schulpartnerschaft mit der Grundschule vor den Toren der Villa Baviera. Alle Kinder der neuen Generation besuchen diese Schule. Vielfach überreichte ich dort Unterrichtsmaterialien, die besonders den Deutschunterricht unterstützen.

Für ein halbes Jahr wohnte der Sohn eines ehemaligen Sektenmitgliedes bei uns zu Hause, besuchte das wohnortnahe Gymnasium, lernte etwas Deutsch und die Abläufe in der freiwilligen Feuerwehr unseres Ortes kennen.

Den „Protokollfrauen“, ihren Familien und auch vielen anderen Mitgliedern der ehemaligen Sekte Colonia Dignidad werde ich auch weiterhin stark verbunden bleiben, die Entwicklung ihrer Kinder aus der Ferne beobachten und allen sehr gern mit Rat und Tat zur Seite stehen.

Heike Rittel beantwortete mir die Fragen schriftlich via Mail. 

Akteur*innen & Projekte/Interviews

„Hier kann die Geschichte auf einer abstrakten Ebene thematisiert werden.“

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„Hier kann die Geschichte auf einer abstrakten Ebene thematisiert werden.“

Sonja Hugi lebt und arbeitet als Illustratorin, Graphikerin und Historikerin in Berlin. Gegenwärtig arbeitet sie an ihrer ersten Graphic Novel, die sie der Geschichte der Colonia Dignidad widmet. Im Interview erzählt sie von den Chancen, die das Graphic Novel-Format für die Geschichtsvermittlung mitbringt. Sie berichtet aber auch von der Skepsis, die diesem vermeintlich neuen Format in Deutschland immer noch anhaftet. Außerdem gibt sie einen Einblick in ihre ersten Entwürfe.

Sonja Hugi im Interview über ihre Graphic Novel zur Geschichte der Colonia Dignidad

Meike Dreckmann: Sonja, erkläre doch mal kurz, was eigentlich eine Graphic Novel ist.

Sonja Hugi: Graphic Novel bedeutet grafischer Roman und das beschreibt es eigentlich ganz gut. Eine Graphic Novel ist eine gezeichnete Geschichte – in der Regel mit Text ergänzt. Man könnte das Genre auch als „erwachsenen“ Bruder des Comics bezeichnen. Über die genaue Abgrenzung herrscht aber Uneinigkeit, die Form kann ganz unterschiedlich sein und es gibt eine Menge Subgenres. Manche Graphic Novels haben einen dokumentarischen Charakter, andere lassen sich eher dem Bereich Fantasy zuordnen. In letzter Zeit gab es auch immer mehr Roman-Adaptionen. Das finde ich aber eigentlich schade, denn dann ist eine Graphic Novel nur eine Übersetzung eines Romans und nutzt nicht unbedingt das eigene schöpferische Potential des Formats.

MD: Und worum geht es in deiner Graphic Novel?

SH: Ich möchte die Geschichte der Colonia Dignidad erzählen. Ich greife dabei auf Zeitzeug*innenaussagen aus autobiografischen Quellen und Interviews als Grundlage zurück. Die Graphic Novel beruht also auf Erinnerungen und ist nicht frei erfunden. Dennoch werden fiktive Protagonist*innen erzählen und die Erinnerungen von verschiedenen Zeitzeug*innen werden zu neuen Geschichten verschmolzen. Es ist mir dabei wichtig, dass es in der Graphic Novel eine gewisse Mehrstimmigkeit und Multiperspektivität gibt. Ich maße mir nicht, an DIE Geschichte der Colonia Dignidad zu erzählen. Ich möchte sichtbar machen, dass es immer sehr unterschiedliche Motive, Perspektiven, Einschätzungen und Erinnerungen gibt und dass sich die „Wahrheit“ irgendwo dazwischen findet.

Die freie Form der Zeichnung ermöglicht eine Auseinandersetzung mit den grundlegenden Fragen dieser Geschichte ohne Beschönigung und ohne Überwältigung.

MD: Warum eignet sich das Thema Colonia Dignidad deiner Meinung nach für eine Graphic Novel?

SH: Zwei verschiedene Gründe waren ausschlaggebend für die Entscheidung eine Graphic Novel über die Colonia Dignidad zu machen: Zum einen bietet das Thema Raum zur Auseinandersetzung mit grundlegenden, über den Fall Colonia Dignidad hinausgehenden Fragen. Ich komme aus der historisch-politischen Bildungsarbeit, mich interessiert, wie man politische Ereignisse und Geschichte im Allgemeinen begreif- und vermittelbar machen kann. Die Colonia Dignidad hat funktioniert wie eine totalitäre Diktatur. Man kann durch die Betrachtung dieser Geschichte „im Kleinen“ sichtbar machen, welche Mechanismen und Strukturen den Aufbau und Erhalt eines solchen Systems ermöglichen.

Der andere Grund ist, dass die Geschichte der Colonia Dignidad aufgearbeitet und erzählt werden muss. Aber wie redet man über Dinge die so grausam und brutal sind wie die Ereignisse, die sich in dieser Gemeinschaft abgespielt haben? Man kann darüber schreiben oder einen Film drehen. Bei diesen Formaten ist die Gefahr allerdings groß, dass die Rezipient*innen durch das explizite Darstellen von Gewalt überwältigt werden oder dass Dinge weggelassen und beschönigt werden, um den Schockeffekt zu umgehen. Da die Graphic Novel nicht an realistische Darstellungsformen gebunden ist, können Dinge hier auf einer abstrakten Ebene thematisiert werden. Die freie Form der Zeichnung ermöglicht eine Auseinandersetzung mit den grundlegenden Fragen dieser Geschichte ohne Beschönigung und ohne Überwältigung. Für ehemalige Mitglieder der Colonia Dignidad könnte die Graphic Novel eine Hilfe sein, ihren Kindern zu erklären, was mit ihnen geschehen ist.

MD: Kannst du unseren Leser*innen beschreiben, wie du das machst? Also, wie müssen wir uns den künstlerischen Entstehungsprozess vorstellen? Zeichnest du zum Beispiel am Computer oder mit der Hand?

SH: Ich skizziere zuerst mit Bleistift, zeichne dann mit Tusche und bearbeite das Ganze hinterher am PC. Der Prozess ist natürlich ziemlich aufwändig aber ich war immer schon eine eher analoge Person. Ich mag den Geruch von Chinatusche beim Zeichnen und das Gefühl der Feder auf dem Papier. Außerdem wird da manchmal gekleckst und geschmiert und diese Zufälle ergeben neue Bilder. Wenn man direkt am Computer zeichnet, kann man jederzeit einen Schritt zurückgehen. Das ist zwar praktisch aber manchmal geht so auch etwas verloren.

MD: Was sind deine größten Herausforderungen in diesem Projekt?

SH: Die allergrößte Herausforderung ist die Finanzierung. Ich habe einige Förderanträge gestellt, von denen ist bisher einer über eine kleine Summe bewilligt worden. Das Problem ist, dass das Projekt nicht in die klassischen Förderkategorien passt. Da es sich irgendwo zwischen Kunst und Wissenschaft befindet, lässt es sich schwer einordnen. Außerdem ist es meine erste Graphic Novel und viele Stiftungen fördern nur Projekte von Autoren, die bereits veröffentlicht sind. So geht es eben im Moment recht langsam voran, da ich nebenher arbeite.

Einer gewissen Skepsis begegne ich aber schon ab und zu wenn ich von dem Projekt erzähle.

MD: Sonja, wir kennen uns ja aus dem Master-Studium Public History an der FU Berlin. Inwiefern hat denn deine Graphic Novel zum Thema Colonia Dignidad auch etwas mit der Arbeits- und Forschungsdisziplin Public History zu tun?

SH: Also ich würde mal behaupten, dass ich exakt das mache, worum es in unserem Studium ging: Geschichtsvermittlung. Neben Museen, Gedenkstätten und Film ist die Graphic Novel meiner Ansicht nach das wichtigste Medium zur außerschulischen Vermittlung von Geschichte. Ich komme aus der Schweiz, da ist die Graphic Novel schon lange etabliert. Ich habe mich etwa als Teenager durch die Lektüre von Art Spiegelmanns „Maus“ intensiv mit der Geschichte des Holocaust befasst. Auch mit dem Thema HIV bin ich durch eine Graphic Novel erstmals in Berührung gekommen. In Ländern wie Belgien, Frankreich und USA hat das Format ebenfalls einen ganz anderen Status. Ich habe aber den Eindruck, dass man sich in Deutschland langsam öffnet. Ein sehr positives Zeichen war für mich meine Assoziierung mit dem Projekt am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam (ZZF). Einer gewissen Skepsis begegne ich aber schon ab und zu wenn ich von dem Projekt erzähle. Manche Leute verbinden gezeichnete Bücher einfach mit Superman, Kindheit, Humor. Und dann denken sie natürlich, dass das keine angemessene Art ist, sich mit Geschichten wie der der Colonia Dignidad zu befassen. Ich habe aber vor, meinen Teil dazu beizutragen, diese Menschen von den Möglichkeiten gezeichneter Romane zu überzeugen.

MD: Und zuletzt; dürften interessierte Leser*innen dich kontaktieren? Wenn ja, wie oder wo?

SH: Auf meiner Webseite können sich Interessierte meine Arbeiten anschauen. Dort ist auch eine kleine Vorschau der Graphic Novel zu sehen und meine E-Mail-Adresse, über die ich erreichbar bin.

Sonja Hugi beantwortete mir die Fragen schriftlich via Email.

den Blog

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Der Colonia Dignidad Public History Blog (CDPHB) versteht sich als Plattform für Information, Netzwerk und Diskussion. Der Blog zur Geschichte der Colonia Dignidad möchte Forschung und die interessierte Öffentlichkeit näher zusammenbringen. Er entsteht begleitend zu der Dissertation von Meike Dreckmann-Nielen, im Rahmen derer sie die Erinnerungskultur/Geschichtskultur an die Colonia Dignidad untersucht. 

Mit dem Blog möchte Meike Dreckmann-Nielen einen Beitrag zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Geschichte der Colonia Dignidad leisten und Unterschiedliche Themenkomplexe werden im Rahmen von Interviews, Forschungseinblicken, aber auch im Rahmen von interdisziplinären Gastbeiträgen anderer Akteur*innen lesbar und auch diskutierbar. 

Gleichermaßen ist es ihr ein Anliegen, zur besseren Vernetzung der bereits zahlreichen aktiven Akteur*innen in der geschichtskulturellen Auseinandersetzung und denjenigen, die es noch werden möchten, beizutragen.

Deshalb werden hier aktive, erst beginnende und auch abgeschlossene Projekte und ihre Initiator*innen und Mitarbeiter*innen vorgestellt und wenn dies gewünscht ist, auch Kontaktmöglichkeiten zur Vernetzung angeboten. 

 

 

 

die Autorin

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Meike Dreckmann-Nielen hat am Arbeitsbereich Geschichtsdidaktik der Freien Universität Berlin zum Thema Colonia Dignidad promoviert. Ihre Doktorarbeit wurde im Frühjahr 2022 unter dem Titel „Die Colonia Dignidad zwischen Erinnern und Vergessen. Zur Erinnerungskultur in der ehemaligen Siedlungsgemeinschaft“ im Transcript-Verlag veröffentlicht. Darin untersucht die Wissenschaftlerin, wie sich einstige Mitglieder der Gruppe heute an ihre eigene Vergangenheit erinnern. In ihrer Studie ermöglicht Meike Dreckmann-Nielen einen intimen Einblick in komplexe erinnerungskulturelle Dynamiken im Mikrokosmos der ehemaligen Siedlungsgemeinschaft.

Neben ihrem Forschungsschwerpunkt der Erinnerungskultur/Geschichtskultur interessiert sie sich außerdem auch besonders für die Frauen- und Geschlechtergeschichte der Colonia Dignidad. Gefördert wurde ihr Dissertationsprojekt von der Heinrich Böll Stiftung.

Buchcover Meike Dreckmann-Nielen

Das Buch kann als OpenAccess-Publikation kostenlos digital abgerufen werden oder für 29€ als Print-Version u.a. direkt beim Verlag bestellt werden. 

 

Erstmals reiste Meike Dreckmann-Nielen im Frühjahr 2016 in die ehemalige Colonia Dignidad, als sie von ihren damaligen Kolleginnen im Museo de la Memoria y los Derechos Humanos in Santiago de Chile auf die deutsch-chilenische Geschichte der Colonia Dignidad aufmerksam gemacht wurde.

Im Mai 2019 kehrte sie von einem längeren Forschungsaufenthalt in diversen chilenischen Archiven und der heutigen Villa Baviera zurück. In Chile führte sie unter anderem Interviews mit Bewohner*innen und Ex-Bewohner*innen der ehemaligen Colonia Dignidad, Aktivist*innen, Politiker*innen, chilenischen Opfern und dem gegenwärtig noch aktiven Psychotherapeuten-Team.

In Lüneburg, Barcelona und Berlin studierte sie Angewandte Kulturwissenschaften, Wirtschaftspsychologie und Public History. Beruflich warMeike Dreckmann-Nielen unter anderem in einer Berliner Gedenkstätte und einer politischen Stiftung, den Goethe-Instituten Korea und Thailand, dem deutschen Generalkonsulat in New York, sowie in einem Berliner Start-Up tätig. Zuletzt war sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Didaktik der Geschichte an der Freien Universität im Forschungsprojekt „Zug in die Freiheit„. Derzeit befindet sie sich in Elternzeit.