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Die Broschüre von Amnesty International über die Colonia Dignidad von 1977

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Die Broschüre von Amnesty International über die Colonia Dignidad von 1977

Zur Broschüre “Colonia Dignidad – deutsches Mustergut in Chile – ein Folterlager der DINA”

Im März 1977 publizierte die bundesdeutsche Sektion von Amnesty International (ai) eine Broschüre mit dem Titel “Colonia Dignidad – deutsches Mustergut in Chile – ein Folterlager der DINA*”. Zeitgleich veröffentlichte die Zeitschrift der STERN einen Artikel über die Colonia Dignidad. Die Autoren der Amnesty-Broschüre waren Jürgen Karwelat und die Chile-Koordinationsgruppe von Amnesty International (deutsche Sektion), darunter Dieter Maier. In dieser Schrift wurden zum ersten Mal die Folterberichte der chilenischen politischen Gefangenen Erick Zott, Luis Peebles und Adriana Bórquez wiedergegeben. Die Publikation schlug entsprechend große Wellen und ist für die Geschichte der Colonia Dignidad von großer Bedeutung. Im folgenden Interview berichtet Dieter Maier von den Umständen dieser Veröffentlichung und gibt einen Einblick in seine persönlichen Erfahrungen zu der Zeit. Weil die Broschüre heute nicht mehr zu erwerben ist, hat Dieter Maier außerdem eine Kopie zum Download bereitgestellt.

Meike Dreckmann-Nielen: Wie kam es zu der Publikation der berühmten Amnesty-Broschüre?

Dieter Maier: Amnesty International hatte über einen Exilchilenen von der Foltersiedlung erfahren, die der Organisation bis dahin unbekannt war. Die ai-Gruppe lud Zott und Peebles getrennt ein, nahm ihre Aussagen auf, und lud sie dann gemeinsam ein. Parallel recherchierte Jürgen Karwelat zur Entstehung der Sekte in Chile.

MDN: Was geschah dann?

DM: Das Presseecho auf die ai-Publikation war unerwartet groß. Die Sekte brauchte sechs Wochen, ehe sie darauf reagierte. Offenbar gingen Colonia Dignidad und Diktatur davon aus, dass ai noch mehr wusste, und sondierten erst einmal die Lage. Die Pinochet-Diktatur nahm ai als Teil einer Chile-Solidaritätsbewegung wahr, die damals in vielen Ländern Einfluss auf die staatliche Politik hatte. Die von einem Geheimdienstler Jahrzehnte später in einem Gespräch mit Carlos Liberona kolportierte Version, ai sei eine Art Regierung gewesen, war aber schon damals, als ai auf dem Höhepunkt seines Ansehens stand, falsch. Die Menschenrechtsorganisation hatte ihre spezifischen Schwachpunkte. Ihr internationales Sekretariat in London, das aus Unachtsamkeit den Entwurf der Broschüre nicht gelesen hatte, war von Anfang an strikt gegen die Initiative der deutschen Sektion, von der sie aus der Presse erfuhr.

MDN: Was bedeutete das dann?

DM: DINA-Chef Manuel Contreras, der überall seine Spitzel hatte, wusste das. Er kannte auch bald die tatsächlichen Kräfteverhältnisse: “Mitarbeiter der Regierung Pinochets in Frankfurt informierten uns, dass es eine Gruppe von nicht mehr als drei Personen ist, die die Kampagne begann, und dass sie mit einer wenig bedeutsamen Unterstützung der SPD rechnen” (Heller 1993 S. 156). Zwar ist die Angabe von drei Personen untertrieben, aber die Wirkung der Broschüre lag nicht in ihrer politischen Rückendeckung, sondern darin, dass sie unbeabsichtigt das geheimste aller geheimen Folterlager der DINA aufgedeckt und eine Verbindung zwischen der Pinochet-Diktatur und Deutschland nachgewiesen hatte.

Zum Download der Broschüre als PDF hier entlang:

Broschüre Colonia Dignidad – ein Folterlager der DINA 19 77

MDN: Und was unternahm die Colonia Dignidad?

DM: Nach hektischen Sondierungen in Santiago ging die Colonia Dignidad presserechtlich gegen ai vor. Wegen der kurzen Verjährungsfristen des Presserechts drängte die Zeit. Der für Staatsschutz zuständige Frankfurter Staatsanwalt Klein konstruierte eine Unterbrechungshandlung. Er wollte dazu das Frankfurter ai-Büro durchsuchen lassen, das aber zu diesem Zeitpunkt nicht besetzt war. Er vernahm mich und begründete in dieser Vernehmung seine Zuständigkeit damit, die ai-Broschüre habe die BRD angegriffen. Es ging dabei um einen knappen Satz zum Deutschlandbezug der Colonia Dignidad. Die „Private Sociale Mission“ erkundigte sich zu ai über den Waffenhändler Gerhard Mertins und den Frankfurter Rechtsanwalt und unentwegten Nazi-Verteidiger Dr. Steinacker zu Klein.

MDN: Wie ging es dann weiter?

DM: Die deutsche Colonia-Niederlassung „Private Sociale Mission“ erwirkte schließlich eine einstweilige Verfügung gegen ai und klagte im Hauptsacheverfahren vor dem Landgericht Bonn stellvertretend für die Colonia Dignidad gegen ai wegen Verleumdung. Hans Jürgen Blanck, studierter Jurist und Colonia Dignidad-Mitglied, übernahm die Prozessführung. Obwohl Steinacker auf ihn einen “korrekten, rechtsdenkenden Eindruck” machte, überließ er dem unverdächtigen CDU-Rechtsanwalt Felix Busse die Rechtsvertretung. Dem waren die Barzahlungen aus dem Aktenkoffer und die Ausflüchte der Colonia-Leute nicht geheuer und er legte sein Mandat nieder. Die Colonia sagte über ihn, ihm habe „Flexibilität gefehlt“; er war also nicht bereit, die Lügen des Folterlagers mitzutragen.

MDN: Und wer hat den Prozess schließlich gewonnen?

DM: Amnesty International gewann den Bonner Prozess nach 20 Jahren, blieb aber auf den Kosten sitzen, denn die Klägerin Private Sociale Mission gab es zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Da die Klägerin weggefallen war, konnten die Bonner Richter den Prozess ohne inhaltliche Bewertung der Zeugenvernehmungen und Protokolle von Ortsterminen beenden. Ein inhaltlich begründetes Urteil zu einem früheren Zeitpunkt hätte Rückwirkungen auf die Verfahren in Chile gehabt und womöglich Schäfers Herrschaft verkürzt. Die lange Prozessdauer wurde mehrfach von deutschen Behörden und Politikern als willkommenes Argument benutzt, sich nicht in ein “schwebendes Verfahren” einmischen zu können. In einer Akte des Auswärtigen Amtes (AA) heißt es, das AA solle „weiterhin Zurückhaltung üben“ und sich „jedweder Stellungnahme zu den Vorwürfen strikt enthalten“. Eine handschriftliche Notiz am Schluss dieses Textes lautet: „Wir haben ein objektives Interesse an der Aufklärung der Vorwürfe, können diese Aufklärung aber keinesfalls selbst vornehmen. Wir sollten uns auch nicht in die Auseinandersetzung zwischen der Colonia Dignidad einerseits und Amnesty International andererseits hineinziehen lassen.“ Die Unterschrift „Ge“ stammt offenbar vom damaligen Staatssekretär Dr. Gehloff. Die Lesart von der gebotenen Zurückhaltung bestand für viele Jahre fort.

Zum Download der Broschüre als PDF hier entlang:

Broschüre Colonia Dignidad – ein Folterlager der DINA 19 77

MDN: Wie würdest du die Bedeutung der Broschüre resümieren?

DM: Die Broschüre “Colonia Dignidad – deutsches Mustergut in Chile – ein Folterlager der DINA” enthält nur einen Bruchteil dessen, was heute über die Siedlung bekannt ist. Immerhin dokumentiert sie fehlerlos zwei zentrale Punkte: Die Misshandlungen an Chilen*innen und Deutschen. Mit ihr begann die Auseinandersetzung mit diesem Thema, die bis heute nicht abgeschlossen ist. Die Broschüre beweist, dass gut recherchierte Dokumentionen die Sache der Menschenrechte nutzen können. Das Leiden vieler deutscher Sektenmitglieder und der (zwangs)adoptierten und sexuell missbrauchten Chilenen konnte ai nicht lindern. Spätestens aber seit 1977 konnte niemand mehr sagen, sie oder er habe von nichts gewusst.

*Die DINA war Pinochets 1974 gegründeter Geheimdienst

 

Literatur:

  • Friedrich Paul Heller(=Dieter Maier), Colonia Dignidad. Von der Psychosekte zum Folterlager, Schmetterlingverlag, Stuttgart, 1993, (2. Auflage) 2016.
  • Dieter Maier, Colonia Dignidad. Auf den Spuren eines deutschen Verbrechens in Chile, Stuttgart, Schmetterlingverlag (2. aktualisierte Aufl.) 2017.

 

Veranstaltungen

Online Veranstaltungsreihe zur Colonia Dignidad im November 2020

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Online Veranstaltungsreihe zur Colonia Dignidad im November 2020

Veranstaltungsreihe des AStA Hannover: “Colonia Dignidad – Aufarbeitung eines deutschen Verbrechens in Chile”

Die Arbeitsgruppe Kritische Bildung des AStA der Universität Hannover beschäftigt sich Ende November 2020 erneut mit dem Thema Colonia Dignidad. Dieses Mal steht das Thema Aufarbeitung im Fokus der Veranstaltungsreihe. Aufgrund der COVID19-Pandemie wurde das Veranstaltungsformat dahingehend angepasst, dass alle Veranstaltungen Online stattfinden können. Interessierte finden die Veranstaltungsreihe zur Aufarbeitung der Colonia Dignidad  auf der Facebook-Seite des AStA Hannover unter diesem Link.


DIENSTAG, 24. NOVEMBER 2020 UM 19:00 UTC+01

Colonia Dignidad – zum strukturellen Versagen politischer und juristischer Aufarbeitung

Die Geschichte der Colonia Dignidad von ihren Vorläufern in den 1950er Jahren bis heute ist auch eine Geschichte von unterlassenen staatlichen Verpflichtungen, die dort begangenen Verbrechen zu verhindern und aufzuarbeiten: auf juristischer und politischer Ebene, in Deutschland und in Chile.
Manche Akteur*innen unterstützten die Colonia Dignidad willentlich. Andere ließen sich von ihrer unermüdlichen Lobbyarbeit beeindrucken und schenkten Opferschilderungen keinen Glauben. Oft schoben Behörden die Verantwortung jeweils anderen zu, so dass sich in Chile der Spruch durchsetzte „La Colonia siempre gana“, auf deutsch: „Die Kolonie gewinnt immer“. Nur in wenigen historischen Phasen gelang es ein Stück weit, gegen die Sekte vorzugehen. Bis zur Festnahme von Paul Schäfer 2005 wurden jedoch weiter Verbrechen begangen.
Die Aufklärung und Aufarbeitung verlaufen seitdem prekär: Täter*innen der Colonia Dignidad wurden kaum bestraft. Deutschland ist zum „sicheren Hafen“ für ehemalige Mitglieder der Führungsriege geworden, die von der chilenischen Justiz gesucht oder wie im Fall des leitenden Sektenarztes Hartmut Hopp bereits verurteilt wurden. Hierzulande fehlt gegen sie, laut NRW-Justiz, ein „hinreichender Tatverdacht“.
Viele Taten, wie das „Verschwindenlassen“ von dutzenden politischen Aktivist*innen während der Pinochet-Diktatur sind weiterhin unaufgeklärt. Das von der Führung der Colonia Dignidad Ende der 1980er Jahre entworfene Firmengeflecht besteht noch immer und das jahrzehntelang durch Verbrechen angehäufte Vermögen ist nicht aufgeklärt. Auf dem Gelände der ehemaligen Colonia Dignidad wird die Vergangenheit bislang kaum thematisiert. Bemühungen um Errichtung einer von der deutschen und der chilenischen Regierung getragenen Gedenkstätte verlaufen seit Jahren zäh. Warum tragen beide Staaten so wenig zu einer umfassenden Aufarbeitung bei? Welches sind heute die entscheidenden Auseinandersetzungen? Wo gibt es Chancen auf Aufklärung?
Jan Stehle ist Mitarbeiter des Forschungs- und Dokumentationszentrums Chile-Lateinamerika in Berlin. Er hat an der FU Berlin zum Umgang bundesdeutscher Justiz und Außenpolitik mit dem Fall Colonia Dignidad promoviert und engagiert sich seit Jahren für die juristische und politische Aufarbeitung der CD-Verbrechen.
Ute Löhning ist Print- und Hörfunk-Journalistin und regelmäßig in Lateinamerika, vor allem in Chile unterwegs. Sie berichtet unter anderem zu sozialen Bewegungen, Erinnerungspolitik und Straflosigkeit.
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DONNERSTAG, 26. NOVEMBER 2020 UM 19:00 UTC+01

Colonia Dignidad – zur Errichtung einer Gedenkstätte in einem erinnerungskulturell umkämpften Feld

Vortrag und Diskussion mit Dr. Elke Gryglewski und Meike Dreckmann-Nielen
Die Geschichte der Colonia Dignidad gilt als erinnerungskulturell umkämpftes Feld, denn der einstige Ort zahlreicher Verbrechen wurde von seinen Bewohner*innen über die Jahre in ein touristisch gestaltetes Freizeitdorf mit Hotellerie und Gastronomie umgebaut. Während die einen dies als Neuerfindung an einem schrecklichen Ort erleben, kritisieren andere diese Nutzung als Opferverhöhnung. Dies ist nur eines von vielen konfliktbehafteten Themen in der Geschichte der Colonia Dignidad.
Meike Dreckmann-Nielen wird in ihrem Vortrag einen Einblick in diesen Konflikt um Deutungshoheit und damit in ihr laufendes Forschungsprojekt geben. Sie promoviert am Arbeitsbereich Public History der Freien Universität Berlin zu erinnerungskulturellen Dynamiken in der ehemaligen Colonia Dignidad.
Mit den praktischen Planungen rund um den Prozess der Errichtung des Dokumentationszentrums und einer Gedenkstätte befasst sich Dr. Elke Gryglewski als Mitglied einer bilateralen Expertenkommission, die von den Regierungen Chiles und Deutschland eingesetzt wurde.
Dr. Elke Gryglewski ist kommissarische Direktorin der Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz in Berlin und seit 2014 mit dem Prozess der Planung von Dokumentationszentrum und Gedenkstätte auf dem Gelände der ehemaligen Colonia Dignidad betraut. In ihrem Vortrag wird sie aus ihrer konkreten Arbeit in diesem Planungsprozess berichten und damit ganz praktisch Einblick in einen in hohem Maße komplexen Prozess geben.
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MONTAG, 30. NOVEMBER 2020 UM 19:00 UTC+01

Colonia Dignidad und die Pinochet-Diktatur: eine Repressionsallianz offenbart ihr Innenleben

Der harte Kern einer Diktatur kann noch lange nachwirken, wenn diese selbst formal abgetreten ist. In Chile wirken sich die Machtkonstellationen, die Wirtschaftsstrukturen und Denkweisen der 1990 abgetretenen Pinochetdiktatur bis heute aus. Auch die repressiven Methoden erstarken wieder, wenn die Bevölkerung mit der alten, von der Diktatur übernommenen Politik bricht. Die von der Pandemie unterbrochenen emanzipatorischen Kämpfe im heutigen Chile haben eine autoritäre Reaktion des Staates hervorgerufen.
2005 fand die Polizei auf dem Gelände der deutschen Siedlung Colonia Dignidad ein Archiv, das die Methoden und Denkweisen der Geheimdienste und ihrer zivilgesellschaftlichen HelferInnen dokumentiert. Unsere Referenten Luis Narváez und Dieter Maier haben einen großen Teil davon in einer zweisprachigen Datenbank erschlossen (www.fichas-chile.com, User: visita. Password/codigo: fulano) und ein noch unveröffentlichtes Buch darüber geschrieben. Im Rahmen dieses Vortrags werden sie die wichtigsten Ergebnisse vorstellen. Der Chilene Erick Zott, ein ehemaliger politischer Gefangener in der Colonia Dignidad, wird von seinen Erfahrungen mit dem Repressionsapparat berichten.
Dr. Dieter Maier (Frankfurt am Main) ist Autor mehrerer Bücher über die Colonia Dignidad.
Luis Narváez (Buenos Aires) ist chilenischer Journalist.
Erick Zott (Wien) war politischer Gefangener in Chile.

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Gastbeiträge

Politische Häftlinge in der Colonia Dignidad – der Fall Mile Mavroski

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Politische Häftlinge in der Colonia Dignidad – der Fall Mile Mavroski

Mile Mavroski als Gefangener in der Colonia Dignidad – die Konstruktion eines Feindbildes

– ein Gastbeitrag von Dieter Maier anlässlich des Todes von Mile Mavroski am 10.6.2020

Der Fall des in der Colonia Dignidad gefangenen Chilenen Mile Mavroski ist einzigartig. Mavroski war elf Monate in der deutschen Siedlung „verschwunden“, also seit seiner Verhaftung ohne Lebenszeichen. Von keinem anderen chilenischen politischen Gefangenen ist ein derart langes Verschwundensein und Wiederauftauchen bekannt.

Mavroski wurde am 24.09.1933 in Mazedonien geboren. Er wuchs in einer Bauernfamilie auf, lebte in einfachen Verhältnissen und war Zeit seines Lebens Analphabet. 1955 kam er nach Chile und betrieb in San Carlos das Beerdigungsunternehmen Pompas Fúnebre. Für arme Hinterbliebene machte er die Beerdigungen umsonst. Die ganze Stadt kannte ihn. Er war mit einigen lokalen Polizisten, den Carabineros, befreundet.

Seine erste von 19 Karten in einem in der Siedlung gefundenen Karteikartenarchiv erwähnt vage politische Sympathien und eine russische Migrationsgeschichte.

Karteikarte aus dem in der Colonia Dignidad gefundenen Material

Er wurde am 17.01.1974 verhaftet, nach Chillán gebracht und dort schwer gefoltert. Offenbar hielt ihn der zuständige Militärstaatsanwalt Mario Romero für ein besonders gut getarntes führendes Mitglied der Widerstandsgruppe MIR (Movimiento de Izquierda Revolucionaria) und verurteilte ihn zu einer Haftstrafe von 541 Tagen (Urteil des Kriegsgerichts San Carlos 3-1974. Der Oberste Gerichtshof Chiles hob dieses Urteil am 04.09.2019 auf). Romero ließ ihn in die Colonia Dignidad bringen. Während dieser Haft entstanden die meisten seiner 19 Karteikarten. Auf über 100 weiteren kommt sein Name vor. Auf diesen Karten wird er zum „wichtigen MIR-Mitglied“,- und gleichzeitig „sehr verbunden mit der KP (Kommunistische Partei)“, was sich in der Praxis wegen der Rivalitäten zwischen der MIR und der KP faktisch ausschloss.

Ein führendes regionales Mitglied des MIR, Ricardo Catalán, war am 30.03.1974 in Santiago von der DINA verhaftet und am 17.12.1974 nach Chillán gebracht worden, um am folgenden Tag Mavroski, der zur Vernehmung vorgeladen war, gegenüber gestellt zu werden. Romero notiert: “Wir haben Catalán in Haft, er wurde uns ausgeliehen, denn er ist in Santiago in Haft, aber sie haben ihn uns zum Verhör ausgeliehen“. Catalán stammte aus der Region der Colonia Dignidad, und das Verhör während der „Ausleihe“ drehte sich um mögliche Waffenverstecke dort und den MIR. Catalán sagte wenig Konkretes gegen Mavroski aus; er erwähnt gelegentliche Treffen und Hilfsleistungen und ein Gespräch über die Herstellung von Maschinenpistolen im zweiten Weltkrieg. Der MIR hätte, so die Karte, gerne Maschinenpistolen gehabt, aber Mavroski verstand nichts davon.

Mavroskis Karteikarten zeichnen das Bild einer Verschwörung, die bis zu den Spitzen der UP-Regierung (Unidad Popular) reicht: Ein Hubschrauber, in dem sich José Tohá, der Innenminister Allendes, befand, soll beim Rückflug von San Carlos nach Santiago auf dem Friedhof von San Carlos gelandet sein, um Waffen aus ausgegrabenen Särgen einzuladen.

Das klingt nach Legendenbildung. Särge und Urnen, in denen Waffen versteckt gewesen sein sollen, sind das Ergebnis eines Gerüchts, das zum Konstruktionselement des „bösen Russen“ wurde. „Romero hatte irgendetwas gehört, wollte mehr wissen und schnüffelte den Friedhof aus. Er fand heraus, dass Mavroski manchmal mit nur wenigen Familienangehörigen zu Beisetzungen ging. Der Militärgeistliche „glaubte“ deshalb, in den Urnen seien Waffen. Die Eintragung stammt aus der Zeit, als Mavroski in der Colonia Dignidad in Haft war. Navarrete war ein fortschrittlicher Priester und Freund Mavroskis. Das Agentennetzwerk bespitzelte ihn und hatte offenbar irgendetwas aufgeschnappt. Die Vermutung von den Waffen auf dem Friedhof verfestigt sich durch entsprechende Formulierungen auf späteren Karten zur Tatsache.

Und so geht es weiter. Mavroski wollte angeblich ein Haus neben einem Hotel kaufen. Auf dem Dach des Hotels könnte man einen Heckenschützen postieren, meint der Spitzel „Bü“. „Bü“ bekam eine Bemerkung Mavroskis mit: Wenn die Frau des Hotelbesitzers stürbe, würde er alle Kosten übernehmen. Weiter: In der Bäckerei eines sozialistischen „Marxisten und Freimaurers“ soll Mavroski einem „Dickerchen“ eine Maschinepistole gegeben haben. Einige Karten notieren Mavroskis Mitgliedschaft bei den Freimaurern. Freimaurerei und Marxismus verwandeln sich in den Köpfen des Agentennetzwerks zu einer giftigen Mischung.

Oder: “Ich bin informiert”, sagt eine DINA-Quelle aus San Carlos, dass Mavroski bei einem Sprengstoffanschlag auf den Sendemast der Firma ENTEL in San Carlos mitgewirkt habe.

Der Verhaftete Victor Faúndes sagte mit Datum vom 24.01.1974 unter der Folter aus, dass ein anderer Gefangener früher Militärs und die Familie Romero (fast sicher die Familie Mario Romeros) von San Carlos fotografiert habe. Das passt ins Schema von “Plan Z”, laut dem die Linke alle Rechten und Militärs ermorden wollten, und bedient die Paranoia der Diktatur.

All das verdichtet sich zu einem „Plan Mabrovski“. Mavroski, so die Karteikarten-Version, wollte persönlich die Waffen verteilen und dann zuerst die Extremisten führen, um das Kommissariat der Carabineros in San Carlos anzugreifen, ihnen die Waffen wegnehmen, dann dasselbe mit der Kriminalpolizei (Servicio de Investigaciones) machen und dann das öffentliche Gefängnis von San Carlos stürmen, wo er die politischen Gefangenen befreien und ihnen Waffen geben wollte. Nachdem das erledigt worden wäre, wollte er das Stadtzentrum angreifen und „die wichtigsten Familien und alle diejenigen, die Widerstand leisteten, töten. Das ganze soll als Aktion „schwarze Weihnachten“ (auch „Plan Mabrovski“) geplant worden sein. In Särgen vergrabene Waffen (fünf Kisten mit ja 25 Maschinenpistolen) sollten an Guerilleros ausgehändigt werden. Diese Aktion soll für 1974 geplant gewesen sein, dann wird sie auf 1975 umdatiert, und sie wird von einer lokalen Aktion in San Carlos zu einem landesweiten Putschversuch. Der Plan sei wegen Verhaftungen aufgeschoben worden und taucht dann als „schwarzer September“ für den zweiten Jahrestag des Putsches auf. Die Vorstellung einer „schwarzen Weihnacht“ oder eines “schwarzen Septembers“ hat sich offenbar in den Köpfen des Agentennetzwerks festgesetzt. Es gibt weitere Karteikarten, die auf ihn Bezug nehmen. Dokumente des Staatssicherheitsdientes der DDR greifen das Stichwort auf. Dort heißt es, die Erfindung eines Planes „schwarzer September“ im September 1975 in Santiago sei dazu bestimmt gewesen, das Verbot der Einreise einer UNO-Kommission zu rechtfertigen. (BStU MfS HA II 14032 Bl. 13) Mavroski leugnete beim Verhör diesen Plan.

Die Karteikarten enthalten eine Aussage Mavroskis vom 15.01.1974, also zwei Tage vor seiner Verhaftung (möglicherweise ist dies eine Aussage vor der Kriminalpolizei in San Carlos.) und ein weitere am 22.6.1974. Sie bestätigt nichts von dem, was ihm vorgehalten wird. „Ich hatte noch nicht einmal eine Wasserpistole“, sagte er vor der Kriminalpolizei in San Carlos.

In diesem anfangs rätselhaften Fall war es uns möglich, den Wahrheitsgehalt vor Ort zu überprüfen. Luis Narváez besuchte Mavroski 2015 für ein Interview. Mavroski berichtete von seinen Folterungen. Narváez’ zweiter Besuch schlug fehl, da Mavroski ihn bat, nach dem Essen wiederzukommen, dann aber bereits im Krankenhaus lag, da er zusammengebrochen war. Im Dezember 2017 besuchten ihn Luis Narváez, Jan Stehle und Dieter Maier. Er war nun 84 Jahre alt und saß, wie jeden Tag, auf einen Stock gelehnt, mit Anzug und Krawatte vor Pompas Fúnebre, wo er zugleich wohnte, und schwatzte mit seinen Freunden. Er bat uns in seine Wohnung. Dieser Besuch, schon für sich ein Erlebnis, zeigt, wie sehr die Konstruktion eines Feindbildes und die Wirklichkeit sich unterschieden. Wir gehen an einem Leichenwagen vorbei in sein Wohnzimmer. An der Wand hängen ein Bild des jugoslawischen Partisanen-Marschalls Tito in ordensgeschmückter Uniform, Fotos von Mavroskis Brüdern (einer ebenfalls in Uniform), ein Ölgemälde seines russischen Großvaters, ein Bajonett aus dem ersten Weltkrieg und Diplome seiner Mitgliedschaft bei den Freimaurern, Großloge 123 „David Benavente“.

Mavroski gibt uns eine unfreiwillige Lektion über die Schwierigkeiten des Erinnerns. Sein Gedächtnis ist schwach, aber er erzählt flüssig aus seinem Leben. Er sagt, er sei mit 14 Jahren zu Titos Partisanenarmee gestoßen, habe dort aber nur Kartoffeln für die Kämpfer geschält. Es geht um „Kriege nach dem zweiten Weltkrieg“. Was damit gemeint ist, bleibt unklar, vielleicht Kämpfe in Titos Jugoslawien; zu Kriegsende war Mavroski jedenfalls erst 13 Jahre alt. Er habe Tito in seinem Haus besucht. Vom Bosporus aus sei er per Zug nach Moskau gereist und 1948 in Berlin gewesen. Zwei Jahre sei er in Italien gewesen, bis ihm „der Papst“ die Ausreise nach Chile ermöglicht habe. Er lebte sechs Jahre in Concepción, wo er im Krankenhaus Allende kennenlernte, und dann in San Carlos.

Seine Haft in der Colonia Dignidad schildert er zunächst als harmlos. Während der elf Monate in einem Keller sei er nicht misshandelt worden, die Augen waren nicht verbunden. Es gab keine Mitgefangenen. Schäfer verhörte ihn zwei Mal. Er wurde auch auf Russisch verhört, sagte er (er sprach kein Russisch, verstand es aber). Obwohl alle Beteiligten Spanisch sprachen, nahmen die Deutschen einen Dolmetscher für Russisch. Offenbar dachten die Verhörer, dass die KP-Leute sich heimlich auf Russisch unterhielten. In Aussagen früherer Colonia-Mitglieder werden Verhöre auf Russisch mehrfach erwähnt. Colonia-Mitglied Heinrich Neufeld, der Russisch konnte, musste als „Gefangener“ im Kartoffelkeller der Siedlung, der als Folter- und Haftort diente, Bürsten binden und „im Käfig wie (ein) Hühnerkäfig bleiben, um Gespräche mitzuhören.“ Dann sagte Mavroski leise zu uns: „Ich will mich nicht mehr an das erinnern, was gewesen ist.“ Und: “Ich glaube nicht an die Justiz.“ Langsam rückt er damit heraus, dass er mit Eintauchen bis kurz vor dem Ersticken (U-Boot-Folter) und Elektroschocks gefoltert wurde („Ja, das kann sein“). Ob er die Augen verbunden hatte? „Seguro“ (deutsch: sicher). Dass er in der Colonia Dignidad war, weiß er, weil er in der Vergangenheit zwei Tote aus dem Krankenhaus übernommen hatte, und Schäfer kannte er von Fotos.

Über die Gründe seiner Freilassung nach elf Monaten kann man nur spekulieren. Hatte er lediglich seine Haftstrafe in der Colonia Dignidad verbüßt? Hatte er Stillschweigen versprochen? Der geistliche Jorge Elias Navarette hatte Unterschriften für seine Freilassung gesammelt. Mavroskis Carabinero-Freunde mochten sich für ihn eingesetzt haben. Laut den Karten hatte sích auch eine Gruppe von Freunden für seine Freilassung eingesetzt. Diese Freunde könnten Freimaurer oder Rotarier gewesen sein, Mavroski gehörte auch zum Rotary-Club.

„Der politische Einfluss der DC, der Sozialisten und der Kommunisten beeinflussten Staatanwalt Romero, bis er ihn freiließ“, schreibt der unermüdliche Colonia-Spitzel „OMH“ (Oscar Muñoz Hildebrandt) auf Mavroskis letzter Karte. „Bü“ beschwerte sich am 22.03.1982: „Es war ein riesiger Fehler, dass Mavroski noch lebt.“. „OMH“ notiert noch 1982 die Autos, die benutzt wurden, als Mavroski eine Tote aus „dem Krankenhaus“ abholte, und er trägt 1985 noch einmal die Geschichte von den Urnen mit den versteckten Waffen vor.

Laut der Erklärung eines anderen früheren Colonia-Bewohners sagte Schäfer: „Er darf nicht lebend hier raus!“ (Erklärung von Willi Malessa im Fall Maino, 2005). Die Colonia Dignidad hatte aber kein Recht, Chilenen zu ermorden. Aber auch bei den Chilenen stand Mavroski auf der Todesliste. Der Heeresoffizier Torrealba wurde nach dem Putsch aus der Pension geholt und war für die Gefangenen in der Garnison Chillán zuständig. „Er geht sehr hart mit den Miristen (MIR-Mitgliedern, D.M.) um”, sagt „Bü“. Aus Mavroskis Aussage vom 20.01.1974 zitiert seine Karte: „Mit diesem Mann (Mavroski, DM.) kann man nichts anderes machen als ihn zu töten.“

Das Agentennetzwerk, das hier handelte, scheint Mavroski als eine Art persönliche Trophäe betrachtet zu haben. Dies würde erklären, warum es auf einer Karte heißt: „Sehr bedauerlicher Weise ist Hauptmann Rivero durch eine Indiskretion über den Ort informiert, an dem sich der Jugoslawe-Russe-Chilene Mile Mabrovski befindet“. Gemeint ist die Colonia Dignidad. Rivero, ein offenbar harter Offizier, sieht das Verhalten der Colonia Dignidad kritisch, er sagt, er hätte aus Mavroski alles innerhalb von fünf Tagen rausgeholt.

Luis Narváez traf 2018 Mavroskis Sohn Mile Mavroski Sepúlveda. Mavroski war gestürzt und bettlägerig. Er wurde rund um die Uhr gepflegt. Der Sohn wusste wenig über die Haft seines Vaters. Der Vater hatte ihm von der Haftzeit erzählt, aber ohne die Folterungen zu erwähnen.

„Don Mile“, so die zugleich liebevolle und respektvolle Anrede, starb am 10.06.2020.

Ein Jahr davor interviewte ihn ein Team des Oral-History-Projekts (CDOH) der Freien Universität Berlin. Zwei Tage nach seinem Tod stellte das Projekt den folgenden Nachruf auf seine Website:

“‘Don Mile Mavroski wurde im Jahr 1933 in Mazedonien geboren und kam 1955 nach Chile. In Concepción lernte er seine Ehefrau Carmen Sepúlveda kennen mit der er zwei Kinder hatte. Die Familie zog nach San Carlos, wo er ein Beerdigungsinstitut gründete. Wiederholt unterstützte er dabei solidarisch auch Familien, die sich eine würdige Beerdigung sonst nicht hätten leisten können. Nach dem Militärputsch wurde Mile Mavroski Mileva verhaftet und beschuldigt, dem MIR anzugehören, ein sowjetischer Spion zu sein und mit Waffen zu handeln. Im Januar 1974 brachten sie ihn aus dem Gefängnis in Chillán in die Colonia Dignidad. Don Mile war dort elf Monate lang gefangen. Damit war er der Gefangene, der die längste Zeit dort festgehalten, verhört und gefoltert wurde. Nach Chiles Rückkehr zur Demokratie sagt er vor der Comisión Nacional sobre Prisión Política y Tortura (Comisión Valech) aus und wurde in deren Aufstellung der politischen und gefolterten Gefangenen aufgenommen.

Die Interviewerin Evelyn Hevia erinnert sich: ‘Ich kam an diesem Morgen zum Interview in Begleitung von Edison und Manuel, den Kollegen des Medienteams und von Luis Narváez, einem Journalisten, der Don Mile seit Jahren kennt. Mit Luis und dem Rechtsanwalt Hernán Fernández hatten wir Don Mile bereits 2016 besucht, damals allerdings im Krankenhaus; inzwischen wohnte er in einer Seniorenresidenz und seine Tochter erzählte uns, dass ihm in der Woche nach unserem Interview die Ehrenbürgerschaft seines Wohnortes San Carlos verliehen werden würde. Denn Don Mile war eine bekannte Persönlichkeit in der Stadt, ein Mann der Solidarität, immer elegant, gut gekleidet und mit der Pfeife zwischen den Lippen oder in den Händen. Am Tag des Interviews wirkte er wie üblich mit einem strahlenden Lächeln, aber auch mit einem gewissen Widerstand dagegen, sich an die schwierigen Momente seines Lebens zu erinnern. Wir nahmen das Interview auf, in den Pausen aßen wir gemeinsam Kuchen und tranken Tee, er erzählte uns von seiner Kindheit in Mazedonien, wo er Schafe und Ziegen hütete, er erzählte uns vom Krieg und zeigte uns die Tätowierung auf seinem Arm, die dazu dienen sollte, im Falle seines Todes bei einem Bombenangriff erkannt zu werden.

Er erzählte uns auch, dass er dank der ‘schlechten Wörter’, die ihm von Freunden und Kollegen beigebracht wurden, die er bei seiner Ankunft im Land traf, gelernt habe, ‘chilenisch zu sprechen’. Als wir uns an diesem Nachmittag von Don Mile verabschiedeten, gingen wir mit dem Bewusstsein, dass wir eine großartige Lebensgeschichte aufgezeichnet haben, denn trotz der Kürze von Don Miles Bericht bleibt damit das Zeugnis vom Leben eines großen Mannes und eines Überlebenden von so vielen verschiedenen Schlachten erhalten.’

Es ist uns eine Ehre, durch dieses Projekt eine Aufzeichnung seiner Lebensgeschichte bewahren zu können.”

Das Interview soll 2021 im Oral History-Archiv der FU öffentlich zugänglich sein.

 

Quelle: Dieser Text besteht zum Teil aus Auszügen eines unveröffentlichten Manuskriptes: Dieter Maier; Luis Narvárez: Die Kartei des Terrors (unveröffentlichtes Manuskript).

Gastbeiträge

Kommentar von Dieter Maier zur Colonia Dignidad-Serie “Dignity”

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Kommentar von Dieter Maier zur Colonia Dignidad-Serie “Dignity”

Am Set von "Dignity", Quelle: SHP

Der Colonia Dignidad Public History Blog (CDPHB) versteht sich als interdisziplinärer Raum für Information und Diskussion. Der Sachbuchautor und Colonia Dignidad-Experte Dieter Maier hat einen Kommentar zu einem jüngst veröffentlichten Beitrag auf diesem Blog eingereicht mit der Bitte um Veröffentlichung.

 

Kommentar von Dieter Maier zum Blog-Artikel

“Zwischen Fiktion und Realität: ‘Dignity’ und Colonia Dignidad”

Dieses Interview wirft ein bedenkliches Licht auf den gegenwärtigen (2019) Stand der Aufarbeitung der Verbrechen der Colonia Dignidad.

Das sich „emotional Nähern“ dürfte bei einer nüchternen Betrachtung der Colonia Dignidad im Kontext der Pinochet-Diktatur nur in einem einfühlenden Verstehen der überlebenden Opfer bei genügend emotionaler Distanz bestehen. Der simple emotionale Zugang versperrt das Verständnis der größeren Zusammenhänge. Emotionale Beteiligung ist unvermeidlich, da die Colonia Dignidad ja immer noch von den meist deutschen Opfern und Tätern bewohnt ist. Wer den eingeübten Opferdiskurs der ehemaligen Siedler für bare Münze nimmt, versteht nicht, dass das System Schäfers und seiner Mithelfer eine unauflösliche Täter-Opfer-Symbiose hervorgebracht hat. Mitleid ohne Zorn ist ignorant.

Das Spiel mit Realität und Fiktion sollte man Schillers historischen Dramen überlassen. Es ist ein Geschäftsmodell, das Quoten erzielt, aber die Zusammenhänge verdunkelt. Das Besondere an der Colonia Dignidad ist, dass die Realität jede Fiktion überholt; es war schlimmer, als Film oder Buch es darstellen können. Fiktionale Bearbeitung bedeutet deshalb Verflachung, auch wenn sie noch so drastisch ist. Sie kann schockieren, aber keine Lernprozesse in Gang setzen.

Traumata, die noch heute nachwirken und zur nächsten Generation tradiert werden, sagen etwas über deren Ursachen aus, aber das ist kein Filmstoff. Ein Film kann allenfalls Symptome zeigen.

Vorzeitige Historisierung statt schrittweiser Aufarbeitung ist die Mumifizierung am lebenden Objekt mit dem Ziel, Geld mit der Pseudohistorisierung zu machen. Hier gibt es eine Umkehrung der sinnvollen Abfolge: Die Forschung müsste erst einmal alles vorhandene Material bearbeiten. Soweit ist es noch lange nicht, und es kommt ständig neues Material dazu. Die Sachbücher, die es gibt, legen immer Wert darauf, jeweils den bekannten Stand der Aufarbeitung zu dokumentieren. Die Colonia Dignidad ist das einzige mir bekannte Folterlager, das noch bewohnt ist, also Subjekt und Objekt in einem. Jeder Film, der heute gedreht wird, müsste der Verquickung von früher und heute, von Tätern und Opfern Rechnung tragen.

Der Denkmalschutz für die Villa Baviera wirkt wie eine Historisierung, ist aber eine Maßnahme, die verhindern soll, dass ein zukünftiger Gedenkort zuvor verändert, d.h. enthistorisiert wird. Für Menschen gibt es keinen Denkmalschutz. Ihre Erinnerungen unterliegen der ständigen Gefahr der Veränderung durch kommerzialisierter Befragung und schließlich Musealisierung.

Wir sind gerade in der Epoche der Deutungskämpfe zwischen verschiedenen Opfergruppen, und die Psychologisierungen leisten dem Opferdiskurs der Deutschen Vorschub. Chilenische Opfer sind an der historischen Wahrheit interessiert. Sie kommen meist nur am Rande vor. Damit erhalten die deutschen Opfer gegenüber den chilenischen ein mediales Übergewicht, dem die wissenschaftliche Aufarbeitung nur schwer entgegen halten kann.

In der Villa Baviera geben sich schaulustige GruselturistInnen, JournalistInnen, HistorikerInnen und FilmemacherInnen die Klinke in die Hand. Die Bewohner erzählen gegen ein kleines, aber stets willkommenes Entgelt immer wieder dieselbe Opfergeschichte. Durch diese Massenproduktion von Erinnerung entsteht eine seltsame Schleife von medialer Produktion und systematischer Aufarbeitung: Die systematische (und das ist nicht nur die wissenschaftliche) Aufarbeitung muss die meist sehr unkritisch geführten Interviews berücksichtigen, da sie ja einige Wahrheitselemente enthalten. Geschichte und Zeitgeschichte, kritisch dokumentierte Erinnerung und entgeltlicher Opferdiskurs verknoten sich, denn die sich verschiebenden Erinnerungsnarrative der (früheren) Sektenmitglieder sind Teil der Geschichte der Villa Baviera, die ja zur Nachgeschichte der Colonia Dignidad gehört. Das kann bedenkliche Engführung mit sich bringen, Homogenisierung der Narrative stellt sich fast automatisch ein.

Abgehangener Schinken dient nicht der Wahrheitsfindung.

Dieter Maier, Dezember 2019

 

Sie sind anderer Meinung als Dieter Maier und würden Ihre Sichtweise auch gerne mitteilen? Dann senden Sie eine Email mit Ihrem Anliegen an info@publichistoryblog.com. 

 

Veranstaltungen

AStA der Uni Hannover organisiert Veranstaltungsreihe zur Colonia Dignidad

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AStA der Uni Hannover organisiert Veranstaltungsreihe zur Colonia Dignidad

Die “Arbeitsgemeinschaft Kritische Bildung” des Allgemeinen Studierendenausschuss (AStA) der Leibniz Universität Hannover organisiert eine Veranstaltungsreihe zum Thema Colonia Dignidad im November und Dezember 2019.  Neben vier Terminen mit interdisziplinären Vorträgen zu verschiedenen Themenbereichen, wird auch eine abschließende Podiumsdiskussion ausgerichtet.

Vor allem der Spielfilm “Colonia Dignidad- Es gibt kein Zurück” von dem Regisseur Florian Gallenberger habe viele Mitglieder des AStA zu weiteren Recherchen zum Thema Colonia Dignidad angeregt, sagte Enise Üstkala (AG Kritische Bildung) über die Motivation des Studierendenausschusses, die Veranstaltungsreihe zu organisieren. Viele hatten zuvor noch nie oder nur wenig von diesem Ort in Chile und seinen Verwicklungen mit der chilenischen Militärdiktatur (1973-1990) unter Augusto Pinochet gehört.

In regelmäßigen Sitzungen der Arbeitsgemeinschaft diskutierten die Mitglieder einzelne Themenkomplexe rund um die Geschichte der Colonia Dignidad, sowie die Gegenwart der Villa Baviera. Aus ihren Diskussionen entwickelten sie eine interdisziplinäre Veranstaltungsreihe, die erstmals auch die wissenschaftliche Betrachtung spezifischer Themenbereiche unternimmt:

Zur Auftaktveranstaltung am 25. November 2019 gibt der Journalist und Publizist Dieter Maier einen überblicksartigen Vortrag zu den Anfängen der Colonia in Deutschland, dem Verlauf in Chile und der Funktion der Gruppe/des Ortes innerhalb der chilenischen Militärdiktatur.

Am 27. November 2019 hält der Psychologe Henning Freund einen Vortrag über die psychologische Identitätskonstruktion nach der Sozialisation in der totalitär-religiösen Gemeinschaft Colonia Dignidad.

Am 29. November 2019 liest Autorin Heike Rittel gemeinsam mit den Zeitzeug*innen Edeltraud und Michael Müller aus ihrem Interview-Buch “Lasst uns reden: Frauenprotokolle aus der Colonia Dignidad” vor.

Am 3. Dezember 2019 spricht der Sozialpsychologe Rolf Pohl über sexuelle Gewalt als männliches Herrschaftsinstrument in der Colonia Dignidad.

Am 4. Dezember 2019 diskutieren Journalistin Ute Löhning, Aktivist Jürgen Karwelat, Geschichts- und Kulturwissenschaftlerin Meike Dreckmann, Sozialpsychologe Sebastian Winter, sowie Mitglieder der “Not- und Interessengemeinschaft der Geschädigten der Colonia Dignidad” zu aktuellen Fragen und Herausforderungen in der Aufarbeitung der Geschichte der Colonia Dignidad.

Informationen zu den verschiedenen Veranstaltungsorten und gegebenenfalls Aktualisierungen rund um die Veranstaltung finden sich hier.

 

Quelle: Veranstaltungsseite des AStA Hannover

Akteur*innen & Projekte

Dieter Maier erhält “Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland am Bande”

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Dieter Maier erhält “Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland am Bande”

Menschenrechtler Dieter Maier und Darmstädter Regierungspräsidentin Brigitte Lindscheid © Regierungspräsidium Darmstadt

Der freie Journalist und Publizist Dieter Maier wurde am 1. November 2019 mit dem “Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland am Bande” ausgezeichnet. Überreicht wurde ihm der Orden für sein außergewöhnliches Engagement für das Gemeinwohl. Dieter Maier ist insbesondere für seine Publikationen zur berüchtigten Colonia Dignidad in Chile bekannt geworden.

Die Auszeichnung war Dieter Maier am vergangenen Freitag durch die Regierungspräsidentin des Regierungsbezirks Darmstadt Brigitte Lindscheid übergeben worden. Mit dem Verdienstorden soll der Menschenrechtler vor allem dafür geehrt werden, dass er durch wissenschaftliche, journalistische und politische Arbeit in besonderem Maße dazu beitrug, dass die in der Colonia Dignidad begangenen Menschenrechtsverbrechen aufgeklärt wurden.

Auf Anfrage dieses Blogs teilte Dieter Maier mit, dass er sich zwar über die Ehrung seiner Arbeit freue, aber dennoch einen ambivalenten Blick auf die “Symbolpolitik” behalte:

Ich empfinde die Auszeichnung als verspätete Anerkennung. Das macht mich immerhin zufrieden. Aber müssen immer erst 40 Jahre vergehen, ehe solche Würdigungen kommen? Die Bundesregierung hätte viel Leid verhindern können, wenn Sie uns 1977, als wir die Broschüre von Amnesty International über die Colonia Dignidad schrieben, ernst genommen hätte. Sie hat uns aber die Tür vor der Nase zugeschlagen. Mir bleibt der fahle Nachgeschmack, dass Symbolpolitik jetzt richten soll, was die Realpolitik damals vermasselt hat.

Dieter Maier studierte in den 1960/70er-Jahren Germanistik, evangelische Theologie und Philosophie. Im Rahmen seiner Arbeit für Amnesty International verfasste Dieter Maier gemeinsam mit seinem Co-Autor Jürgen Karwelat im Jahr 1977 eine Informationsbroschüre über die menschenrechtswidrigen Zustände in der Colonia Dignidad. Diese war gemeinsam von Amnesty International und der Zeitschrift STERN unter dem Titel “Colonia Dignidad. Ein deutsches Mustergut in Chile – ein Folterlager der DINA” veröffentlicht worden. Die Führung der Colonia Dignidad klagte daraufhin auf Unterlassung. Es folgte ein jahrzehntelanger Rechtsstreit, der erst beendet wurde, als die bundesdeutsche Vertretung der Colonia Dignidad sich aufgelöst hatte. Erstmals gab diese Broschüre auch chilenischen Menschen eine Stimme, die auf dem Gelände der Colonia Dignidad durch den chilenischen Geheimdienst DINA gefoltert wurden. Neben dieser Broschüre publizierte Dieter Maier außerdem einige Sachbücher zum Thema Colonia Dignidad, sowie eine Täterbiographie über den chilenischen Militärdiktator Augusto Pinochet.

Quelle: Pressemitteilung des Regierungspräsidiums Darmstadt 

Akteur*innen & Projekte/Interviews

“Die Colonia Dignidad war ein integraler Bestandteil der chilenischen Diktatur.”

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Ich glaube, du hast mir mal gesagt, dass du lange Zeit Paul Schäfers Feind Nummer 1 warst. Wie kam es dazu?
Ich bin nicht sicher, ob ich die Nr. 1 war. Schäfer und seine direkten Helfer visierten mich auf jeden Fall als Feind an. Jürgen Karwelat und ich schrieben 1976 die Broschüre von Amnesty international „Colonia Dignidad – deutsches Mustergut in Chile, ein Folterlager der DINA”, (Frankfurt am Main 1977), die dann im darauf folgenden Jahr erschien und die Colonia Dignidad  in Bedrängnis brachte. Ich bekam dann auch einen anonymen Drohanruf auf Spanisch.
Wir haben zum ersten Mal miteinander gesprochen, als du am 26. April 2016 als Experte auf dem Podium anlässlich einer Veranstaltung zu der Rolle des Auswärtigen Amtes in der Geschichte der Colonia Dignidad eingeladen warst. In seiner Rede sagte Frank-Walter Steinmeier in der damaligen Funktion als Außenminister „der Umgang mit der Colonia Dignidad ist kein Ruhmesblatt, auch nicht in der Geschichte des Auswärtigen Amtes.“ Er fügte hinzu: „Über viele Jahre hinweg, von den sechziger bis in die achtziger Jahre haben deutsche Diplomaten bestenfalls weggeschaut – jedenfalls eindeutig zu wenig für den Schutz ihrer Landsleute in dieser Kolonie getan.“ Wie war es für dich diese Sätze im Auswärtigen Amt zu hören, nachdem du schon so viele Jahre gegen die Colonia Dignidad gekämpft hattest?
Nun ja, es war keine Überraschung. Ich hatte am Rande etwas mit den Vorbereitungen der Veranstaltung zu tun, und kleine Passagen der Steinmeier-Rede gehen auf mich zurück. Aber es war eine große Genugtuung.
Immer wieder heißt es, dass es nichts Vergleichbares zur Geschichte der Colonia Dignidad gibt. Woran liegt das? Was unterscheidet diese Sektengeschichte deiner Meinung nach von anderen? 
Es geht nicht nur um eine Sekte, sondern um eine Repressionsagentur der Pinochet-Diktatur von großer Wirkung. Bezieht man die interne Sektenstruktur mit ein, erweist sich die Colonia Dignidad als eine nach außen und innen hochrepressive Sklavenhaltergesellschaft, die etwa ein halbes Jahrhundert lang bestand, und dies zu unseren Lebzeiten. Nimmt man zur Systematik und zeitlichen Länge der Repression die Mischung aus Folter, sexuellem Missbrauch, Waffengeschäften usw. dazu, dann gibt es nichts Vergleichbares.
Du plädierst immer wieder dafür, die Colonia Dignidad als historisches System zu begreifen, das über die eigenen Zäune hinausragt(e). Wo machen die meisten Menschen einen Denkfehler, wenn sie sich mit der Colonia Dignidad auseinandersetzen?
Es ist, wie wenn jemand ein Pflaster im Gesicht hat: Man versucht nicht hinzusehen und tut es immer wieder doch. Der Blick richtet sich auf das Dorf innerhalb des Zaunes und auf die deutschen Opfer. Diese Perspektive ist ethnisch eingeengt, enthistorisiert und entpolitisiert. Die Colonia Dignidad war ein integraler Bestandteil der chilenischen Diktatur.
Wie würdest du Paul Schäfer charakterisieren?
Ein machtversessener, genialer Manipulator. Er hat sich selbst ein kleines Reich geschaffen, wo er seine destruktiven Bedürfnisse ungestraft ausleben konnte. Ich weiß bis heute nicht, ob er seine eigenen Lügen geglaubt hat.
Wie lange willst du dich noch mit dem Thema Colonia Dignidad beschäftigen?
Ich würde nach fast 50 Jahren Beschäftigung mit dem Thema am liebsten heute noch aufhören.