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Akteur*innen & Projekte/Interviews

Renate Künast: “Wir sind beharrlich geblieben und haben genervt.”

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Renate Künast: “Wir sind beharrlich geblieben und haben genervt.”

Renate Künast (Bündnis90/Die Grünen) ist Mitglied einer Gemeinsamen Kommission des Bundestages und der Bundesregierung, welche mit der Umsetzung eines Hilfskonzeptes für Opfer der ehemaligen Colonia Dignidad beauftragt wurde. Als Vorsitzende des Rechtsausschusses organisierte Künast 2016 die erste Reise von Abgeordneten des Deutschen Bundestages in die ehemalige Colonia Dignidad. Im Interview berichtet sie von dem Hilfskonzept, den Hürden bei ihrer ersten Reise nach Chile und weiteren Schritten, die für eine gelungene Aufarbeitung der Verbrechen, die in der ehemaligen Colonia Dignidad begangen wurden, notwendig seien.

Interview mit der Bundestagsabgeordneten Renate Künast über die Aufarbeitung der in der Colonia Dignidad begangenen Verbrechen 

Meike Dreckmann: Frau Künast, wie würden Sie die Colonia Dignidad in Ihren eigenen Worten Jemandem erklären, der oder die noch nie davon gehört hat.

Renate Künast: Eine Sekte mit einem Zaun, der vor Ausbruch schützen sollte, und die ein ausgeklügeltes Sanktions- und Bestrafungssystem hatte.

MD: Worauf richten Sie als deutsche Bundestagsabgeordnete Ihren Blick besonders?

RK: Ich bemühe mich und wir bemühen uns als Gruppe von Abgeordneten, uns nicht nur auf das Gelände der heutigen Villa Baviera zu konzentrieren. Ich würde das für einen großen Fehler halten. Weil zu der gesamten Geschichte der Colonia gehört ja nicht nur, sich mit denen zu beschäftigen, die heute noch in der Villa Baviera leben, sondern auch mit denen, die es glücklicherweise herausgeschafft haben.

MD: Insgesamt sind Sie zwei Mal in die ehemalige Colonia Dignidad nach Chile gereist. Wie müssen wir uns die Umstände Ihrer ersten Delegationsreise 2016 vorstellen?

RK: Ich habe die Reise als damalige Vorsitzende des Rechtsausschusses organisiert. Wir sind damals nach Argentinien und Chile gefahren. Da habe ich einen massiven Druck erlebt. Uns wurde geraten: „Gehen Sie da lieber nicht hin.“ Überhaupt dorthin zu gehen, war schon eine große Sache. Der erste Teil einer Geschichtsaufarbeitung in diesem Kontext war für mich also die Frage: Wie kommen wir da überhaupt hin und welche Mechanismen gibt es, uns dort nicht hinzulassen?

MD: Von wem?

RK: Vom Auswärtigen Amt. Das fing im Prinzip bereits 2016 an. Anfang des Jahres reiste Joachim Gauck als damaliger Bundespräsident nach Chile zu einem Empfang in der deutschen Botschaft. Dort gab es einen Eklat, weil ein Täter aus den Reihen der Colonia Dignidad auch auf diesen Empfang eingeladen worden war. Darauf wurde Gauck hingewiesen und dann ist er mit seiner Frau gleich gegangen. Das gab großen Ärger und löste allgemeines Misstrauen aus. Und dann bekamen wir als Abgeordnete von der Botschaft noch den Warnhinweis: „Ach, fahren Sie lieber nicht in die Villa Baviera, das ist alles zu kompliziert. Sie müssen da vier Stunden rausfahren. Die werden Sie alle in Beschlag nehmen, weil sie ja psychisch sehr belastete Persönlichkeiten sind.“ Also es ist durchaus üblich, dass Botschaften Abgeordneten Hinweise geben, wenn sie eine Delegationsreise ins Ausland machen. Also Hinweise wie etwa: „Denken Sie daran, Sie müssen da weit fahren.“ Das ist ganz normal. Weil es auch Bundestagsabgeordnete gibt, die sich sonst hinterher beschweren und sagen, sie seien nicht informiert worden. Aber ich habe deutlich gesagt: „Wir wollen dahin. Ende.“

MD: Warum war das so eindeutig für Sie?

RK: Weil mir klar war, dass ich den authentischen Ort sehen musste. Und es ist doch qualitativ etwas ganz Anderes, ob ich persönlich und einzeln mit Leuten spreche oder die Menschen in einer Botschaft treffe. Und die Situation vor Ort in der Villa Baviera kann man auch nur begreifen, wenn man selber mal dort gewesen ist. Wenn man die wunderschöne Landschaft mit den schneebedeckten Bergen in der Ferne einmal gesehen hat. Dieses Dorf stellt sich optisch wie eine Vollidylle dar. Und als das Auswärtige Amt uns dann sagte, wir könnten die Menschen doch in die Botschaft in Santiago einladen, habe ich von der Seite schon gemerkt, dass die Geschichtsaufarbeitung ein großes Manko hat.

MD: Inwiefern?

RK: Zur Geschichtsaufarbeitung gehört doch auch, dass ich die Aufarbeitung systematisch und respektvoll organisiere. Bei einzelnen Aufarbeitungsschritten ist Sensibilität an den Tag zu legen. Warum sollten sich die quasi inhaftierten Menschen der so genannten Colonia Dignidad nach dieser Geschichte freiwillig in die Botschaft begeben? Das war irgendwie ein kurioser Vorschlag. Das in Verbindung mit dem Eklat der Einladung von ehemaligen Tätern in die Deutsche Botschaft und der Tatsache, dass immer diejenigen mit Hilfeleistungen benachteiligt wurden, welche die Villa Baviera verließen. Das war sozusagen das Vorspiel, wo wir wirklich wiederholt sagen mussten: „Wir wollen dahin!“

Michael Brand (CDU), Renate Künast (Grüne), Matthias Bartke (SPD), Bildrechte: Büro Künast

MD: Und wie war ihr Eindruck, als Sie dann dort ankamen?

RK: Dort haben wir eine ganz massive Betroffenheit erlebt. Ich muss Ihnen dazu sagen, dass ich in meinem ersten Leben Sozialarbeiterin bin, im zweiten Leben Juristin und ich habe auch viel in der Psychiatrie und im Strafvollzug gearbeitet. Als wir in der Villa Baviera ankamen, da war mein erster optischer Eindruck: Viele der betroffenen Menschen sind hospitalisiert und traumatisiert.

MD: Warum?

RK: Weil man es ihnen ansieht. Man sieht es den Menschen an der Art ihrer Reaktion mit Gestik und Mimik an. So wie man auch fast jedem Kind ansehen kann, ob es geschlagen wurde. Das hat eine ganz andere Körpersprache oder die jeweilige Person reagiert ganz anders. Selbst und gerade Erwachsenen sieht man die Torturen der Kindheit und Jugend noch an.

MD: Können Sie ein Beispiel geben?

RK: Ja, zum Beispiel eine ältere Dame, die sich dort mit geradezu kindlicher Naivität auf uns zu kam und redete. Die Welt hat sie noch gar nicht begriffen. Und gerade bei unserer ersten Reise haben wir sehr intensive Runden mit Einzelgesprächen geführt. Da saßen immer ein, zwei Abgeordnete an einem Tisch mit ein paar Zeitzeug*innen. Sie gingen bei Kaffee und Kuchen eben schnell in die Vollen mit ihren Erzählungen. Und das erlebe ich selten, dass Leute innerhalb von kurzer Zeit denken, das kann ich denen jetzt gerade mal kurz erzählen. Ich habe allerdings später begriffen, dass die individuellen Geschichten so unaufgearbeitet sind und viele deshalb großen Druck verspüren. Besonders die Älteren habe ich so erlebt, dass sie von Kopf bis Fuß mit diesen Geschichten gefüllt sind. Deshalb landet man immer und innerhalb von Sekunden sofort bei diesen Geschichten und Ereignissen. Und es gibt gar keine Luft, um mal über etwas Anderes zu reden. Das finde ich persönlich tragisch, weil die Menschen auch nicht die Luft oder die Möglichkeit dazu haben, weil sie so hospitalisiert sind und gar nicht in einer anderen Welt gelebt haben. Und wenn sie niemand an die Hand nimmt und in eine betreute Wohnsituation an einem anderen Ort bringt, fühlen die sich gar nicht lebensfähig. Die Menschen würden Angst haben und zurücklaufen. Und das finde ich, spürt man da schon.

MD: Was ist Ihnen noch aufgefallen?

RK: Dann hat die Art der Aufarbeitung, die sie selber als Geschichtsaufarbeitung machen, für meine Begriffe etwas Hilfloses, weil sie weder hinreichend begleitet noch offiziell organisiert ist. Sie sind in diesem Käfig des Erlittenen und in dieser engen Struktur, in der sie nie gelernt haben, sich in einer freien Gesellschaft ohne genaue Abläufe zu bewegen. Sie sind eingeschüchtert und haben massive Traumata. Sie leben in ihrer Welt und in ihrer Tragik und ich finde, dass für ganz viele Aufarbeitung ein anderes Schicksal ist: Darf ich persönlich denn noch etwas Schönes erleben? Wenn dir eine Person selbst erzählt, wie sie mit Elektroschocks und Tabletten gefoltert wurde. Unter Paul Schäfer waren bestimmte Verhaltensweisen verboten. Und heute zittern noch einige körperlich, schwitzen und haben massive Ängste, weil sie etwas getan habe, was „verboten“ ist. Obwohl der Mann [Paul Schäfer, Anm. MD] gar nicht mehr da ist und eigentlich die Struktur auch gar nicht mehr. Sie sind so konditioniert, dass sie es nicht als Freiheit empfunden haben, weil sie nie etwas Anderes erlebt haben. Sie waren nie frei. Sie haben ja auch nie Fernsehsendungen geschaut und dort gesehen, wie man sonst so in der Welt frei durch die Gegend läuft oder sich verhalten kann.

MD: Und warum denken Sie, verlassen viele Menschen die ehemalige Colonia Dignidad heute nicht?

RK: Ich sehe, dass viele diesen Schritt nicht tun können. Das würde wahrscheinlich nur gehen, wenn jemand sagen würde, dass es in der Nähe eine Stadt mit einem betreuten Wohnen oder einem Seniorenheim gibt, das zum Beispiel auch eine Kantine hat und einen Wäscheservice anbietet. Ein Ort, an dem es eine bestimmte Einbindung in eine Gruppe gibt und man nicht mitten in einer Stadt anonym wohnt. Da würden die Menschen nie hingehen.

MD: Aus Chile habe ich die Nachricht erhalten, dass ein Ehepaar, das im Jahr 2006 die Villa Baviera verlassen hat, vor Kurzem wieder zurückgezogen ist. Sie sagen, dass sie es außerhalb finanziell einfach nicht geschafft haben. Das Ehepaar wurde wiederaufgenommen und im Tourismus angestellt. Wie kann das Hilfskonzept den Leuten helfen, wenn sie außerhalb der Villa Baviera leben möchten?

RK: Also, das Hilfskonzept ist ja das Minimum, was wir bringen müssen. Ich sage nicht, damit bin ich jetzt zufrieden und es ist alles getan. Aber man kann sich ja vorstellen, was das für eine mühevolle Arbeit war. Also da bin ich jetzt unzufrieden und stolz. Das fällt zusammen.

MD: Können Sie das näher erklären?

RK: Ja, unzufrieden, weil das bei Weitem nicht ausreicht und stolz, weil man da eben Ende 2016 nicht denken konnte, dass es da jemals zu irgendeinem Ergebnis kommen könnte. Aber wir Bundestagsabgeordneten sind beharrlich geblieben und haben genervt. Und wir haben die Reise dahin gemacht und wir waren als Gruppe sehr beeindruckt von dieser Situation. Und ich habe dann nachher gesagt: „Machen wir das? Schwören wir uns das jetzt und machen uns daran und sorgen dafür, dass es einen Antrag im Bundestag gibt und dass es da ein Hilfskonzept gibt und so weiter?“ „Ja, logisch.“ Gemeinsam haben wir dann den Antrag und den Beschluss darin hingekriegt. Zum Beispiel, dass es bis zum 31.6.2018 einen Bericht der Bundesregierung geben musste.

MD: Und was hielten Sie von dem Bericht?

RK: Der war schlecht. Das haben Sie sicherlich gesehen. Wir haben alle protestiert. Dafür, dass sie nie was zahlen wollten, kriegen die Opfer jetzt 10.000€. Mit der Internationalen Organisation für Migration (IOM) haben wir jetzt kompetente Partner, welche die Verteilung der Gelder durchführen. Die werden zuerst zu den Menschen gehen, die außerhalb der Villa wohnen, weil dort die Unterstützung am dringendsten ist. Als erstes muss es um die gehen, die eindeutig Opfer sind und wo es keinerlei zu klärende Fragen gibt. Das dürften an die 100 Menschen sein und da soll schnell Geld kommen. Wir haben dabei verschiedene Stufen der Glaubhaftmachung festgelegt.

MD: Das ist ja wirklich überraschend dann, dass die ersten zurückziehen in die Villa. Denn theoretisch würde es damit doch jetzt die Strukturen geben, um das Leben außerhalb erheblich zu erleichtern, oder?

RK: Ja, das stimmt, aber wir haben keine Rente beschließen können. Und es gibt ja auch keine Lebenshilfe. Allerdings: Wenn die Menschen jetzt einmal 10.000€ erhalten und wenn sie später pflegebedürftig sind, müssten sie keine Angst haben, dass sie dann auf der Straße liegen, sondern die Pflege wird bezahlt. Aber was machen sie denn zwischendurch? Das ist nicht gelöst. Sie haben keine Rente oder erhalten in Chile umgerechnet 200€. Und da nie in die Rentenkasse eingezahlt wurde, ist das ein großes Problem. Und deshalb sage ich: Wir haben jetzt zwar etwas geschafft, was wir vor Jahren nicht für möglich gehalten hätten. Das ist jedoch noch kein Grund für Zufriedenheit. Also man muss da weiter nachdenken und man muss mal überlegen, wie der chilenische Staat sich da mal irgendwo einbringt. Denn er hat so etwas letztendlich auch auf seinem Territorium zugelassen. Dann bleibt noch das Thema Gedenkstätte mit Lernort. Das gibt es zum Beispiel in der KZ-Gedenkstätte Auschwitz auch. Wo dann junge Leute sich treffen und Seminare machen, aber auch mithelfen, die Flächen in Ordnung zu halten. Sie können diskutieren und lernen: Wie entwickeln sich eigentlich Gesellschaften, aus denen solche Sachen entstehen? Das kannst du ja auf den Nationalsozialismus, auf die Diktatur in Chile, auf die Colonia Dignidad oder auch auf Syrien übertragen. Also man kann es auf ganz viele Gesellschaften beziehen und daran lernen.

MD: Wie haben Sie denn die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Chile im Hinblick auf die Gedenkstättenplanung erlebt?

RK: Die Expert*innen der deutsch-chilenischen Kommission stehen natürlich vor großen Herausforderungen. Auch für Chile ist nicht einfach und zwar nicht nur bezogen auf die Frage: Colonia Dignidad, warum haben wir das zugelassen?

MD: Was meinen Sie mit “nicht einfach”?

RK: Wir haben bei unseren Reisen beispielsweise auch Gouverneure und Politiker aus dem Süden getroffen, die in aller Offenheit sagten: „Wieso? Ich möchte Ihnen mal sagen, wir fanden das alle toll!“

MD: Ja, die Colonia Dignidad war sowohl politisch, als auch wirtschaftlich und auch innerhalb der Bevölkerung sehr gut vernetzt. Sie profitierte von einem eng gesponnenen Netzwerk aus Unterstützer*innen.

RK: Genau. Und in Chile ging es in den 1960er/70er-Jahren vielen eben darum, dass das Land unten im Süden urbar gemacht wird. Dass Landwirtschaft betrieben wird und dass die Bevölkerung ansteigt. Die Städte sollten wachsen. “Wir wollten selbst unsere Lebensmittel anbauen.” “Wir waren froh, dass es diese fleißigen Deutschen da gab.” “Oh, und wir haben auch nicht richtig hingeguckt.” So ein autoritäres Regime innerhalb der Anlage fanden sie zum Teil auch nicht schlecht und um alles andere haben sie sich im Detail auch nicht gekümmert. Und es ist schwierig, weil die DINA [Dirección de Inteligencia Nacional, Anm. MD] in der Colonia Oppositionelle des Militärregimes folterte und ermordete, aber auch ihre Wochenenden dort gemütlich verbrachte. Aufklärung fällt ihnen noch schwer, da wohl viele angesehene Familien Chiles heute noch durch Generäle und Soldaten irgendwelche Bezüge zu der Geschichte haben. Entweder waren sie also Opfer oder sie haben Freund*innen oder Verwandte dort verloren. Oder sie hatten selbst Leute beim Militär oder bei der DINA. Sie gehörten dadurch also zum Herrschaftssystem und haben vielleicht sogar selbst mitgefoltert.

MD: Und können Sie ein Beispiel dafür nennen, wie Ihrem Eindruck zufolge das Thema Erinnern und Gedenken in der Villa Baviera diskutiert wird?

RK: Als wir Ende August 2018 zu einem Exekutivtreffen mit ein paar Abgeordneten zum zweiten Mal dort waren, haben die Chilenen einen Vorschlag gemacht. Das gesamte Material, was man noch gefunden hat, also Karteikarten, Fotos und so weiter, sollten demnach in das Archiv des Museums für Menschenrechte in Santiago de Chile aufgenommen werden. Die Sachverständigen aus Deutschland waren davon allerdings nicht nur begeistert, weil sie der Meinung waren, dass es auch Gedenken und das Auseinandersetzen vor Ort auf dem Gelände der Villa Baviera geben müsse. Dann gibt es auch noch die chilenischen Hinterbliebenen, die sagen, dass dort auf keinen Fall Hochzeitsfeiern und Hotelbetrieb durchgeführt werden dürfen. Diesen Konflikt müssen wir lösen.

MD: Und wie?

RK: Ich glaube, wir müssen von hier aus immer dranbleiben. Aktuell ist das angesichts der Situation in Chile nicht einfach. Der Schwerpunkt liegt logischerweise auf aktuellen und dringenden sozialen Fragen.

MD: Gibt es etwas Neues zu der Vermögenssituation dieser Strukturen, die sie angesprochen haben? Müssen wir uns von dem Gedanken verabschieden, jemals herauszufinden, wo das Geld geblieben ist, das Paul Schäfer illegal angehäuft hat?

RK: Ich weiß nicht. Es ist zudem ein rein privatrechtlicher Sachverhalt, wie sollen wir da reinkommen?

MD: Das heißt, Sie glauben nicht, dass niemand weiß, wo das Vermögen aus Schäfer-Zeiten geblieben ist?

RK: Naja, es werden von einigen alle rechtlichen Mittel genutzt, um Aufklärung zu verhindern.

Die Delegierten legen Blumen ab an den Ausgrabungsstätten der in der Colonia Dignidad “Verschwundenen”, Bildrechte: Büro Künast

MD: Einige gehen davon aus, dass Hartmut Hopp, der ehemalige Arzt der Colonia Dignidad und Vertrauter Paul Schäfers, etwas über das verschwundene Vermögen wissen könnte. Wie bewerten Sie als Juristin den Beschluss des Oberlandesgerichtes Düsseldorf, der besagt, dass die in Chile verhängte Strafe gegen Hopp in Deutschland nicht umgesetzt werden könne?

RK: Ich habe grundsätzlich den Eindruck, dass die Staatsanwält*innen, die daran gearbeitet haben, scheinbar dem Ganzen nicht besonders viel Bedeutung beigemessen haben. Die einzigen, die da wirklich noch juristisch tiefer rangehen, sind die Leute vom ECCHR. Ich glaube, die haben sich überlegt, zu klagen.

MD: Wie stehen Sie zu dem touristischen Konzept vor Ort?

RK: Ich würde den Tourismus ganz wegnehmen. Und stattdessen muss man diesen Ort und das Ensemble zwar erhalten und aus diesem Hotel etwas für Jugendliche und junge Menschen machen. Wo du dann lernst, wie sich Gesellschaften entwickeln und wie es anfängt, dass so etwas wie die Colonia Dignidad dabei herauskommt. Man kann auf dem Boden nicht so tun, als hätte es nie stattgefunden. Also auch zu lernen und zu hinterfragen, was die deutsche Botschaft da unten gemacht hat. Da könnte man fast mal sagen, da müssen auch mal Diplomat*innen in ihrer Ausbildung hin.

MD: Ja, also das Thema soll ja zumindest in das Curriculum für angehende Diplomat*innen aufgenommen werden. Aber da weiß ich nicht, was der aktuelle Stand ist. Das hatte zumindest Frank-Walter Steinmeier als damaliger Außenminister in seiner Rede im Auswärtigen Amt gesagt.

RK: Das ist ein guter Punkt.

MD: Warum?

RK: Ja, da muss ich noch einmal in der Steinmeier-Rede nachschauen. Da kann ich dann eine Anfrage dazu machen.

MD: Das ist doch ein schöner Abschlusssatz. Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für mich genommen haben.

RK: Gerne.

(Renate Künast beantwortete die Fragen mündlich am 17. September 2019 in ihrem Bundestagsbüro. Das Interview wurde zur besseren Lesbarkeit gekürzt und redigiert.) 

 

WEITERE INTERVIEWS (Auswahl):

Veranstaltungen

AStA der Uni Hannover organisiert Veranstaltungsreihe zur Colonia Dignidad

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AStA der Uni Hannover organisiert Veranstaltungsreihe zur Colonia Dignidad

Die “Arbeitsgemeinschaft Kritische Bildung” des Allgemeinen Studierendenausschuss (AStA) der Leibniz Universität Hannover organisiert eine Veranstaltungsreihe zum Thema Colonia Dignidad im November und Dezember 2019.  Neben vier Terminen mit interdisziplinären Vorträgen zu verschiedenen Themenbereichen, wird auch eine abschließende Podiumsdiskussion ausgerichtet.

Vor allem der Spielfilm “Colonia Dignidad- Es gibt kein Zurück” von dem Regisseur Florian Gallenberger habe viele Mitglieder des AStA zu weiteren Recherchen zum Thema Colonia Dignidad angeregt, sagte Enise Üstkala (AG Kritische Bildung) über die Motivation des Studierendenausschusses, die Veranstaltungsreihe zu organisieren. Viele hatten zuvor noch nie oder nur wenig von diesem Ort in Chile und seinen Verwicklungen mit der chilenischen Militärdiktatur (1973-1990) unter Augusto Pinochet gehört.

In regelmäßigen Sitzungen der Arbeitsgemeinschaft diskutierten die Mitglieder einzelne Themenkomplexe rund um die Geschichte der Colonia Dignidad, sowie die Gegenwart der Villa Baviera. Aus ihren Diskussionen entwickelten sie eine interdisziplinäre Veranstaltungsreihe, die erstmals auch die wissenschaftliche Betrachtung spezifischer Themenbereiche unternimmt:

Zur Auftaktveranstaltung am 25. November 2019 gibt der Journalist und Publizist Dieter Maier einen überblicksartigen Vortrag zu den Anfängen der Colonia in Deutschland, dem Verlauf in Chile und der Funktion der Gruppe/des Ortes innerhalb der chilenischen Militärdiktatur.

Am 27. November 2019 hält der Psychologe Henning Freund einen Vortrag über die psychologische Identitätskonstruktion nach der Sozialisation in der totalitär-religiösen Gemeinschaft Colonia Dignidad.

Am 29. November 2019 liest Autorin Heike Rittel gemeinsam mit den Zeitzeug*innen Edeltraud und Michael Müller aus ihrem Interview-Buch “Lasst uns reden: Frauenprotokolle aus der Colonia Dignidad” vor.

Am 3. Dezember 2019 spricht der Sozialpsychologe Rolf Pohl über sexuelle Gewalt als männliches Herrschaftsinstrument in der Colonia Dignidad.

Am 4. Dezember 2019 diskutieren Journalistin Ute Löhning, Aktivist Jürgen Karwelat, Geschichts- und Kulturwissenschaftlerin Meike Dreckmann, Sozialpsychologe Sebastian Winter, sowie Mitglieder der “Not- und Interessengemeinschaft der Geschädigten der Colonia Dignidad” zu aktuellen Fragen und Herausforderungen in der Aufarbeitung der Geschichte der Colonia Dignidad.

Informationen zu den verschiedenen Veranstaltungsorten und gegebenenfalls Aktualisierungen rund um die Veranstaltung finden sich hier.

 

Quelle: Veranstaltungsseite des AStA Hannover

Akteur*innen & Projekte

Dieter Maier erhält “Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland am Bande”

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Dieter Maier erhält “Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland am Bande”

Menschenrechtler Dieter Maier und Darmstädter Regierungspräsidentin Brigitte Lindscheid © Regierungspräsidium Darmstadt

Der freie Journalist und Publizist Dieter Maier wurde am 1. November 2019 mit dem “Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland am Bande” ausgezeichnet. Überreicht wurde ihm der Orden für sein außergewöhnliches Engagement für das Gemeinwohl. Dieter Maier ist insbesondere für seine Publikationen zur berüchtigten Colonia Dignidad in Chile bekannt geworden.

Die Auszeichnung war Dieter Maier am vergangenen Freitag durch die Regierungspräsidentin des Regierungsbezirks Darmstadt Brigitte Lindscheid übergeben worden. Mit dem Verdienstorden soll der Menschenrechtler vor allem dafür geehrt werden, dass er durch wissenschaftliche, journalistische und politische Arbeit in besonderem Maße dazu beitrug, dass die in der Colonia Dignidad begangenen Menschenrechtsverbrechen aufgeklärt wurden.

Auf Anfrage dieses Blogs teilte Dieter Maier mit, dass er sich zwar über die Ehrung seiner Arbeit freue, aber dennoch einen ambivalenten Blick auf die “Symbolpolitik” behalte:

Ich empfinde die Auszeichnung als verspätete Anerkennung. Das macht mich immerhin zufrieden. Aber müssen immer erst 40 Jahre vergehen, ehe solche Würdigungen kommen? Die Bundesregierung hätte viel Leid verhindern können, wenn Sie uns 1977, als wir die Broschüre von Amnesty International über die Colonia Dignidad schrieben, ernst genommen hätte. Sie hat uns aber die Tür vor der Nase zugeschlagen. Mir bleibt der fahle Nachgeschmack, dass Symbolpolitik jetzt richten soll, was die Realpolitik damals vermasselt hat.

Dieter Maier studierte in den 1960/70er-Jahren Germanistik, evangelische Theologie und Philosophie. Im Rahmen seiner Arbeit für Amnesty International verfasste Dieter Maier gemeinsam mit seinem Co-Autor Jürgen Karwelat im Jahr 1977 eine Informationsbroschüre über die menschenrechtswidrigen Zustände in der Colonia Dignidad. Diese war gemeinsam von Amnesty International und der Zeitschrift STERN unter dem Titel “Colonia Dignidad. Ein deutsches Mustergut in Chile – ein Folterlager der DINA” veröffentlicht worden. Die Führung der Colonia Dignidad klagte daraufhin auf Unterlassung. Es folgte ein jahrzehntelanger Rechtsstreit, der erst beendet wurde, als die bundesdeutsche Vertretung der Colonia Dignidad sich aufgelöst hatte. Erstmals gab diese Broschüre auch chilenischen Menschen eine Stimme, die auf dem Gelände der Colonia Dignidad durch den chilenischen Geheimdienst DINA gefoltert wurden. Neben dieser Broschüre publizierte Dieter Maier außerdem einige Sachbücher zum Thema Colonia Dignidad, sowie eine Täterbiographie über den chilenischen Militärdiktator Augusto Pinochet.

Quelle: Pressemitteilung des Regierungspräsidiums Darmstadt 

Gastbeiträge

Pressemitteilung des FDCL zum Fall des Psychiaters Otto Dörr

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Pressemitteilung des FDCL zum Fall des Psychiaters Otto Dörr

[Dies ist eine Pressemitteilung des FDCL, der hier unverändert als Gastbeitrag veröffentlicht wird.]

Pressemitteilung des Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika e.V.

Erfolg gegen Unterstützungsnetzwerk der Colonia Dignidad

Chilenische Ärztekammer stellt fest: Otto Dörr verletzte ethische Mindeststandards

[Santiago de Chile, 11.09.2019] Wie heute, am 46. Jahrestag des chilenischen Mililtärputsches, bekannt wurde, hat die chilenische Ärztekammer eine Sanktion gegen den deutschstämmigen Psychiater Otto Dörr verhängt. In einem ausführlich begründeten Beschluss stellte sie fest, Dörr habe nicht nach den ethischen Kriterien gehandelt, die zu erfüllen Ärztinnen und Ärzten obliege. Dörr hatte gemeinsam mit anderen „zivilen“ Persönlichkeiten jahrelang öffentlich die Colonia Dignidad unterstützt und somit zur Aufrechterhaltung der menschenrechtswidrigen Verhältnisse in der Deutschensiedlung beigetragen. Zudem hatte Dörr in Zusammenarbeit Hartmut Hopp – dem ehemaligen Leiter des Krankenhauses der Siedlung – Bewohner_innen der Colonia Dignidad mit Psychopharmaka „behandelt“. Ein „Patient“ von Dörr und Hopp, der Koloniebewohner Karl Stricker (siehe Foto unten), verstarb 2002 in der Colonia Dignidad, als er unter Psychopharmaka-Einfluss Dacharbeiten durchführen musste und abstürzte[1]. Stricker hatte 1996 versucht aus der Colonia Dignidad zu fliehen, wurde jedoch von der Sektenführung zurückgeholt. Dörr hatte ihm daraufhin Psychopharmaka-Medikamente verordnet und Bescheinigungen ausgestellt, die eine Vorladung durch die chilenische Justiz behinderten.

2018 wurde Otto Dörr der Nationale Medizinpreis Chiles zugesprochen. Dies führte zu einem Aufschrei des Protests in Menschenrechtskreisen, kurz darauf zur Einreichung mehrerer Anzeigen[2] gegen Dörr bei der chilenischen Ärztekammer und schließlich zur Eröffnung eines Verfahrens vor dem Ethik-Tribunal des Ärztegremiums. Die Verleihung des höchsten chilenischen Preises für Medizin wurde bis zum Abschluss des Verfahrens des Ethiktribunals der chilenischen Ärztekammer[3]suspendiert. Es wird erwartet, dass Dörr nach seiner Sanktionierung durch die Ärztekammer auch der Preis wieder aberkannt wird.

Das Ethiktribunal gab den Anzeigen nach einem anderthalbjährigen Verfahren statt und stellte fest, dass Dörrs Verhalten Verstöße gegen die Ethikrichtlinien der Ärztekammer darstellen. Besondere Bedeutung wird Dörrs Verhalten im Fall Karl Stricker beigemessen. Dutzende Zeug_innen wurden angehört, darunter auch viele, die zugunsten von Dörr aussagten. Zu diesen gehörte auch der Psychiater Niels Biedermann, der im Auftrag der deutschen Bundesregierung seit 2005 die (ehemaligen) Bewohner_innen der Colonia Dignidad psychiatrisch behandelt. Biedermann verteidigte Dörr wiederholt und unterzeichnete in der rechtskonservativen Zeitung El Mercurio eine Unterstützungs-Erklärung zugunsten von Dörr, die von einer „inakzeptablen Verleumdungskampagne“ sprach.

Jan Stehle vom FDCL, einer der Anzeigenerstatter gegen Otto Dörr, erklärt hierzu:

„Der Spruch des Ethiktribunals ist ein Vorgang von historischer Tragweite im Kontext der mühevollen Aufarbeitung der Verbrechen der Colonia Dignidad. Erstmals erfährt ein langjähriger Unterstützer der Colonia Dignidad Konsequenzen für sein Handeln. Das Netzwerk von Unterstützer_innen in Chile und Deutschland ermöglichte die Kontinuität der Menschenrechtsverbrechen in der kriminellen Sekte bis 2005. Die im Urteilsspruch dokumentierten Verbindungen von Otto Dörr zur Colonia Dignidad und zur Person Hartmut Hopp verdeutlichen erneut die skandalösen Unterlassungen auch seitens der deutschen Justiz bei der Aufarbeitung der systematischen Verbrechen der Colonia Dignidad, die längst noch nicht abgeschlossen ist. Ich erwarte, dass Otto Dörr nun umgehend der Nationale Medizinpreis aberkannt wird“

Hernán Fernández, langjähriger Anwalt vieler Colonia Dignidad-Opfer, der Stehle in dem Verfahren vor der Ärztekammer anwaltlich vertrat, ergänzt:

Dieser Beschluss bedeutet etwas Gerechtigkeit für die Opfer; denn das Verbrechenssystem der Colonia Dignidad konnte durch die ideologische Unterstützung von Personen wie Otto Dörr jahrzehntelang aufrechterhalten werden. Der Beschluss bedeutet auch etwas Gerechtigkeit für den verstorbenen Karl Stricker, der starb, ohne die ersehnte Freiheit zu erlangen.

Karl Stricker, früherer Bewohner der Colonia Dignidad. Er war von Otto Dörr und Hartmut Hopp mit Psychopharmaka „behandelt“ worden und kam 2002 bei einem Unfall zu Tode. (Foto: www.eldinamo.cl)

 

 

Download des Urteils:

https://www.cooperativa.cl/noticias/site/artic/20190910/asocfile/20190910222606/sentencia_causa_rol_n__008_18__10_09_19_.pdf

Erste chilenische Medienreaktionen:

https://www.cooperativa.cl/noticias/pais/judicial/villa-baviera/colegio-medico-aplico-sancion-etica-a-otto-dorr-por-hechos-ligados-a-la/2019-09-10/222606.html

https://www.eldesconcierto.cl/2019/09/11/colegio-medico-aplica-sancion-etica-a-otto-dorr-por-hechos-ligados-a-colonia-dignidad/

—–

Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika e.V.

Gneisenaustr. 2a, 10961 Berlin

Tel 030 6934029 Email: info@fdcl-berlin.de

 

 

 

[1] https://ciperchile.cl/2018/04/10/colonia-dignidad-la-muerte-de-karl-stricker-y-la-amnesia-de-otto-dorr/

[2] Zu den fünf Anzeigenerstatter_innen gehörten Jan Stehle, der Rechtsanwalt und ehemalige Bewohner der Colonia Dignidad Winfried Hempel, zwei Angehörigenverbände der Verschwundenen und eine Menschenrechtsorganisation.

[3] http://www.colegiomedico.cl/tribunales-de-etica/

Akteur*innen & Projekte/Interviews

“Wir waren am meisten und intensivsten von der Sektenbildung betroffen.”

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“Wir waren am meisten und intensivsten von der Sektenbildung betroffen.”

Michael Gordon ist Pastor in der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde (Baptisten) Gronau. Auf Wunsch jüngerer Gemeindemitglieder hat er sich die Erforschung der Vorgeschichte der Colonia Dignidad in Gronau vorgenommen. Im Interview gibt er einen ersten Einblick in seine Nachforschungen und erklärt, warum Paul Schäfer weder als Evangelist, noch als Baptist bezeichnet werden könne.

Gronauer Pastor Michael Gordon im Interview über seine Forschungen zur Colonia Dignidad 

Meike Dreckmann-Nielen: Herr Gordon, inwiefern ist die Geschichte der Colonia Dignidad denn ein wichtiger Teil der Geschichte Ihrer Baptistengemeinde?

Michael Gordon: Fast die Hälfte der 300 ehemaligen Bewohner*innen der Colonia Dignidad stammte direkt oder indirekt (Mitglieder, Freund*innen, Kinder) aus der Baptistengemeinde Gronau. Wir waren am meisten und intensivsten von der Sektenbildung betroffen. Die Gemeinde verlor durch den Verlust der vielen Familien mit Kindern ihre natürliche Zukunft.

MD: Wie viele gegenwärtige Mitglieder Ihrer Gemeinde sind aus der ehemaligen Colonia Dignidad zu Ihnen gekommen?

MG: Dauerhaft hat sich uns nur eine Familie angeschlossen. Ich kenne aber die meisten anderen ehemaligen Bewohner*innen der Colonia Dignidad, die in Gronau wohnen, und habe zumeist einen guten, aber nicht engen Kontakt. Nach meinem Wissen haben nur wenige ehemalige Bewohner*innen der Colonia in einer deutschen Freikirche eine Heimat gefunden.

Paul Schäfers Zielgruppe waren Christ*innen.

MD: Der Gronauer Prediger Hugo Baar spaltete damals die örtliche Baptistengemeinde, indem er sich dem freien Evangelisten Paul Schäfer anschloss. Was faszinierte Hugo Baar und seine Anhänger*innen damals an der Person Paul Schäfer und an seinen „Lehren“?

MG: Zunächst möchte ich sagen, dass die Selbstbezeichnung Paul Schäfers als “Evangelist” irreführend ist. Der Titel war und ist nicht geschützt und wurde in frommen Kreisen mit etwas Anerkennenswertem assoziiert. Leben, Aktivitäten und Zielgruppe von Paul Schäfer entsprachen aber nicht der eines solchen Evangelisten. Nach meiner bisherigen Erkenntnis hat sich kaum jemand unmittelbar durch Paul Schäfer bekehrt (man vergleiche als Gegenbeispiel Billy Graham). Gerhard Mücke dürfte einer der ganz wenigen gewesen sein. Paul Schäfer hat sicherlich nicht durch Evangelisationen die Menschen an sich gezogen. Seine Zielgruppe waren Christ*innen. Hugo Baar hatte sich Mitte 1954 Paul Schäfer angeschlossen, was sich sofort in seiner veränderten Tätigkeit als Prediger in einer Baptistengemeinde in Salzgitter bemerkbar machte und sich dann bei seiner Arbeit in Gronau fortsetzte. Die Spaltung in Gronau ist ein komplexes Geschehen, zu dem ich mich an anderer Stelle äußern werde, genauso die Gründe, warum man sich Paul Schäfer angeschlossen hat. Sie dürften aber unterschiedlich gewesen sein.

Es ist eine meiner Herausforderungen, das spezifisch “Schäferische” herauszuarbeiten.

MD: Wo sehen Sie baptistische Einflüsse in Schäfers “Lehren” und an welchen Stellen wurde das damalige Glaubensgerüst eindeutig zu einer Privatreligion Schäfers?

MG: Paul Schäfer war nie Baptist, ließ sich zwar in den fünfziger Jahren taufen und taufte auch kurzzeitig selbst. Die Taufe spielte aber schon bald in seiner “Theologie” keine Rolle mehr. Zwar stammten 85 % seiner Anhänger*innen aus den Baptistengemeinden, die entscheidende Mehrheit hatte sich aber mit dem Anschluss an Paul Schäfer/Hugo Baar innerlich von Grundgedanken des Baptismus entfernt. Entscheidend muss für Paul Schäfer seine Begegnung mit –im weitesten Sinne– Pfingstlern gewesen sein. Der Entschluss zu einer eigenen “Kirche” fiel vermutlich schon gegen Ende seines Aufenthaltes in Gartow Anfang der 50er-Jahre. Wie vorhin erwähnt, ist es eine meiner Herausforderungen, das spezifisch “Schäferische” herauszuarbeiten. Die von Paul Schäfer im Laufe der Zeit vorgenommenen inhaltlichen und praktischen Veränderung bei der Beichte gehören sicherlich dazu. Hatte sie zu Anfang noch sehr viel Ähnlichkeit mit vergleichbaren “Beichten” in anderen christlichen Gruppen und Strömungen, so war sie Anfang 1960 nur noch ein Zerrbild. Diese Änderung der Beichte geschah in einem Prozess in den 50er-Jahren.

Die Leitung und die Predigerschaft unseres Baptistenbundes waren damals in das tragische Geschehen involviert.

MD: Wie kam es dazu, dass Sie sich die Erforschung dieses Teils der Gemeindegeschichte vornahmen?

MG: Die kriminellen Machenschaften in der Colonia Dignidad, die durch den Spielfilm “Colonia Dignidad – Es gibt kein Zurück” einem breiteren internationalen Publikum bekannter wurden, aber auch die Rückkehr ehemaliger Colonia-Bewohner*innen nach Gronau und auch Anfragen von außerhalb der Gemeinde, ließen die Frage intern bei den Jüngeren aufkommen, was damals in der Gemeinde vor 1962 passierte. Diese Frage konnte oder wollte kaum einer von den damals Beteiligten beantworten. Wir fanden dann ein altes Protokollbuch des Gemeindeleiters (beginnend 1957) und es wurde deutlich, dass das Drama in Gronau viel größere Dimensionen hatte, als wir “Jüngeren” wussten oder gar ahnten. Die Leitung und die Predigerschaft unseres Baptistenbundes waren damals in das tragische Geschehen involviert. Bis Ende 1957 waren mehrere Baptistengemeinden in drei verschiedenen Landesverbänden von Spaltungen betroffen und drei Prediger wurden von der Prediger-Liste gestrichen, d.h. sie durften nicht mehr als Prediger der Baptistengemeinden arbeiten.

MD: Wie müssen sich die Leser*innen den Umfang Ihrer Nachforschungen vorstellen?

MG: Es leiten mich drei Fragen. Erstens: Was passierte genau in Gronau? Hier geht es dann insbesondere um die Jahre 1955 -1962. Zweitens: Warum passierte es, oder besser: Wie konnte so etwas passieren? Und drittens: Worin genau unterschied sich im Laufe der Zeit die Gruppe um Paul Schäfer und Hugo Baar von allen anderen vergleichbaren christlichen Bewegungen der 50er-Jahre?

MD: Und können Sie schon erste Erkenntnisse teilen?

MG: Erst im Laufe der umfangreichen Recherchen und auch dann durch meinen Besuch im Frühjahr diesen Jahres in der ehemaligen Colonia Dignidad wurde mir deutlich, dass man Gronau nicht separat betrachten kann und darf, sondern es um alle Personen und Gemeinden geht, die sich Paul Schäfer und Hugo Baar anschlossen. Alle Ereignisse und Personen stehen in Wechselwirkung zueinander.

Als Pastor oder Theologe geht es mir dabei insbesondere um das religiöse Weltbild und die religiösen Praktiken der betroffenen Personen in den Gemeinden und der Hauptakteure Paul Schäfer und Hugo Baar. Der Forschungszeitraum umfasst, in Bezug auf die Anhänger*innen der späteren Sekte beziehungsweise die betroffenen Gemeinden, die Nachkriegszeit bis 1962; in Bezug auf Paul Schäfer und Hugo Baar deren Lebensgeschichte bis 1962. Die Folgezeit in Chile wird insofern mit einbezogen, als dass man anhand der späteren Früchte auf die Wurzeln schließen kann.

Es lässt sich nachweisen, dass sehr viele Gedanken und Aktivitäten der späteren Sekte in den 50er-Jahren Parallelen zu den frommen christlichen evangelischen Kreisen der damaligen Zeit aufweisen. Die Herausforderung besteht nun darin, herauszukristallisieren, worin genau das Spezifikum bestand, sodass aus der Anhängerschaft Schäfer/Baar eine Sekte entstehen konnte.

MD: Welche Ziele verfolgen Sie mit Ihren Nachforschungen?

MG: Die Zielsetzung der Forschungsarbeit und einer beabsichtigten Publikation ist vielschichtig.

  1. Für unsere Gemeinde ist es wichtig, a) dass sie weiß, was damals passierte und dass sie sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzt und, b) dass sie sprachfähig ist, gegenüber der Außenwelt, die uns immer mit der Colonia Dignidad in Verbindung bringen wird.
  2. Das Gleiche gilt in geminderter Form für die anderen damals betroffenen Gemeinden und in ähnlicher Weise für den deutschen Baptismus.
  3. Den ehemaligen Bewohner*innen der Colonia Dignidad soll es ebenfalls helfen, ihre Wurzeln zu verstehen, um so vielleicht etwas besser mit ihrem Schicksal umgehen zu können.
  4. Die Bürger*innen der Stadt Gronau haben damals die schrecklichen Ereignisse hautnah miterlebt, denn es waren ihre Nachbar*innen, Arbeitskolleg*innen, Schulkamerad*innen und bisweilen auch ihre Verwandten. Auch sie haben ein Recht zu erfahren, was warum geschah.
  5. Die Geschichte der Colonia Dignidad wird sicherlich über Jahrzehnte ein Forschungsprojekt unterschiedlicher Disziplinen sein. Meine spezifische Sichtweise und Darbietung alter Dokumente soll anderen Forschenden in ihrem Bemühen eine Unterstützung sein.

Michael Gordon im Oncken-Archiv des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden

MD: Wie sieht es denn in den Kirchenarchiven aus? Mit welchem Bestand arbeiten Sie?

MG: Die Freikirchen haben nicht automatisch ein gepflegtes Kirchenarchiv noch eine*n Zuständige*n für alte Gemeindeakten. So ist es sehr mühselig und zeitraubend, entsprechende Dokumente zu finden oder zu erhalten und ich bin auf die Mithilfe anderer angewiesen. Am umfangreichsten ist sicherlich das Material aus Gronau, beziehungsweise das, was ich im Archiv unseres Gemeindebundes gefunden habe und das sich überwiegend auf Gronau bezieht. Insgesamt habe ich mittlerweile etliche 100 Seiten bisher nicht ausgewerteter Dokumente angesammelt.

MD: Wurden Sie bei Ihrer Dokumentensuche auch von älteren Gemeindemitgliedern und Zeitzeug*innen aus Gronau unterstützt?

MG: Den Grundstock bildet ein Ordner von Heinz Rahl, dessen Angehörige teilweise zur Colonia Dignidad gehörten. Er hatte mir den Ordner vor seinem Tod gegeben, zu einem Zeitpunkt, an dem ich mich aber erst wenig für die Colonia interessierte. Er enthält unter anderem Gronauer Zeitungsberichte aus den frühen 60er-Jahren und zwei interessante Briefe. Privatpersonen in Gronau besitzen sonst meistens keine relevanten Dokumente, zumal die allermeisten damals unmittelbar Betroffenen mittlerweile verstorben sind. Mündlich wird mir aber das ein oder andere erzählt.

Wie gesagt, alles sind kleine Details, die zusammen ein Gesamtbild ergeben werden.

MD: Gab es besonders unerwartete Materialfunde während Ihrer Recherche?

MG: Jedes neue Dokument ist wie ein Puzzleteil, welches das Bild nach und nach vervollständigt. So bekam ich vor einiger Zeit ein Dokument über Paul Schäfers Bemühen, in der Pfingstgemeinde Graz Einfluss zu nehmen. Kurz darauf fand ich in einer Autobiographie eines österreichischen Pfingstpredigers einen kurzen kritischen, persönlichen Bericht über seine Begegnung mit Paul Schäfer, der im Zusammenhang mit genau diesem Dokument steht. Zuletzt erhielt ich auch Einsicht in Protokolle von Baptistengemeinden aus dem Großraum Schwülper/Wasbüttel, die Aufschluss über die Zusammenarbeit mit Paul Schäfer geben. Wie gesagt, alles sind kleine Details, die zusammen ein Gesamtbild ergeben werden.

MD: Und zuletzt: Ist es auch anderen Forscher*innen und Interessierten möglich, in Ihren Gemeindearchiven zu der Frühgeschichte der Colonia Dignidad zu recherchieren? An wen können sich Interessierte denn am besten wenden?

MG: Ich beabsichtige nach einer Publikation, meine Dokumente einem Archiv zur weiteren Forschung zur Verfügung zu stellen. Alles andere ist leider schwierig, da das Meiste über persönliche Kontakte lief. Viele Kontakt wurden mir als Pastor aus der Baptistengemeinde Gronau, die unmittelbar betroffen war und ist, anvertraut.

(Michael Gordon beantwortete die Fragen schriftlich via Email.) 

Akteur*innen & Projekte/Interviews

“Ich bin mit dem laufenden Prozess der Aufarbeitung sehr unzufrieden.”

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“Ich bin mit dem laufenden Prozess der Aufarbeitung sehr unzufrieden.”

Die Not- und Interessengemeinschaft beim Treffen 2012, Jürgen Karwelat ist der vierte von links.

Jürgen Karwelat traf 1976 auf Dieter Maier. Dieser schlug ihm im Namen von Amnesty International die Recherche zu einer deutschen Sekte in Chile vor, in der sich laut Medienberichten chilenische politische Gefangene aufhalten sollten. Im Interview erzählt Jürgen Karwelat von seinen damaligen Recherche-Erlebnissen, der Gründung der “Not-und Interessengemeinschaft der Geschädigten der Colonia Dignidad” und seiner Enttäuschung über den Verlauf des gegenwärtigen Aufarbeitungsprozesses. 

Interview mit dem Mitgründer der “Not- und Interessengemeinschaft der Geschädigten der Colonia Dignidad” Jürgen Karwelat

Meike Dreckmann: Weißt du noch, wann und wie du zum ersten Mal von der Colonia Dignidad gehört hast?

Jürgen Karwelat: Das war im Herbst 1976. Ich hatte Zeit zwischen meinem Jurastudium an der Ruhr-Universität in Bochum und meiner Referendarzeit, die ich bei verschiedenen Stationen in Dortmund absolvieren wollte. Wir hatten mit Freund*innen einige Jahre zuvor eine Unterstützergruppe für chilenische politische Gefangene gegründet. Deshalb bin ich, ich glaube es war im September 1976, nach Frankfurt am Main zu Amnesty International gefahren, weil diese Gruppe die nach Deutschland geflüchteten Chilen*innen betreute. Ich traf dort auf Dieter Maier, dem ich anbot, für vier Monate in Frankfurt mitzuarbeiten. Dieter Maier lehnte zu meiner damals maßlosen Enttäuschung mein Angebot ab mit dem Argument, so viele Chilenen kämen zur Zeit nicht. Außerdem könnte ich kein Spanisch. Er gab mir dann aber einen kleinen Artikel der Süddeutschen Zeitung aus dem Jahr 1966, in dem über die Flucht eines gewissen Wolfgang Müller aus einem Gut einer deutschen Sekte in Chile berichtetet wurde. Dieter Maier meinte, es gäbe Hinweise darauf, dass in diesem Gut chilenische politische Gefangene festgehalten und gefoltert würden. Ich könnte doch versuchen, mehr über diese Gruppe zu erfahren.

Besonders eigenartig war meine Recherche in Siegburg.

MD: Du hast damals mit Dieter Maier für Amnesty International die berühmte Broschüre „Colonia Dignidad Deutsches Mustergut in Chile – ein Folterlager der DINA“ verfasst. Dabei hast du mit anderen die Recherche zur deutschen Vergangenheit der Schäfer-Sekte übernommen. Wie müssen sich die Leser*innen denn die damaligen Umstände vorstellen, mit denen ihr bei eurer Recherche-Arbeit zutun hattet?

JK: Der Zeitungsartikel war der Beginn einer dreimonatigen Recherche. Begonnen habe ich damit, in Dortmund im Zeitungsforschungsinstitut, alle verfügbaren Zeitungen durchzusehen, ob über die Flucht Wolfgang Müller berichtet wurde. Weil auch Regionalblätter berichtet hatten, entwickelte sich so langsam ein Mosaikbild mit Angaben über die Orte, aus denen die Mitglieder der Sekte stammten. Anschließend war ich für weitere Recherchen in Siegburg, Bonn, Gronau und Hamburg. Dort habe ich mit Journalist*innen, katholischen Priestern, evangelischen Pfarrern, mit Anwohner*innen und auch mit sehr vielen Verwandten gesprochen, die ihre Eltern, Geschwister oder weitere Verwandte an die Sekte verloren hatten. Sie haben mir auch Material, zum Beispiel Briefe und Zeitungsartikel gegeben. Teilweise war ich auch “verdeckt” unterwegs, wenn ich nicht erwähnte, dass ich für Amnesty International arbeitete, sondern vorgab, eine Diplomarbeit über die Sekte zu schreiben.

Besonders eigenartig war meine Recherche in Siegburg. Während die beiden Regionalzeitungen Siegburger Rundschau und Rhein-Sieg-Anzeiger kritisch über die Colonia Dignidad berichteten, stellte sich der CDU-Bürgermeister Adolf Herkenrath vor die Gruppe, deren deutscher Restteil in Siegburg wohnte und dort einen Lebensmittelladen betrieb. Es handele sich bei der Colonia Dignidad um eine wohltätige christliche Gemeinschaft, die zwar etwas verschroben sei, aber nur Gutes tue. Ganz anders sah das die Junge Union in Siegburg, die ihren Bürgermeister wegen seiner Haltung scharf angriff. Ich hatte bei meinen Recherchen auch etwas Angst, da ich immer mehr haarsträubende Tatsachen über brutale Zustände in der Colonia Dignidad erfuhr und auch die Zusammenarbeit der Sekte mit dem chilenischen Geheimdienst mir unheimlich und gefährlich erschien. Deshalb habe ich jeden Tag meine Mutter informiert, wo ich mich gerade befinde und was ich vorhabe, falls ich mich am nächsten Tag nicht bei ihr melde.

“Colonia Dignidad. Deutsches Mustergut in Chile – ein Folterlager der DINA.”

Das Verrückte war, dass ich in Hamburg bei einem Gespräch mit der Mutter eines Sektenmitglieds, das in Chile lebte, erfuhr, dass Wolfgang Müller in Verwandtenkreisen ebenfalls recherchierte. Ich habe mich mit ihm dann in einer Kneipe in Hamburg getroffen und durch vorsichtiges Nachfragen erfahren, dass er bei seinem Arbeitgeber, der Zeitschrift STERN, freigestellt sei, um über die Colonia Dignidad zu recherchieren, da der STERN zu diesem Thema eine Veröffentlichung plane. Das war der Beginn der Zusammenarbeit von Amnesty International und dem STERN, die zur zeitgleichen Veröffentlichung des STERN-Artikels und der Amnesty-Broschüre „Colonia Dignidad – Deutsches Mustergut in Chile, ein Folterlager der DINA“ am 21. März 1977 führte.

MD: Du bist außerdem auch Mitbegründer der “Not- und Interessengemeinschaft für die Geschädigten der Colonia Dignidad” gewesen. Wie kam es dazu, welche Anliegen hattet ihr konkret und wie erfolgreich war eure Arbeit?

JK: Nach der Veröffentlichung folgte, wie ich das befürchtet hatte, eine Klage der Sekte gegen uns und den STERN vor dem Landgericht Bonn. Die Sekte war so dreist, die von uns zusammengetragenen sehr dichten Aussagen und Indizien zu bestreiten. Vor dem Bonner Landgericht sagten ehemalige Häftlinge und sogar ein DINA-Agent aus, sodass das Thema aber immer wieder in den Medien aufgenommen wurde. Zum nächsten Knall kam es aber, als 1985 die Ehepaare Packmor und Hugo Baar, ehemals mit Paul Schäfer in der Führung der Sekte, aus der Colonia Dignidad flohen und vor der deutschen Botschaft über schwerste Menschenrechtsverletzungen und auch über Waffenschmuggel berichteten.

Paul Schäfer sollte genau wie die anderen Führungsmitglieder strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden.

MD: Und was passierte dann?

JK: Der Deutsche Bundestag griff dies mit gewisser Verzögerung auf und setzte im Februar 1988 eine Anhörung vor einem Unterausschuss des Deutschen Bundestages an. Wolfgang Müller und ich trommelten die uns bekannten Verwandten der Sektenmitglieder zusammen, damit sie an der öffentlichen Anhörung teilnahmen. Es kamen etwa 40 Leute zusammen. Wir haben in Bonn in einem Kloster gewohnt und am Vorabend der Anhörung beschlossen, den Betroffenenverein zu gründen. Der Name „Not-und Interessengemeinschaft der Geschädigten der Colonia Dignidad“ stammte von Wolfgang Müller, der inzwischen geheiratet und den Namen seiner Frau Kneese angenommen hatte. Die Satzung, die wir uns gegeben haben, stammte von mir. Ich habe Wert auf Basisdemokratie gelegt. Wir haben uns bewusst entschieden, wegen der Gefahr zu großer Bürokratie, den Verein nicht ins Vereinsregister einzutragen. Es gibt keinen Vorsitzenden. Wir haben damals fünf gleichberechtigte Sprecher gewählt. Einer davon war ich. Unser oberstes Ziel war, dass die Menschen, die in der Colonia Dignidad lebten, in freier Selbstbestimmung entscheiden sollten, wie sie leben. Paul Schäfer sollte genau wie die anderen Führungsmitglieder strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Auch die Aufklärung und Bestrafung der chilenischen Täter, die Folter und Mord begangen hatten, war Ziel der Not- und Interessengemeinschaft.

Jürgen Karwelat und Mitglieder der CD-Verwandtengruppe am 5.11.1988 in Siegburg. Die Gruppe hatte dort auf dem Platz vor dem Rathaus einen Informationsstand aufgestellt.

MD: Wie ging es dann weiter?

JK: Wir haben uns in den Folgejahren regelmäßig mindestens einmal im Jahr in Hannover oder Braunschweig getroffen. In Siegburg und Gronau haben wir Infoveranstaltungen gemacht und unzählige Interviews gegeben. Bei unserer Aktion in Siegburg kam es zur Konfrontation mit der Sekte, weil wir vor deren Lebensmittelladen unsere Flugblätter verteilt haben und die Sekte daraufhin die Polizei rief.

Leider haben die Aktivitäten der Not- und Interessengemeinschaft nicht den Skandal Colonia Dignidad beseitigt. Wir sind aber über Jahre dran geblieben und haben Bundestagsabgeordnete und das Auswärtige Amt mit Informationen und Protestbriefen versorgt und unser Unverständnis geäußert, dass die Menschenrechtsverletzungen, die in der Colonia Dignidad ja bis zum Verschwinden von Schäfer im Jahr 1997 weiter gingen, nicht unterbunden wurden. Als 2016 der Film „Colonia Dignidad – Es gibt kein Zurück“ in die Kinos kam und dadurch wieder Aufmerksamkeit auf die Colonia Dignidad gezogen wurde, waren wir auch wieder bei öffentlichen Diskussionen dabei und haben Bundestagsabgeordnete sensibilisiert.

Schäfer hat uns, zu Recht, ernst genommen.

MD: Im Februar 2019 habe ich in der Villa Baviera im Rahmen meines Dissertationsprojekts Interviews mit den dortigen Bewohner*innen geführt. Dabei erzählte mir ein Zeitzeuge, dass ihr in der Colonia Dignidad von Paul Schäfer und anderen immer abfällig als „Kot- und Interessengemeinschaft“ bezeichnet wurdet. Ich würde sagen, dass dieser Spottname zeigt, dass ihr an den richtigen Stellen Druck gemacht habt. Siehst du das auch so?*

JK: Wir wussten nicht, dass wir in der Colonia Dignidad als „Kot- und Interessengemeinschaft“ bezeichnet wurden. Wir wussten allerdings, dass Paul Schäfer und seine Führungsgruppe uns bei den Sektenmitgliedern schlecht gemacht hat und vor einem Kontakt mit uns gewarnt hat. Wir waren „vom Teufel“. Dies zeigt allerdings, dass unsere Arbeit Wirkung gehabt hat. Paul Schäfer hat uns, zu Recht, ernst genommen.

Frauen standen beim Sektenführer am untersten Ende der Rangfolge.

MD: Gemeinsam mit Heike Rittel hast du zuletzt die “Frauenprotokolle” veröffentlicht. In den Interviews mit den Frauen wird sehr deutlich, dass auch die Mädchen und Frauen in der Colonia Dignidad zu Opfern von sexualisierter Gewalt wurden. Welche Bedeutung hatte das Buch deiner Einschätzung nach für den Prozess der Aufarbeitung dieses Teils der Colonia-Geschichte?

JK: Das Buch lenkt die Aufmerksamkeit auf eine Tatsache, die lange ignoriert worden war, nämlich das spezielle Schicksal der Frauen in der Colonia Dignidad. Mädchen und Frauen sind, wie auch die Jungen und Männer, geschlagen, getreten, eingesperrt und mit Psychopharmaka vollgepumpt worden. Für die Frauen hatte das aber zum Teil drastischere Folgen als für die Männer. Viele Frauen wurden unfruchtbar und kämpfen heute mit dem, aus ihrer Sicht, sehr schlimmen Schicksal, keine Kinder bekommen zu haben. Frauen standen beim Sektenführer am untersten Ende der Rangfolge. Das haben wir vor der Veröffentlichung des Buchs mit den Interviews, die Heike Rittel gemacht hat, so nicht beachtet.

Hier wird eine Antragsbürokratie aufgebaut.

MD: Wo siehst du die größten Herausforderungen für den laufenden Aufarbeitungsprozess und was wünschst du den verschiedenen deutschen und chilenischen Opfergruppen für die Zukunft?

 JK: Ich bin mit dem laufenden Prozess der Aufarbeitung und Wiedergutmachung sehr unzufrieden. Der Deutsche Bundestag hat im Juni 2017 weitreichende Beschlüsse zur Colonia Dignidad, bzw. zur Villa Baviera, wie sie sich heute nennt, gefasst. Es hapert aber mit der Umsetzung. Zur Entschädigung der Opfer der Sekte, also in erster Linie der deutschen Mitglieder der Sekte, ist zwar die Gründung eines Hilfsfonds beschlossen worden, der für 2019 mit einer Million Euro ausgestattet ist. Die Bedingungen zum Erhalt von maximal 10.000 Euro sind aber sehr bürokratisch ausgestaltet worden. Die Opfer empfinden es als bevormundend und inakzeptabel, dass sie genaue Rechenschaft darüber ablegen müssen, was sie mit dem versprochenen Geld machen. Die Menschen sind sehr arm und haben wegen der jahrelangen Zwangsarbeit keine Rentenansprüche erarbeitet. Das ist ihr Hauptproblem. Geld wird nur gewährt, wenn es verwendet wird, um noch bestehende Defizite, die durch den Aufenthalt in der Colonia Dignidad entstanden sind und noch weiter bestehen, beseitigt oder gelindert werden. Hier wird eine Antragsbürokratie aufgebaut. Klarer und einfacher wäre es gewesen, jedes Opfer hätte den Betrag zur eigenständigen freien Verwendung als Anerkennung der erlittenen Leiden erhalten, ähnlich den Zwangsarbeitern aus Osteuropa, denen man auch keine Vorschriften über die Verwendung des Geldes gemacht hat. In diesem Sinne haben wir bei den Bundestagsabgeordneten und dem Auswärtigen Amt interveniert. Eine Rückmeldung haben wir aber leider nicht erhalten.

Interview mit Dr. Elke Gryglewski über das geplante Gedenkstättenprojekt in der Villa Baviera

Die Schaffung einer Begegnungs- und Erinnerungsstätte in der Villa Baviera kommt meines Erachtens leider auch nicht richtig voran. Auch für die chilenischen Folteropfer muss dringend etwas getan werden. Wir sehen auch keine Aktivitäten, dass nach dem von den Führungsmitgliedern versteckten Geld gefahndet wird. In der Karibik soll Paul Schäfer viel Geld „gebunkert“ haben. Einzig positiv zu bewerten ist der Start des auch von uns begrüßten Oral-History-Projekts der Freien Universität Berlin. Es sollen in den nächsten drei Jahren ca. 50 Interviews mit ehemaligen Sektenmitgliedern, chilenischen Opfern und Aktivist*innen geführt werden, um die Colonia Dignidad wissenschaftlich zu dokumentieren und einen Teil dieser Interviews für die geplante Begegnungs- und Erinnerungsstätte zu nutzen.

MD: Und wie geht es mit der Arbeit der Not- und Interessengemeinschaft weiter?

JK: Eines kann man sagen, die Not- und Interessengemeinschaft, vor 31 Jahren gegründet, ist kleiner geworden, einige unserer Mitglieder sind schon sehr alt, einige sind gestorben. Wir machen aber weiter, um eine gerechte Lösung für die Opfer der Colonia Dignidad zu schaffen.

(Jürgen Karwelat beantwortete die Fragen schriftlich via Email.) 

*Aktualisierung am 20. August 2019 um 10:18 Uhr: Als Reaktion auf dieses Interview erhielt ich eine Email, in der ich darauf hingewiesen wurde, dass Paul Schäfer nicht nur von der “Kot- und Interessengemeinschaft”, sondern von der “Kot- und Fäkaliengemeinschaft” gesprochen hatte, um die Arbeit der “Not- und Interessengemeinschaft der Geschädigten der Colonia Dignidad” zu diskreditieren. 

Akteur*innen & Projekte/Interviews

“Wir haben es mit einem in hohem Maße komplexen Prozess zu tun.”

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“Wir haben es mit einem in hohem Maße komplexen Prozess zu tun.”

Der Gedenkstättenexpertin Dr. Elke Gryglewski ist es in den vergangenen drei Jahren langsam gelungen, alle beteiligten Opfergruppen der ehemaligen Colonia Dignidad an einen Tisch zu bekommen. Im Interview berichtet sie von ihrer persönlichen Beziehung zu Chile, Erinnerungskonkurrenzen unter den Opfergruppen, ihrer erfolgreichen Anti-Bias-Arbeit und den nächsten Schritten in diesem komplexen Prozess des Aufbaus einer Gedenkstätte in der ehemaligen Colonia Dignidad. 

Die stellvertretende Leiterin der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz Dr. Elke Gryglewski im Interview

Meike Dreckmann: Erinnern Sie sich noch daran, wann Sie das erste Mal von der Colonia Dignidad gehört haben?

Elke Gryglewski: Das erste Mal habe ich in den 1980er-Jahren von der Colonia Dignidad gehört, als ich bei Amnesty International tätig war. Bewusst habe ich über die Colonia gelesen, als ich 1992 in Chile studiert und meine Diplomarbeit über die deutschen Einflüsse auf die chilenischen Streitkräfte vorbereitet habe. Ein kurzes Kapitel habe ich dann auch der Colonia gewidmet.

MD: Wie ist Ihre persönliche Beziehung zu Chile?

EG: Von 1970 bis 1979 bin ich in Bolivien aufgewachsen und zur Schule gegangen. Damals war die deutsche Gemeinde sehr konservativ. Als mir im Rahmen des Studiums die Möglichkeit geboten wurde, mit einem Stipendium in Südamerika zu studieren, wollte ich in ein Land, wo ich mir einen neuen Freundeskreis würde aufbauen können und die Menschen mir nicht mit dem Blick auf meinen Vater, den ehemaligen Pastor der deutschen Gemeinde, begegnen würden. 1998 haben wir von der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz gemeinsam mit der Stiftung Topographie des Terrors eine Tagung zum Vergleich des Umgangs mit der Vergangenheit in Chile, Argentinien, Deutschland 1945 und 1989, Polen und Südafrika organisiert. Dabei sind berufliche Kontakte geknüpft worden. Diese wurden über die Städtepartnerschaft Berlin – Buenos Aires bei Tagungen zur Erinnerungskultur, bei denen auch chilenische Einrichtungen vertreten waren, intensiviert. So bin ich seit Ende der 1990er-Jahre regelmäßig in Kontakt mit chilenischen Gedenkstätten.

MD: Sie haben 2016 das erste Seminar, das eine Gedenkstätte auf dem Gelände der Villa Baviera zum Ziel hatte, geplant und geleitet. Worum ging es in diesem ersten Seminar, wer hat teilgenommen und was war Ihr Eindruck nach diesem Auftakttreffen?

EG: Im Rahmen einer Veranstaltungsreihe mit den Angehörigen der in der Colonia Verschwundenen und in der Colonia Verhafteten und Gefolterten, lernte ich Bewohner*innen der ehemaligen Colonia/heutigen Villa Baviera kennen. In den Gesprächen wurden die nachvollziehbar verhärteten Fronten deutlich. So entstand die Idee, unterschiedliche Betroffene nach Berlin zu holen und dort zu einem ganz anderen Kontext, dem Umgang mit der NS-Vergangenheit, ins Gespräch zu bringen. In der Regel nehmen die Besucher*innen in Gedenkstätten das ihnen Präsentierte vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrungen wahr. Ausschlag für den Zeitpunkt des Seminars gab dann die Premiere des Films „Colonia Dignidad – Es gibt kein Zurück“ von Florian Gallenberger. Bei dem Seminar sollten die Eingeladenen soweit möglich ins Gespräch kommen, sie sollten Erinnerungsorte in Berlin und Umgebung kennenlernen, anhand derer man strukturell vergleichbare Herausforderungen würde diskutieren können, wie sie in der heutigen Villa Baviera existieren. Zum Beispiel besuchten wir das Museum und die Gedenkstätte Sachsenhausen, weil der Direktor Prof. Günter Morsch den Teilnehmenden von seinem dezentralen Ausstellungskonzept berichten konnte. Ein Konzept, das entstanden war vor dem Hintergrund zweiter Opfergruppen am historischen Ort und den sich daraus ergebenden Erinnerungskonkurrenzen. Im Rahmen des Seminars sprach außerdem auch der Leiter der Stiftung niedersächsischer Gedenkstätten, Dr. Jens-Christian Wagner, über die Funktion von und den Umgang mit Zeitzeug*innen im Rahmen von Gedenkstättenarbeit.

Damit der Erfolg dieser Veranstaltung sich nicht in Frustration umwandelt, ist wichtig, dass wir bei unserem nächsten Besuch konkrete Ideen zur Diskussion stellen können.

MD: Wie ging es danach weiter?

EG: Bei dem Seminar wurde deutlicher, was man sich vorher schon hätte denken können – dass wir es mit einem in hohem Maße komplexen Prozess zu tun haben würden. Dennoch gelangen erste Gespräche, die Grundlage für die Seminare in den folgenden Jahren waren. Es ist nie ein Prozess gewesen, der sich stetig nach vorne entwickelt hat. Eher haben wir uns immer fünf Schritte nach vorne und dann wieder zwei oder drei zurückbewegt. Ganz bei Null sind wir nie wieder gelandet. Seither haben wir jedes Jahr eine etwa einwöchige Veranstaltungsreihe von Workshops und Seminaren durchgeführt. Ziele dieser Veranstaltungen waren immer, Transparenz zu schaffen für alle Beteiligten, die Meinungen der Betroffenen einzuholen und die unterschiedlichen Betroffenen miteinander ins Gespräch zu bringen. Im Dezember 2018 haben wir es im Rahmen eines OpenSpace/eines Weltcafés in Talca tatsächlich geschafft, alle unterschiedlichen Gruppen (ehemalige und aktuelle Bewohner*innen der Colonia Dignidad/Villa Baviera, chilenische Adoptivkinder, chilenische Missbrauchsopfer, Angehörige der Verschwundenen und ehemalige politische Häftlinge) in ein Gespräch zu bringen. Damit der Erfolg dieser Veranstaltung sich nicht in Frustration umwandelt, ist wichtig, dass wir bei unserem nächsten Besuch konkrete Ideen zur Diskussion stellen können.

MD: Als Expertin für Gedenkstättenarbeit kennen Sie den komplexen Aushandlungsprozess, den ein solches Entstehungsverfahren in der Regel auch an anderen Gedenkorten begleitet hat. Wie unterscheidet sich diese Transitionsphase in der Villa Baviera von anderen Orten? Inwiefern ist sie vergleichbar mit anderen?

EG: Vergleichbar zu anderen Orten ist die Komplexität der Situation: unterschiedliche Opfergruppen, die bis zu einem bestimmten Grad zueinander in Konkurrenz stehen. Vergleichbar ist auch, wenn man an die 1950er/1960er-Jahre in der Bundesrepublik denkt, dass es zahlreiche Stimmen gibt, die darauf drängen, nicht an die Vergangenheit zu denken. Sie möchten den Ort eher mit neuen, vermeintlich positiven Narrativen und Bildern in Verbindung bringen.

Der Unterschied liegt meines Erachtens vor allem darin, dass die Sozialisation der Bewohner*innen (auch der ehemaligen) der Villa Baviera unterschwellig immer eine Rolle spielt. Bis wir in der Villa übernachtet haben, war uns beispielsweise nicht klar, wie stark die frühen Nachkriegsdiskurse die Sichtweise der Bewohner*innen beeinflussen. Traditionen des Antikommunismus wurden nicht nur von Schäfer genutzt, um die Bewohner*innen der Colonia gegen die chilenische Linke aufzuhetzen, sie hatten auch Auswirkungen darauf, wie einzelne Männer in unserem Team betrachtet wurden. Also zum Beispiel: Wer Bart trägt, ist Kommunist. Auf der Ebene von Kommunikation hat die Sozialisation eine immense Auswirkung: Ihr Leben lang sind die Bewohner*innen dazu angehalten worden, andere zu denunzieren, um sich selber zu schützen. Dieses System von Gerüchten, über andere zu sprechen und vermeintliche Informationen weiterzugeben – das erschwert eine Arbeit für einen Erinnerungsort erheblich.

MD: Wie konnte Ihnen die langjährige Berufserfahrung in der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz für Ihre Arbeit mit den Opfergruppen der Colonia Dignidad helfen?

EG: Hilfreich war mit Sicherheit das Wissen um die Schwierigkeit bis hin zu Unwillen, sich mit einer gewaltbelasteten Vergangenheit auseinanderzusetzen. Das hat mich, glaube ich, an manche Situationen weniger aufgeregt herangehen lassen und letztlich auch die Betroffenen/Beteiligten merken lassen, dass es möglich ist, unterschiedliche Positionen zu einer Frage zu haben, sie kontrovers zu diskutieren (gerne auch emotional) und dennoch an einem Tisch zu sitzen. Hilfreich war außerdem die Erfahrung aus der Anti-bias-Arbeit. Wir haben sehr viele Methoden der Gestaltpädagogik und Anti-bias-Arbeit genutzt. Alle Gruppen empfanden es als hilfreich, wegzugehen von den herkömmlichen Gesprächsrunden, in denen manche nicht aufhörten zu sprechen und sie das Gefühl hatten, alles drehe sich im Kreis. Besonders wichtig waren die Erfahrungen durch die Seminare von „Verunsichernde Orte“, einem Modellprojekt, im Rahmen dessen Übungen entwickelt wurden, anhand derer Gedenkstättenmitarbeitende ihre Arbeit reflektieren können. Ich habe mit Erlaubnis der Autor*innen einige der Übungen für unsere Zwecke abgewandelt.

MD: Wie würden Sie die Villa Baviera als Erinnerungsort charakterisieren?

EG: Die Villa Baviera ist kein Erinnerungsort – oder höchstens in dem Sinne, wie Berlin einer ist. Die besonders geschichtsträchtigen Gebäude wird man von dem Rest der Siedlung abgrenzen (auch organisatorisch), dann kann man von der Gedenkstätte Colonia Dignidad in dem Ort Villa Baviera sprechen. Dass es in dem Dorf Villa Baviera dann auch Restaurants/Bistros/Cafés geben muss, wo sich Besucher*innen verpflegen können, scheint mir logisch. Alternativ wäre ein von der Gedenkstätte betriebenes Café/Restaurant, was aber nicht in einem der historisch bedeutsamen Gebäude sein könnte.

Die Mehrheit der Besucher*innen möchte historische Informationen und Emotionen – in der Regel in einem vertretbaren Verhältnis.

MD: Könnte man Ihrer Meinung nach von einem Tourismusbetrieb mit Gedenkorten oder von einem Gedenkort mit Tourismusbetrieb sprechen?

EG: Natürlich sind Besucher*innen von Gedenkstätten vielfach auch Tourist*innen. Nehmen wir die großen KZ-Gedenkstätten in Deutschland oder auch die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, wo die ausländischen Besucher*innen einen größeren Anteil ausmachen, als die Gäste aus Deutschland. Aber da die Häftlinge an diesen Orten sehr international zusammengesetzt waren, oder die Wannsee-Konferenz alle Jüdinnen und Juden Europas im Blick hatte, ist das auch logisch. Entscheidender ist, was die Gäste erwarten. Erwarten sie historische Informationen in für sie nachvollziehbar aufbereiteten Ausstellungen oder erwarten sie ein Gruselkabinett? Die Mehrheit der Besucher*innen möchte historische Informationen und Emotionen – in der Regel in einem vertretbaren Verhältnis. Vor allem aber lassen sie sich von den Mitarbeitenden der Gedenkstätten so betreuen, dass die Geschichte des Ortes und die Würde der Opfer berücksichtigt werden. So wie aktuell der Tourismus in der Villa Baviera gestaltet ist, ist das noch nicht möglich – es wäre aber auch eine Überforderung, das von den Bewohner*innen zu erwarten. Dazu bedarf es unterschiedlicher beruflicher Kompetenzen und vor allem richtige Rahmenbedingungen.

MD: In der medialen Berichterstattung wird der Tourismus- und Restaurantbetrieb in der Villa Baviera häufig scharf als Opferverhöhnung kritisiert. Wie kam es Ihres Erachtens dazu, dass sich mit dem „Zippelhaus“ einer der Schauplätze der Schäfer’schen Gewaltexzesse in ein Restaurant verwandelte?

EG: Meines Wissens ist den Bewohner*innen der Villa Baviera empfohlen worden, hier ein Restaurant einzurichten – mit dem Argument, die Chilen*innen lieben dieses Klischee der Deutschen. Also Bier, Sauerkraut, Lederhosen und solche Dinge.

MD: Auch unter den Bewohner*innen der Villa Baviera gehen die Meinungen auseinander: Während die einen sich eine Schließung des Restaurantbetriebes wünschen, sehen andere darin ein Symbol für wieder- oder neugewonnene Gestaltungsfreiheit von der Schäfer-Diktatur. Wo stehen Sie in diesem Diskurs?

EG: Seitdem ich mit den Bewohner*innen im Gespräch bin, habe ich immer deutlich gemacht, dass ich es für problematisch halte, das Restaurant im “Zippelhaus” zu führen. Für sie selber ist es ein Ort, der mit schwierigen Erinnerungen verbunden ist. Ich habe in den letzten vier Jahren fast von jedem/jeder Gesprächspartner*in Erfahrungen von Demütigung und Schlägen gehört, die an diesen Ort gekoppelt sind. Neugewonnene Freiheit ist ausgesprochen wichtig. Sie sollte aber an anderen Dingen festgemacht werden können.

Das größte Konfliktpotential besteht in der Sorge, der Ort könnte von der Villa Baviera verantwortet werden und nicht frei zugängig sein.

MD: Wo sind sich die chilenischen und deutschen Opfergruppen einig; wo herrscht das größte Konfliktpotenzial?

EG: Sie sind sich darin einig, dass sie wollen, dass aus der Geschichte der Colonia Dignidad gelernt wird. Alle wollen einen Ort, wo sie ihre Angehörigen (die Fosas (dt.: Massengräber)) oder ihr Leid (das “Zippelhaus” oder der Kartoffelkeller) betrauern/erinnern können. Sie waren sich auch einig darin, dass ihre Geschichte nicht zusammen erzählt, sondern an den spezifischen Orten präsentiert werden soll. Das größte Konfliktpotential besteht in der Sorge, der Ort könnte von der Villa Baviera verantwortet werden und nicht frei zugängig sein.

MD: Wie ist es Ihnen überhaupt gelungen, die Gruppen an einen Tisch zu bringen?

EG: Es ist gelungen, die unterschiedlichen Gruppen an einen Tisch zu bekommen, weil es eben keine homogenen Gruppen sind. Innerhalb der Gruppen gibt es auch Meinungsunterschiede – und darin liegt die Chance: die Schnittmengen manchmal anders zu definieren und eben nicht nur über die Frage, zu welcher Gruppe jemand gehört.

MD: Welche Themenbereiche zur Colonia Dignidad sollten Ihrer Meinung nach stärker in den Fokus wissenschaftlicher Forschung gelangen, um damit gegebenenfalls auch das inhaltliche Fundament der geplanten Gedenkstätte zu stärken?

EG: Mein Eindruck ist, dass aktuell einige gute und wichtige Arbeiten zur Colonia entstehen. Sie werden die Arbeit zur Gründung einer Gedenkstätte und zur Arbeit der Gedenkstätte selbst sicher unterstützen. So können die zusammengetragenen Quellen wichtiges Material für eine Ausstellung sein oder die geführten Interviews auch in die Ausstellungen aufgenommen werden. Darüber hinaus ist aber mein Eindruck, dass eine Gedenkstätte wichtig wäre, um die Diskurse in der Gesellschaft voranzubringen. Das können nämlich nicht die wissenschaftlichen Arbeiten.

MD: Was ist der nächste Schritt im Planungsprozess der Gedenkstätte?

EG: Eigentlich soll jetzt von zwei deutschen und zwei chilenischen Expert*innen ein Konzept für eine Gedenkstätte geschrieben werden. Als Expert*innen stehen im Moment aber nur Dr. Jens-Christian Wagner, Diego Matte und ich fest. Ich hoffe, dass die zweite chilenische Person bald gefunden wird und wir im September/Oktober unser Konzept formulieren können.

MD: Vielen Dank für Ihre Zeit.

Dr. Elke Gryglewski beantwortete die Fragen schriftlich via Email. 

Akteur*innen & Projekte/Interviews

“So geschichtspolitisch umkämpft wie die Colonia ist kaum ein anderer Ort.”

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“So geschichtspolitisch umkämpft wie die Colonia ist kaum ein anderer Ort.”

Der Historiker Dr. Jens-Christian Wagner leitet seit 2014 die Stiftung niedersächsische Gedenkstätten. Seit 2017 ist er Teil einer Expertengruppe, die eine Gedenkstätte auf dem Gelände der ehemaligen Colonia Dignidad konzipieren soll. Im Interview erzählt er von seiner Arbeit in diesem geschichtspolitisch umkämpften Ort.

Interview mit Dr. Jens-Christian Wagner über die geplante Gedenkstätte in der Ex-Colonia Dignidad

Meike Dreckmann: Seit wann und wie genau sind Sie im erinnerungskulturellen Feld der ehemaligen Colonia Dignidad tätig?

Jens-Christian Wagner: Das erste Seminar mit ehemaligen Bewohner*innen der Villa Baviera sowie mit ehemaligen Folteropfern und Angehörigen von Verschwundenen habe ich Anfang 2017 in der Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz mitgemacht. Danach war ich bislang an drei Seminaren in Chile beteiligt, die teilweise auch in der Villa Baviera stattfanden. Zusätzlich war ich im Sommer 2018 in Chile und in Villa Baviera, um mir zusammen mit Abgeordneten des Deutschen Bundestages ein Bild vor Ort zu machen und um der gemischten Kommission der deutschen und der chilenischen Regierung zusammen mit Elke Gryglewski und zwei chilenischen Kolleg*innen unsere Vorstellungen vorzustellen, wie ein Gedenk- und Dokumentationsort zur Geschichte der Colonia Dignidad und der unterschiedlichen Opfergruppen aussehen könnte. Leider geht es mit der Einrichtung einer Gedenkstätte bzw. eines Dokumentationsortes nicht so schnell, wie sich das die meisten Beteiligten wünschen.

MD: Woran liegt das?

JCW: Zum einen liegt das an unterschiedlichen Vorstellungen der sehr heterogenen Opfergruppen, noch mehr aber, wie ich es sehe, an unterschiedlichen Vorstellungen auf deutscher und chilenischer Seite auch innerhalb der gemischten Kommission. Dabei muss man berücksichtigen, dass auf chilenischer Seite während des 2016 begonnenen gemeinsamen Prozesses ein Regierungswechsel stattgefunden hat. Statt von einer Mitte-Links-Koalition wird das Land nun von einer Koalition regiert, der auch frühere Pinochet-Anhänger angehören. Die kritische Auseinandersetzung mit der Diktatur und ihren Verbrechen, von denen etliche ja auch in der Colonia Dignidad begangen wurden, ist noch lange nicht Konsens zwischen den politischen Lagern in Chile – etwas, was wir aus dem Deutschland der 1950er und 1960er Jahre ja auch gut kennen. Ein weiterer sicherlich erschwerender Punkt sind die unsicheren oder ungeklärten Eigentumsverhältnisse der heutigen Bewohner*innen der Villa Baviera und derjenigen, die sich in Chile einen anderen Wohnort gesucht haben. Insbesondere letztere leben in sehr prekären Verhältnissen und erhoffen sich von dem Diskussionsprozess um eine Gedenkstätte nicht nur einen kritischen Umgang mit der Geschichte, der auch eigenes Leiden anerkennt, sondern vor allem erst einmal eine Lösung für ihre wirtschaftlichen Probleme.

Elke Gryglewski und ich stehen jedenfalls in den Startlöchern und haben eigentlich auch recht genaue Vorstellungen, wie ein solcher Ort aussehen könnte – Vorstellungen, die mit den verschiedenen Opfergruppen und auch den heutigen Bewohner*innen der Villa Baviera sowie en Ex-Bewohner*innen mehrfach diskutiert wurden.

Im August 2018 wurden Elke Gryglewski und ich sowie die beiden chilenischen Kolleg*innen von der gemischten Regierungskommission beauftragt, ein Konzept für eine Gedenkstätte bzw. einen Gedenkort zur Geschichte der Colonia Dignidad zu erarbeiten. Ich hoffe, dass das nach einem personellen Wechsel auf chilenischer Seite nun bald geschehen kann. Elke Gryglewski und ich stehen jedenfalls in den Startlöchern und haben eigentlich auch recht genaue Vorstellungen, wie ein solcher Ort aussehen könnte – Vorstellungen, die mit den verschiedenen Opfergruppen und auch den heutigen Bewohner*innen der Villa Baviera sowie en Ex-Bewohner*innen mehrfach diskutiert wurden. Im Kern geht es darum, vor Ort innerhalb der heutigen Villa Baviera an den konkreten historischen Orten/Gebäuden an die jeweiligen Opfergruppen zu erinnern, die dort gelitten haben: den Bewohner*innen, die zwischen 1961 und Anfang der 2000er Jahre Opfer von Folter sowie physischer und psychischer Gewalt in der Colonia Dignidad wurden (insbesondere den Kindern, die in den 1960er Jahren von Deutschland in die Colonia  gebracht wurden und dort Opfer systematischen sexuellen Missbrauchs wurden; den chilenischen Oppositionellen, die während der Diktatur in den 1970er Jahren in die Colonia verschleppt und dort gefoltert und in vielen Fällen auch ermordet wurden; den chilenischen Missbrauchsopfern der 1980er und 1990er Jahre. Sie alle haben ein Recht auf differenzierende Würdigung und Anerkennung.)

Die Angehörigen brauchen einen Ort, an dem sie trauern können.

MD: Was macht Ihrer Meinung nach gelungene Gedenkstättenarbeit aus? Wann „reicht“ ein Denkmal und wann ist eine Gedenkstätte nötig?

JCW: Ein Denkmal hat eine würdigende Funktion für diejenigen, die damit geehrt werden oder an die erinnert werden soll. Meine Vorstellung von Gedenkstättenarbeit geht weiter: Es geht darum, kritisches Geschichtsbewusstsein und historisches Urteilsvermögen zu vermitteln: Gedenken braucht Wissen und Reflexion. Das geht nur in einer „arbeitenden“ Gedenkstätte mit Forschungs- und vor allem Bildungsarbeit sowie der dafür nötigen Infrastruktur wie Archiv und vor allem Dauerausstellung. Und natürlich geht es darum, die historischen Orte als Exponate zu zeigen und zugänglich zu machen – als „Schaustücke“ und zugleich als Beweismittel für die dort begangenen Verbrechen. Dafür brauchen wir die historischen Orte, und auch deshalb ist es so wichtig, dass die Dokumentationsstätte nicht irgendwo, etwa in Santiago, sondern in der heutigen Villa Baviera eingerichtet wird.

Doch trotz der Wichtigkeit einer auf Reflexion setzenden Dokumentationsstätte ist das Gedenken wichtig – insbesondere für die Angehörigen der Regimegegner, die in der Colonia von der DINA unter tätiger Beihilfe der Colonia-Führung ermordet wurden und als „verschwunden“ gelten. Die Angehörigen brauchen einen Ort, an dem sie trauern können.

MD: Während meines diesjährigen Forschungsaufenthaltes in der Villa Baviera habe ich etwas Interessantes erlebt: Einige Zeitzeug*innen, die mir vor drei Jahren sagten, dass es wichtig sei, „einen Schlussstrich unter die Vergangenheit“ zu ziehen, wünschten sich im Februar 2019 das Gegenteil. Sie nahmen auch Bezug auf die von Elke Gryglewski und Ihnen organisierten Gruppen-Seminare und erläuterten mir die Notwendigkeit einer Gedenkstätte auf dem Gelände der heutigen Villa Baviera. Was ist in den letzten drei Jahren passiert? Kann der Sinneswandel Einzelner als Erfolg Ihrer partizipativen Gedenkstättenkonzeption gewertet werden?

JCW:  Ja, ich glaube, das ist ein Erfolg, der allen Beteiligten zuzuschreiben ist – vor allem den Seminarteilnehmer*innen aus verschiedenen Opfergruppen, die es sich wirklich nicht einfach gemacht haben.

In der deutschen Gedenkstättenarbeit sind wir bisweilen zu autoreferentiell.

MD: Was gefällt Ihnen an Ihrer Arbeit zu dem Thema und was waren und sind Ihre größten Herausforderungen in dem erinnerungskulturellen Feld rund um die Villa Baviera?

JCW: Es ist immer gut, über den Tellerrand zu schauen. In der deutschen Gedenkstättenarbeit sind wir bisweilen zu autoreferentiell. Da ist es gut, auf andere geschichtspolitische Konstellationen zu schauen – und auch von anderen zu lernen. Sehr beeindruckt bin ich etwa von der Arbeit des Museo de la Memoria in Santiago, mit dem wir immer wieder kooperiert haben. Die gegenwartsbezogene und in die Gesellschaft hinein gerichtete Arbeit ist beispielhaft.

Das erinnerungskulturelle Feld rund um die ehemaligen Colonia Dignidad ist aus diversen Gründen außerordentlich schwierig: 1. Sowohl die deutschen als auch die chilenische Regierungen haben sich lange Zeit schwer damit getan, zu ihrer Verantwortung zu stehen. 2. Die Opfergruppen sind sehr heterogen und haben nicht unbedingt identische Interessen. 3. Unter den Bewohner*innen der Villa Baviera, den sogenannten Colonos, gibt es Täter, Opfer und Personen, die beides sind. 4. Die heutigen Bewohner*innen und die Ex-Colonos haben unterschiedliche Interessen. 5. Unter den Colonos und Ex-Colonos herrscht bis heute ein anerzogenes tiefes Misstrauen untereinander und eine gewisse Neigung zu einem denunziatorischen Verhalten. 6. Auch unter den chilenischen Opferverbänden gibt es Spannungen, die politisch und sozial bedingt sind (die bäuerlich geprägten Opfergruppen aus der Umgebung von Parral haben andere Interessen als die Gruppen aus Santiago, in denen auch mittelständische Akademiker*innen vertreten sind). 7. Viel zu wenig präsent ist bislang die Gruppe der chilenischen Missbrauchsopfer, die sich aus verständlichen Gründen scheuen, öffentlich zu agieren.

Diese unterschiedlichen Interessen unter einen Hut zu bekommen, ist fast unmöglich. Deshalb ist es so wichtig, dass die Gruppen einander wenigstens respektieren und das Leid der jeweils anderen anerkennen – und auch die Unterschiede anerkennen. Dazu haben die von Elke Gryglewski organisierten Seminare erfolgreich beigetragen.

Und die beschauliche Ruhe in der Villa Baviera bietet für die Bildungsarbeit gute Möglichkeiten für intensive Gruppenformate, insbesondere Mehrtagesveranstaltungen.

MD: Gibt es in Ihren Augen auch etwas, dass gegen eine Gedenkstätte vor Ort sprechen könnte?

JCW: Das einzige Argument, dass ich ansatzweise nachvollziehbar finde, ist das der Abgelegenheit in der Provinz. Allerdings ist das eine Frage der Perspektive: Von Santiago aus betrachtet mag das so sein. Von der Großstadt Concepción aus sieht das schon anders aus. Und die beschauliche Ruhe in der Villa Baviera bietet für die Bildungsarbeit gute Möglichkeiten für intensive Gruppenformate, insbesondere Mehrtagesveranstaltungen.

MD: Inwiefern unterscheiden sich Gedenkstätten in Chile von Gedenkstätten in Deutschland? Ist es schwierig im Hinblick auf kulturelle Unterschiede eine Gedenkstätte zu errichten, in der sich alle deutschen und chilenischen Opfergruppen repräsentiert fühlen?

JCW: Es gibt nicht nur kulturelle Unterschiede, sondern vor allem politisch-gesellschaftliche: In Chile liegt die Diktatur erst knapp 30 Jahre zurück, in Deutschland die NS-Diktatur 75 Jahre. In Deutschland gibt es bezogen auf den Nationalsozialismus kaum noch zeitgenössische Erfahrungen, in Chile dagegen leben Täter und Opfer noch, und das in einer Gesellschaft, die politisch tief gespalten ist. Unter diesen Umständen haben die Gedenkstätten noch sehr viel stärker die Funktion, historische Wahrheit in die Gesellschaft hineinzutragen. Dass die NS-Herrschaft mörderisch und verbrecherisch war und dass auch in der DDR Menschenrechte systematisch verletzt wurden, stellt in Deutschland kaum jemand in Zweifel – auch wenn um die Erinnerung an das SED-Unrecht, siehe etwa Hohenschönhausen, teils heftig gekämpft wird. Trotzdem käme in Deutschland vermutlich kaum eine Gedenkstätte auf die Idee, mit dem Slogan „verdad y justicia“ anzutreten – jedenfalls nicht in Gedenkstätten zu NS-Verbrechen–,weil es aus der NS-Zeit generationell bedingt kaum noch Schuldige gibt und weil die Anerkennung der nationalsozialistischen Verbrechen gesellschaftlicher Konsens ist – auch wenn er von rechter Seite zunehmend in Frage gestellt wird.

So isoliert wie oft behauptet war die Colonia Dignidad gar nicht.

MD: Welche inhaltlichen Schwerpunktthemen sollten in einer Gedenkstätte auf dem Gelände der Villa Baviera nach aktuellem Kenntnisstand unbedingt berücksichtigt werden?

JCW: Zunächst einmal müsste die Geschichte der Colonia Dignidad dargestellt werden – beginnend mit der Sektengründung in Deutschland. Auch das politische und gesellschaftliche Klima der Nachkriegszeit muss dabei thematisiert werden, insbesondere die Nachwirkung des Nationalsozialismus, die sich auch in der totalitären Praxis der Colonia Dignidad zeigte. Selbstverständlich ist das Klima totalitärer Kontrolle sowie psychischer und physischer Gewalt und der sexuelle Missbrauch zu thematisieren – auch unter Gender-Perspektive. Allein schon die Sprache, die sich in der Colonia Dignidad entwickelt hat, ist sehr aussagekräftig. Extrem wichtig ist es, die enge Verbindung der Sekte zum Pinochet-Regime und insbesondere zur DINA darzustellen, und das nicht nur in den 1970er Jahren, sondern bis zum Ende der Diktatur und darüber hinaus. Hier spielen die Folterungen und Morde an chilenischen Regimegegner*innen eine große Rolle. Auch der Missbrauch an Jugendlichen aus der Umgebung der Colonia muss thematisiert werden, wie überhaupt die Einbindung der Colonia in ihr räumliches und gesellschaftliches Umfeld gezeigt werden muss: So isoliert wie oft behauptet war die Colonia Dignidad gar nicht (allein schon wegen der vielfältigen Geschäftsbeziehungen nach „draußen“). Das bedeutet natürlich auch, dass es viele Mittäter*innen außerhalb gab. In diesem Zusammenhang ist schließlich auch die Rolle der deutschen Botschaft und des Auswärtigen Amtes zu hinterfragen.

MD: Wissen Sie von einem Ort auf dieser Erde, der vergleichbar wäre mit der Villa Baviera? Ihrer Geschichte und ihrer Gegenwart?

JCW: Mit ihrer sehr konkreten Geschichte ist die Colonia Dignidad bzw. Villa Baviera einzigartig, auch wenn es bekanntlich leider sehr viele Orte auf der Welt gibt, an denen andere Regime- und Gesellschaftsverbrechen begangen wurden. So vielschichtig und bis heute geschichtspolitisch umkämpft wie die Colonia Dignidad ist aber kaum ein anderer Ort.

MD: Vielen Dank für den Einblick in Ihre Arbeit und Sichtweisen.

Jens-Christian Wagner beantwortete mir die Fragen via Email. 

Akteur*innen & Projekte/Interviews

“Wenn plötzlich jemand anfängt zu reden.”

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“Wenn plötzlich jemand anfängt zu reden.”

Die Sonderpädagogin Heike Rittel nahm sich Auszeiten vom Lehrer-Beruf und reiste mehrmals in die ehemalige Colonia Dignidad nach Chile. Aus ihrem anfänglich privaten Interesse entwickelte sich über die Jahre ein Buch-Projekt, das als erste Publikation die Erfahrungen der weiblichen Sektenmitglieder in den Mittelpunkt stellt. Im Interview gibt sie einen Einblick in persönliche Herausforderungen, emotionale Begegnungen und Reaktionen auf die “Frauenprotokolle”.

Heike Rittel im Interview zu ihrem Buch über die Frauen der Colonia Dignidad

Meike Dreckmann: Im Jahr 2012 warst du im Rahmen einer privaten Chile-Reise zum ersten Mal in der Villa Baviera. Danach ließ dich das Thema nicht mehr los und es schlossen sich weitere Reisen für dich an. 2018 hast du dann gemeinsam mit Jürgen Karwelat das Buch „Lasst uns reden. Frauenprotokolle aus der Colonia Digniad“ im Schmetterling Verlag veröffentlicht. Wie ist die Idee für dieses Buch entstanden und wie kam es zu der Zusammenarbeit mit Jürgen Karwelat?

Heike Rittel: Wer als Deutscher durch Chile reist, stößt überall auf Spuren und Einflüsse Deutscher. Und so kommt man früher oder später auch nicht an den Spuren der ehemaligen Colonia Dignidad vorbei. Was bei diesem Thema sofort neugierig macht, ist die extrem unterschiedliche Bewertung der Berichtenden. Man findet bis heute in Chile genügend Menschen, die sich vor allem an gelungene Kulturprogramme und deftiges deutsches Essen in den Restaurants der Colonia erinnern und man hört auf der anderen Seite von den langjährigen Verbrechen an verschiedenen Opfergruppen. Mit dieser Neugier fuhren wir dorthin, um uns selbst ein Bild zu machen. Wir hatten uns vorher umfassend in Literatur und Medien informiert und waren so sicher, über ein gefestigtes und politisch korrektes Bild der Geschehnisse vor Ort zu verfügen.

Und dann ließ uns vor allem ein Satz aufhorchen, den wir nur allzu gut kannten: „Es war nicht alles schlecht.“ Da wurde uns plötzlich ein Spiegel vorgehalten, zu dem, was wir im Umgang mit der DDR-Geschichte von zu Hause kannten. Und aus dieser Erfahrung wollten wir keineswegs die Besserwisser von außen sein, sondern begannen erst einmal gründlich mit dem Zuhören. Schon das erste vertraute Gespräch mit Maria Schnellenkamp, der Tochter des Mitbegründers dieser Sekte, machte mich fassungslos. Zaghaft begann sie zu erzählen. Irgendwann wagte ich Fragen zu stellen.

Wir konnten hiesige Medien für das Thema interessieren und erste Lesungen fanden in Spremberg in kleinen Frauengruppen, der Volkssolidarität oder auch anderen Ortsgruppen statt. Parallel dazu lernte ich Jürgen Karwelat am Rande eines Treffens im Haus der Wannsee-Konferenz kennen. Jürgen lud uns anschließend zu einem Treffen der Not- und Interessengemeinschaft nach Hamburg ein. Auch dort las ich aus einem Protokoll. Nach jeder Lesung motivierte man mich zum Schreiben eines Buches. Dies tat ich dann im zweiten Sabbatjahr und bat Jürgen um die geschichtliche Einbettung.

Über die Jahre hatten wir auch schon vielfach Zeitzeugen aus der Villa Baviera bei uns zu Gast im Haus.

MD: Zur Zeit deiner ersten Reise in die Villa Baviera gab es ja noch keine Tourismus-Strukturen. Wie müssen sich die Leser*innen den Ablauf deiner Reisen in die Villa Baviera vorstellen? Wie haben die Menschen auf dich reagiert, wo hast du geschlafen, gegessen und gearbeitet?

HR: Während unserer ersten Reise schliefen wir auf dem Fundo im noch nicht fertigen Hotel in einem schönen Zimmer. Wir kamen sehr schnell mit den ehemaligen Sektenmitgliedern ins Gespräch. Sie hörten uns zu und wir ihnen noch viel lieber. Wir aßen allein oder mit ihnen im Zippelsaal und arbeiteten während der ersten Reise gar nicht. Während aller anderen Reisen schliefen wir immer privat bei den Leuten. Über die Jahre hatten wir auch schon vielfach Zeitzeugen aus der Villa Baviera bei uns zu Gast im Haus. Die Interviews führte ich meistens im Freihaus oder bei den Frauen zu Hause.

Die größte Herausforderung war für uns meine atheistische Erziehung und Denkweise.

MD: Wie hast du die Interviewpartnerinnen ausgewählt? Und was waren bei deiner Arbeit die größten Herausforderungen?

HR: Wichtig war mir der Querschnitt durch alle Altersgruppen und nach Möglichkeit auch verschiedene Lebenslinien. Die größte Herausforderung war für uns meine atheistische Erziehung und Denkweise. Unser gemeinsamer Glaube an das Gute im Menschen schaffte uns dann aber ein gutes Fundament im Miteinander. Wichtig war für die Frauen auch, dass sie das Protokoll nach jeder Interviewsitzung nochmals lesen durften. Daraus schöpften die Frauen – aus meiner Sicht- ein enormes Vertrauen.

Maria Schnellenkamp und Heike Rittel während eines Familienausfluges

MD: In den Frauenprotokollen sind die Geschichten einzelner Frauen in ihrer Rohform zu lesen. Sie sind zwar zur besseren Lesbarkeit redigiert, lassen die Leser*innen aber mit der Brutalität der Erfahrungen in der Colonia Dignidad allein. Ich gebe zu, dass ich mit diesen Protokollen, die häufig von sexualisierter Gewalterfahrung erzählen, emotional zu kämpfen hatte. Warum hast du dich dafür entschieden, die Interviews für sich stehend zu veröffentlichen?

HR: Ich wollte den Frauen die Möglichkeit geben, ihren entbehrungsreichen Lebensweg umfassend zu erzählen. Mir erschien eine zusätzliche Wertung überflüssig. Dies überlasse ich dem*r interessierten Leser*in. Hilfestellungen sind dafür sicher im Buch die geschichtliche Einbettung, der Zeitstrahl, aber auch die Begriffserklärung und das Personenregister.

Im Gegensatz zu den Erfahrungen der Männer denke ich, dass jede Frau, jedes Mädchen der Colonia Dignidad mit dieser Gewalterfahrung allein umgehen musste.

MD: In der bisherigen Berichterstattung zu der Geschichte der Colonia Dignidad wurden die Erfahrungen der Mädchen und Frauen mit sexualisierter Gewalt wenig berücksichtigt. Dein Buch stellt sie mit den Geschichten der Frauen in den Mittelpunkt. Was unterscheidet deiner Meinung nach die Erfahrungen der Frauen von denen der Männer in der Colonia Dignidad?

HR: Meiner Meinung nach stelle ich die sexualisierte Gewalt der Frauen in der ehemaligen Colonia Dignidad nicht in den Mittelpunkt des Buches. Alle Fragen waren mir gleichrangig. Und nach sexueller Gewalt fragte ich direkt gar nicht. Die Frauen erzählten erst nach einigen Jahren über diese persönlich besonders schrecklichen Erlebnisse, denn sie mussten mir hier enorm vertrauen, und als sich das Buchprojekt entwickelte, mussten sie sich darüber klarwerden, dass diese emotional stark belastenden, beschämenden Momente ihres Lebens nun öffentlich werden. Dies war ein Prozess, den ich mit jeder Frau ganz allein und individuell ging. Vielleicht half mir hier auch meine langjährige Arbeit als Sonderpädagogin. Im Gegensatz zu den Erfahrungen der Männer denke ich, dass jede Frau, jedes Mädchen der Colonia Dignidad mit dieser Gewalterfahrung allein umgehen musste. Wem sollten sie sich anvertrauen? Alles wurde sofort Schäfer erzählt und die Strafe, ob in Form von Redeverbot, Prügel vor der ganzen Gemeinschaft, Gruppenkeile oder langjährige Isolation wären die Folge gewesen. Die jüngeren männlichen Mitglieder der Colonia Dignidad ahnten untereinander, was sich im Zimmer von Schäfer abspielte; wenn z.B. einer als Sprinter über Nacht bei Schäfer schlafen durfte, Zuneigung erhielt, vielleicht sogar Schokolade, aber auch sexualisierte Gewalt erlitt.

Doch ich weiß auch von einer Frau, dass sie jetzt unter ihrer Aufrichtigkeit leidet.

MD: Während meines Forschungsaufenthaltes in der heutigen Villa Baviera habe ich im Februar 2019 etwas Interessantes erlebt: Frauen, die während meiner ersten Reise in die Villa Baviera im Jahr 2016 noch schüchtern vor Interview-Situationen davongelaufen waren, verhielten sich nun anders. Viele Zeitzeuginnen stellten sich mir recht stolz vor mit Sätzen wie: „Ich bin ja auch in dem Buch.“ oder „Meine Geschichte kennst du vielleicht aus dem Buch.“ Andere hingegen fühlen sich immer noch von den Älteren in der Villa Baviera für ihr Mitmachen verurteilt und deshalb etwas unwohl mit ihrer Entscheidung für ein Interview. Wie lautet denn deine persönliche Bilanz? Welchen Einfluss hatten die Frauenprotokolle innerhalb der Villa Baviera und auch außerhalb?

HR: Diese Protokolle haben die aktiven Frauen mehrheitlich enorm gestärkt. Doch ich weiß auch von einer Frau, dass sie jetzt unter ihrer Aufrichtigkeit leidet. Ihre Gruppentante lebt noch auf dem Fundo und verurteilte die Protokolle sehr harsch, täglich begegnen sie sich. Diese ängstliche Frau bleibt in solchen Situationen auch jetzt noch das kleine Kind, obwohl sie mittlerweile 60 Jahre alt ist. Dieses hierarchische Denken, verbunden mit der starken Angst, etwas falsch gemacht zu haben, ist in ihr leider wieder aufgekeimt. Ich erhielt aber auch Leserbriefe von ehemaligen Sektenmitgliedern, die nun in Deutschland leben, sich bei mir für das emotionale Buch bedankten und oft schrieben: „Vielen Dank für Ihre breite Sichtweise auf das Leben in der Colonia Dignidad. Ich habe ja gar nicht gewusst, dass so viele so viel aushalten mussten.“ Und hier liegt auch eine meiner weiteren Beobachtungen: Ob es nun die “Protokollfrauen” selbst oder ehemalige Sektenmitglieder sind, sie bleiben immer in der Betrachtung: „Das von damals habe ich ja gar nicht so gewusst.“ Natürlich nicht. Das wird dem*r Leser*in auch sehr schnell klar. Bei den Lesungen in Deutschland verneigen sich die Zuhörer*innen vor den “Protokollfrauen”, ihren Familien, ihrem Lebensmut, ihrer Lebenskraft und ihrem Leben, Arbeiten und Denken im Jetzt.

Heike Rittel im Interview mit Renate Malessa

MD: Welches waren deine emotionalsten Momente während des Buchprojektes?

HR: Unmöglich, alle Erlebnisse aufzuzählen. Neben atemberaubenden gemeinsamen Momenten in der wunderbaren Natur sind es immer wieder vor allem Gesprächsmomente, die verblüffen und beeindrucken. Wenn plötzlich jemand anfängt zu reden, der sich bisher komplett verweigert hatte. Wenn einem eine Frau, die man nun schon jahrelang zu kennen glaubt, plötzlich völlig neue Ungeheuerlichkeiten eröffnet, über die sie bisher nicht zu sprechen gewagt hatte. Wenn man scheinbar nebenbei um Rat gebeten wird zu Erziehungsfragen und Aufklärungsfragen bezüglich der Kinder, die uns banal erschienen, jedoch für die dort Lebenden aufgrund des Verbots von Familienleben einfach nicht zum Erfahrungsschatz gehören. Wenn man Widerstand erfährt, die Nachforschung und Aufklärung behindert wird und plötzlich stehen dort mutige Frauen solidarisch neben einem und lassen sich das Reden nicht mehr verbieten. Wenn man erfährt, wie jahrelanges persönliches Leiden ohne Rachegedanken und Hass verarbeitet werden. Und welch ambivalente Rolle der Glaube an Gott spielen kann, einerseits jahrzehntelang im Interesse der Unterdrücker und Peiniger, andererseits nun, um persönliche Stabilität und Souveränität im neugewonnenen freien Leben zu gewinnen.

MD: Was hat dich dein Buchprojekt gelehrt?

HR: Die Prozesse um die Entstehung des Buches haben mich einzigartig gelehrt, wie extrem wichtig und befreiend reden, zuhören und das Erfahren von Aufmerksamkeit bei Betroffenen in unterschiedlichsten Zusammenhängen sein können. Und dass Menschlichkeit unabhängig von der jeweiligen politischen Lage unteilbar und selbst unter schlimmsten Bedingungen unausrottbar ist. Außerdem bin ich bei den Arbeiten am Buch in eine Gemeinschaft aufgeklärter und engagierter Menschen in Deutschland und Chile geraten, die sich unter- und füreinander unterstützen, motivieren, konstruktiv kritisieren und zuhören. Das allein ist schon eine sehr wohltuende und solidarische Erfahrung.

Meine Schule hat eine Schulpartnerschaft mit der Grundschule vor den Toren der Villa Baviera.

MD: Wie engagierst du dich über das Buchprojekt hinaus für die ehemaligen Sektenmitglieder?

HR: Ich gehe sehr gern mit ein oder zwei “Protokollfrauen” auf Lesereise. Ich möchte die Frauen auch weiterhin stärken, und gemeinsam wollen wir aufklären über das Dasein in der ehemaligen Colonia Dignidad und ihrem heutigen entbehrungsreichen Leben in Deutschland oder Chile.

Meine Schule hat eine Schulpartnerschaft mit der Grundschule vor den Toren der Villa Baviera. Alle Kinder der neuen Generation besuchen diese Schule. Vielfach überreichte ich dort Unterrichtsmaterialien, die besonders den Deutschunterricht unterstützen.

Für ein halbes Jahr wohnte der Sohn eines ehemaligen Sektenmitgliedes bei uns zu Hause, besuchte das wohnortnahe Gymnasium, lernte etwas Deutsch und die Abläufe in der freiwilligen Feuerwehr unseres Ortes kennen.

Den “Protokollfrauen”, ihren Familien und auch vielen anderen Mitgliedern der ehemaligen Sekte Colonia Dignidad werde ich auch weiterhin stark verbunden bleiben, die Entwicklung ihrer Kinder aus der Ferne beobachten und allen sehr gern mit Rat und Tat zur Seite stehen.

Heike Rittel beantwortete mir die Fragen schriftlich via Mail. 

Akteur*innen & Projekte/Interviews

“Hier kann die Geschichte auf einer abstrakten Ebene thematisiert werden.”

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“Hier kann die Geschichte auf einer abstrakten Ebene thematisiert werden.”

Sonja Hugi lebt und arbeitet als Illustratorin, Graphikerin und Historikerin in Berlin. Gegenwärtig arbeitet sie an ihrer ersten Graphic Novel, die sie der Geschichte der Colonia Dignidad widmet. Im Interview erzählt sie von den Chancen, die das Graphic Novel-Format für die Geschichtsvermittlung mitbringt. Sie berichtet aber auch von der Skepsis, die diesem vermeintlich neuen Format in Deutschland immer noch anhaftet. Außerdem gibt sie einen Einblick in ihre ersten Entwürfe.

Sonja Hugi im Interview über ihre Graphic Novel zur Geschichte der Colonia Dignidad

Meike Dreckmann: Sonja, erkläre doch mal kurz, was eigentlich eine Graphic Novel ist.

Sonja Hugi: Graphic Novel bedeutet grafischer Roman und das beschreibt es eigentlich ganz gut. Eine Graphic Novel ist eine gezeichnete Geschichte – in der Regel mit Text ergänzt. Man könnte das Genre auch als „erwachsenen“ Bruder des Comics bezeichnen. Über die genaue Abgrenzung herrscht aber Uneinigkeit, die Form kann ganz unterschiedlich sein und es gibt eine Menge Subgenres. Manche Graphic Novels haben einen dokumentarischen Charakter, andere lassen sich eher dem Bereich Fantasy zuordnen. In letzter Zeit gab es auch immer mehr Roman-Adaptionen. Das finde ich aber eigentlich schade, denn dann ist eine Graphic Novel nur eine Übersetzung eines Romans und nutzt nicht unbedingt das eigene schöpferische Potential des Formats.

MD: Und worum geht es in deiner Graphic Novel?

SH: Ich möchte die Geschichte der Colonia Dignidad erzählen. Ich greife dabei auf Zeitzeug*innenaussagen aus autobiografischen Quellen und Interviews als Grundlage zurück. Die Graphic Novel beruht also auf Erinnerungen und ist nicht frei erfunden. Dennoch werden fiktive Protagonist*innen erzählen und die Erinnerungen von verschiedenen Zeitzeug*innen werden zu neuen Geschichten verschmolzen. Es ist mir dabei wichtig, dass es in der Graphic Novel eine gewisse Mehrstimmigkeit und Multiperspektivität gibt. Ich maße mir nicht, an DIE Geschichte der Colonia Dignidad zu erzählen. Ich möchte sichtbar machen, dass es immer sehr unterschiedliche Motive, Perspektiven, Einschätzungen und Erinnerungen gibt und dass sich die „Wahrheit“ irgendwo dazwischen findet.

Die freie Form der Zeichnung ermöglicht eine Auseinandersetzung mit den grundlegenden Fragen dieser Geschichte ohne Beschönigung und ohne Überwältigung.

MD: Warum eignet sich das Thema Colonia Dignidad deiner Meinung nach für eine Graphic Novel?

SH: Zwei verschiedene Gründe waren ausschlaggebend für die Entscheidung eine Graphic Novel über die Colonia Dignidad zu machen: Zum einen bietet das Thema Raum zur Auseinandersetzung mit grundlegenden, über den Fall Colonia Dignidad hinausgehenden Fragen. Ich komme aus der historisch-politischen Bildungsarbeit, mich interessiert, wie man politische Ereignisse und Geschichte im Allgemeinen begreif- und vermittelbar machen kann. Die Colonia Dignidad hat funktioniert wie eine totalitäre Diktatur. Man kann durch die Betrachtung dieser Geschichte „im Kleinen“ sichtbar machen, welche Mechanismen und Strukturen den Aufbau und Erhalt eines solchen Systems ermöglichen.

Der andere Grund ist, dass die Geschichte der Colonia Dignidad aufgearbeitet und erzählt werden muss. Aber wie redet man über Dinge die so grausam und brutal sind wie die Ereignisse, die sich in dieser Gemeinschaft abgespielt haben? Man kann darüber schreiben oder einen Film drehen. Bei diesen Formaten ist die Gefahr allerdings groß, dass die Rezipient*innen durch das explizite Darstellen von Gewalt überwältigt werden oder dass Dinge weggelassen und beschönigt werden, um den Schockeffekt zu umgehen. Da die Graphic Novel nicht an realistische Darstellungsformen gebunden ist, können Dinge hier auf einer abstrakten Ebene thematisiert werden. Die freie Form der Zeichnung ermöglicht eine Auseinandersetzung mit den grundlegenden Fragen dieser Geschichte ohne Beschönigung und ohne Überwältigung. Für ehemalige Mitglieder der Colonia Dignidad könnte die Graphic Novel eine Hilfe sein, ihren Kindern zu erklären, was mit ihnen geschehen ist.

MD: Kannst du unseren Leser*innen beschreiben, wie du das machst? Also, wie müssen wir uns den künstlerischen Entstehungsprozess vorstellen? Zeichnest du zum Beispiel am Computer oder mit der Hand?

SH: Ich skizziere zuerst mit Bleistift, zeichne dann mit Tusche und bearbeite das Ganze hinterher am PC. Der Prozess ist natürlich ziemlich aufwändig aber ich war immer schon eine eher analoge Person. Ich mag den Geruch von Chinatusche beim Zeichnen und das Gefühl der Feder auf dem Papier. Außerdem wird da manchmal gekleckst und geschmiert und diese Zufälle ergeben neue Bilder. Wenn man direkt am Computer zeichnet, kann man jederzeit einen Schritt zurückgehen. Das ist zwar praktisch aber manchmal geht so auch etwas verloren.

MD: Was sind deine größten Herausforderungen in diesem Projekt?

SH: Die allergrößte Herausforderung ist die Finanzierung. Ich habe einige Förderanträge gestellt, von denen ist bisher einer über eine kleine Summe bewilligt worden. Das Problem ist, dass das Projekt nicht in die klassischen Förderkategorien passt. Da es sich irgendwo zwischen Kunst und Wissenschaft befindet, lässt es sich schwer einordnen. Außerdem ist es meine erste Graphic Novel und viele Stiftungen fördern nur Projekte von Autoren, die bereits veröffentlicht sind. So geht es eben im Moment recht langsam voran, da ich nebenher arbeite.

Einer gewissen Skepsis begegne ich aber schon ab und zu wenn ich von dem Projekt erzähle.

MD: Sonja, wir kennen uns ja aus dem Master-Studium Public History an der FU Berlin. Inwiefern hat denn deine Graphic Novel zum Thema Colonia Dignidad auch etwas mit der Arbeits- und Forschungsdisziplin Public History zu tun?

SH: Also ich würde mal behaupten, dass ich exakt das mache, worum es in unserem Studium ging: Geschichtsvermittlung. Neben Museen, Gedenkstätten und Film ist die Graphic Novel meiner Ansicht nach das wichtigste Medium zur außerschulischen Vermittlung von Geschichte. Ich komme aus der Schweiz, da ist die Graphic Novel schon lange etabliert. Ich habe mich etwa als Teenager durch die Lektüre von Art Spiegelmanns „Maus“ intensiv mit der Geschichte des Holocaust befasst. Auch mit dem Thema HIV bin ich durch eine Graphic Novel erstmals in Berührung gekommen. In Ländern wie Belgien, Frankreich und USA hat das Format ebenfalls einen ganz anderen Status. Ich habe aber den Eindruck, dass man sich in Deutschland langsam öffnet. Ein sehr positives Zeichen war für mich meine Assoziierung mit dem Projekt am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam (ZZF). Einer gewissen Skepsis begegne ich aber schon ab und zu wenn ich von dem Projekt erzähle. Manche Leute verbinden gezeichnete Bücher einfach mit Superman, Kindheit, Humor. Und dann denken sie natürlich, dass das keine angemessene Art ist, sich mit Geschichten wie der der Colonia Dignidad zu befassen. Ich habe aber vor, meinen Teil dazu beizutragen, diese Menschen von den Möglichkeiten gezeichneter Romane zu überzeugen.

MD: Und zuletzt; dürften interessierte Leser*innen dich kontaktieren? Wenn ja, wie oder wo?

SH: Auf meiner Webseite können sich Interessierte meine Arbeiten anschauen. Dort ist auch eine kleine Vorschau der Graphic Novel zu sehen und meine E-Mail-Adresse, über die ich erreichbar bin.

Sonja Hugi beantwortete mir die Fragen schriftlich via Email.