Friedhelm Bensch wurde 1953 in Deutschland geboren. Als er acht Jahre alt war, wanderte er mit 29 anderen Kindern und 8 Erwachsenen nach Chile aus. Seine eigene Mutter kam erst ein Jahr später nach. In seinem Bericht erzählt Friedhelm Bensch von dem Alltag in der Colonia Dignidad, von der Willkür Paul Schäfers und seinen Unterstützern, sowie den unsäglichen Prügelstrafen und einem Druck, dem er gegen Ende kaum standhalten konnte.
Seit 2007 lebt Friedhelm Bensch mit seiner Frau und seinem Sohn in Nordrhein-Westfalen. Dort beschloss er im Jahr 2012 seine Erinnerungen an das Leben in der Colonia Dignidad aufzuschreiben. Mit dem Wunsch, seine Erinnerungen frei zugänglich zu veröffentlichen, wandte er sich schließlich an Dieter Maier. Dieser schlug diesen Blog als Plattform vor. Der Bericht wird im Wortlaut veröffentlicht und er wurde lediglich geringfügig redigiert.
Die Erinnerungen an vergangene Zeiten sind immer höchst subjektiv und sollten nie alleinstehend als ausschließliche faktenbasierte Quelle gelesen werden. Bei dem Bericht von Friedhelm Bensch handelt sich demnach um ein Beitrag zur Auseinandersetzung mit der Geschichte der Colonia Dignidad. Eine Geschichte, die viele Menschen unterschiedlich erlebt haben.
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(Hinweis: Der CDPHB versteht sich ausschließlich als Plattform; er macht sich den Bericht des Autors weder zu Eigen, noch übernimmt er Verantwortung für die geschilderten Erzählungen.)
Veranstaltungsreihe des AStA Hannover: „Colonia Dignidad – Aufarbeitung eines deutschen Verbrechens in Chile“
Die Arbeitsgruppe Kritische Bildung des AStA der Universität Hannover beschäftigt sich Ende November 2020 erneut mit dem Thema Colonia Dignidad. Dieses Mal steht das Thema Aufarbeitung im Fokus der Veranstaltungsreihe. Aufgrund der COVID19-Pandemie wurde das Veranstaltungsformat dahingehend angepasst, dass alle Veranstaltungen Online stattfinden können. Interessierte finden die Veranstaltungsreihe zur Aufarbeitung der Colonia Dignidad auf der Facebook-Seite des AStA Hannover unter diesem Link.
DIENSTAG, 24. NOVEMBER 2020 UM 19:00 UTC+01
Colonia Dignidad – zum strukturellen Versagen politischer und juristischer Aufarbeitung
Die Geschichte der Colonia Dignidad von ihren Vorläufern in den 1950er Jahren bis heute ist auch eine Geschichte von unterlassenen staatlichen Verpflichtungen, die dort begangenen Verbrechen zu verhindern und aufzuarbeiten: auf juristischer und politischer Ebene, in Deutschland und in Chile.
Manche Akteur*innen unterstützten die Colonia Dignidad willentlich. Andere ließen sich von ihrer unermüdlichen Lobbyarbeit beeindrucken und schenkten Opferschilderungen keinen Glauben. Oft schoben Behörden die Verantwortung jeweils anderen zu, so dass sich in Chile der Spruch durchsetzte „La Colonia siempre gana“, auf deutsch: „Die Kolonie gewinnt immer“. Nur in wenigen historischen Phasen gelang es ein Stück weit, gegen die Sekte vorzugehen. Bis zur Festnahme von Paul Schäfer 2005 wurden jedoch weiter Verbrechen begangen.
Die Aufklärung und Aufarbeitung verlaufen seitdem prekär: Täter*innen der Colonia Dignidad wurden kaum bestraft. Deutschland ist zum „sicheren Hafen“ für ehemalige Mitglieder der Führungsriege geworden, die von der chilenischen Justiz gesucht oder wie im Fall des leitenden Sektenarztes Hartmut Hopp bereits verurteilt wurden. Hierzulande fehlt gegen sie, laut NRW-Justiz, ein „hinreichender Tatverdacht“.
Viele Taten, wie das „Verschwindenlassen“ von dutzenden politischen Aktivist*innen während der Pinochet-Diktatur sind weiterhin unaufgeklärt. Das von der Führung der Colonia Dignidad Ende der 1980er Jahre entworfene Firmengeflecht besteht noch immer und das jahrzehntelang durch Verbrechen angehäufte Vermögen ist nicht aufgeklärt. Auf dem Gelände der ehemaligen Colonia Dignidad wird die Vergangenheit bislang kaum thematisiert. Bemühungen um Errichtung einer von der deutschen und der chilenischen Regierung getragenen Gedenkstätte verlaufen seit Jahren zäh. Warum tragen beide Staaten so wenig zu einer umfassenden Aufarbeitung bei? Welches sind heute die entscheidenden Auseinandersetzungen? Wo gibt es Chancen auf Aufklärung?
Jan Stehle ist Mitarbeiter des Forschungs- und Dokumentationszentrums Chile-Lateinamerika in Berlin. Er hat an der FU Berlin zum Umgang bundesdeutscher Justiz und Außenpolitik mit dem Fall Colonia Dignidad promoviert und engagiert sich seit Jahren für die juristische und politische Aufarbeitung der CD-Verbrechen.
Ute Löhning ist Print- und Hörfunk-Journalistin und regelmäßig in Lateinamerika, vor allem in Chile unterwegs. Sie berichtet unter anderem zu sozialen Bewegungen, Erinnerungspolitik und Straflosigkeit.
Colonia Dignidad – zur Errichtung einer Gedenkstätte in einem erinnerungskulturell umkämpften Feld
Vortrag und Diskussion mit Dr. Elke Gryglewski und Meike Dreckmann-Nielen
Die Geschichte der Colonia Dignidad gilt als erinnerungskulturell umkämpftes Feld, denn der einstige Ort zahlreicher Verbrechen wurde von seinen Bewohner*innen über die Jahre in ein touristisch gestaltetes Freizeitdorf mit Hotellerie und Gastronomie umgebaut. Während die einen dies als Neuerfindung an einem schrecklichen Ort erleben, kritisieren andere diese Nutzung als Opferverhöhnung. Dies ist nur eines von vielen konfliktbehafteten Themen in der Geschichte der Colonia Dignidad.
Meike Dreckmann-Nielen wird in ihrem Vortrag einen Einblick in diesen Konflikt um Deutungshoheit und damit in ihr laufendes Forschungsprojekt geben. Sie promoviert am Arbeitsbereich Public History der Freien Universität Berlin zu erinnerungskulturellen Dynamiken in der ehemaligen Colonia Dignidad.
Mit den praktischen Planungen rund um den Prozess der Errichtung des Dokumentationszentrums und einer Gedenkstätte befasst sich Dr. Elke Gryglewski als Mitglied einer bilateralen Expertenkommission, die von den Regierungen Chiles und Deutschland eingesetzt wurde.
Dr. Elke Gryglewski ist kommissarische Direktorin der Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz in Berlin und seit 2014 mit dem Prozess der Planung von Dokumentationszentrum und Gedenkstätte auf dem Gelände der ehemaligen Colonia Dignidad betraut. In ihrem Vortrag wird sie aus ihrer konkreten Arbeit in diesem Planungsprozess berichten und damit ganz praktisch Einblick in einen in hohem Maße komplexen Prozess geben.
Colonia Dignidad und die Pinochet-Diktatur: eine Repressionsallianz offenbart ihr Innenleben
Der harte Kern einer Diktatur kann noch lange nachwirken, wenn diese selbst formal abgetreten ist. In Chile wirken sich die Machtkonstellationen, die Wirtschaftsstrukturen und Denkweisen der 1990 abgetretenen Pinochetdiktatur bis heute aus. Auch die repressiven Methoden erstarken wieder, wenn die Bevölkerung mit der alten, von der Diktatur übernommenen Politik bricht. Die von der Pandemie unterbrochenen emanzipatorischen Kämpfe im heutigen Chile haben eine autoritäre Reaktion des Staates hervorgerufen.
2005 fand die Polizei auf dem Gelände der deutschen Siedlung Colonia Dignidad ein Archiv, das die Methoden und Denkweisen der Geheimdienste und ihrer zivilgesellschaftlichen HelferInnen dokumentiert. Unsere Referenten Luis Narváez und Dieter Maier haben einen großen Teil davon in einer zweisprachigen Datenbank erschlossen (www.fichas-chile.com, User: visita. Password/codigo: fulano) und ein noch unveröffentlichtes Buch darüber geschrieben. Im Rahmen dieses Vortrags werden sie die wichtigsten Ergebnisse vorstellen. Der Chilene Erick Zott, ein ehemaliger politischer Gefangener in der Colonia Dignidad, wird von seinen Erfahrungen mit dem Repressionsapparat berichten.
Dr. Dieter Maier (Frankfurt am Main) ist Autor mehrerer Bücher über die Colonia Dignidad.
Luis Narváez (Buenos Aires) ist chilenischer Journalist.
Erick Zott (Wien) war politischer Gefangener in Chile.
Die Strafverfolgung von in der Colonia Dignidad begangenen Menschenrechtsverbrechen zeigte sich in den vergangenen Jahrzehnten als zäher und mühseliger Prozess. Immer wieder wird seitens Opferverbänden eine andauernde Straflosigkeit von einstigen Täter*innen beklagt. Das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) nimmt die juristische Aufarbeitung der durch die Colonia Dignidad begangenen Menschenrechtsverbrechen bereits seit seiner Gründung 2008 in den Blick. Im Interview erzählt der Jurist Andreas Schüller von den Schwierigkeiten, welche die juristische Verfolgung der zahlreichen Verbrechen heute mit sich bringt. Er geht dabei auch auf den komplizierten Fall des ehemaligen Colonia-Arztes Hartmut Hopp ein.
Interview von Meike Dreckmann-Nielen mit Andreas Schüller vom ECCHR
Meike Dreckmann-Nielen: Wer sich mit der juristischen Aufarbeitung der Colonia Dignidad beschäftigt, kommt an der Arbeit des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) nicht vorbei. Können Sie unseren Leser*innen erklären, was das ECCHR genau ist und wie es arbeitet?
Andreas Schüller: Das ECCHR ist eine Menschenrechtsorganisation aus Berlin, die sich vor allem mit rechtlichen Mitteln für eine Durchsetzung der Menschenrechte einsetzt. Wir reichen dort Klagen, Anzeigen oder Schriftsätze ein oder fertigen Rechtsgutachten an, wo wir eine Chance sehen, etwas verändern zu können. Dies betrifft zum Beispiel unser Vorgehen gegen europäische Unternehmen, wenn diese Menschenrechte im Ausland verletzen und wir über unsere Netzwerke gemeinsam mit Betroffenen überlegen, wie wir die Rechtsverletzungen adressieren und vor Gerichte bringen können. Gleiches gilt für Folter, Kriegsverbrechen und sexualisierte Gewalt. Oftmals können diese Fälle nicht vor Gerichte in dem Land gebracht werden, in dem sie begangen werden, da staatliche Sicherheitskräfte die Täterinnen sind.
Meike Dreckmann-Nielen: Und was können Sie dann tun?
Andreas Schüller: Wir suchen dann nach Wegen in anderen Ländern oder vor internationalen Gerichten, die Völkerstraftaten verfolgen zu lassen. Unsere Organisation arbeitet in vielen Netzwerken mit anderen Jurist*innen, Researcher*innen, NGOs, Betroffenen und vielen anderen, um Fälle aufzuarbeiten, einzureichen und zu unterstützen. Auch wenn unser Sitz in Berlin ist, arbeiten wir sehr transnational und verbunden mit vielen anderen, die dieselben Ziele wie wir verfolgen. Rechtliche Prozesse und Entscheidungen haben eine große Tragkraft, die wiederum andere politische Prozesse beeinflussen oder umleiten kann. Staatliche Akteur*innen oder Unternehmen werden gezwungen, ihr Verhalten zu verändern. Wichtig ist vor allem, die einzelnen Fälle zu kontextualisieren und politisch zu begleiten, um eine größtmögliche Wirkung zu entfalten und Veränderung zu bewirken.
Meike Dreckmann-Nielen: Wie sind Sie denn persönlich zum ECCHR gekommen und welche der Themen gehören schwerpunktmäßig zu Ihrem Aufgabenbereich?
Andreas Schüller: Ich habe in drei Ländern Jura studiert und mich auf Völkerrecht und Völkerstrafrecht spezialisiert. Beim ECCHR arbeite ich seit 2009, was sehr lange klingt, aber viele Fälle und Themen begleiten unsere Arbeit über viele Jahre und erst durch die langjährige Befassung mit bestimmten Fällen schafft man auch Veränderungen. Mein Fokus liegt auf Völkerstraftaten und rechtlicher Verantwortung. Das reicht von Folter in Guantanamo und Drohnenangriffe über Völkerstraftaten in Syrien bis hin zu lateinamerikanischen Diktaturverbrechen.
Meike Dreckmann-Nielen: Wie kam es dazu, dass sich das ECCHR des Themas Colonia Dignidad angenommen hat und welchem Teil dieses komplexen Themas widmet sich das ECCHR schwerpunktmäßig?
Andreas Schüller: Das Thema Colonia Dignidad hat das ECCHR seit seiner Gründung 2008 verfolgt, da es um schwerste Menschenrechtsverletzungen geht, die immer noch nicht hinreichend aufgearbeitet wurden und in denen es einen engen Bezug zu Deutschland gibt. Die Unterstützung einer verbrecherischen Diktatur durch eine deutsche Siedlung ist an sich schon ungewöhnlich. Umso skandalöser ist es, dass der deutsche Staat und die Justiz bis heute ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden ist, die begangenen Straftaten aufzuarbeiten und zu verfolgen. Aus diesem Grund haben wir Strafanzeigen gegen in Deutschland lebende ehemalige Führungsmitglieder der Colonia Dignidad eingereicht und fordern seit mehreren Jahren, dass die deutsche Justiz die Verbrechen umfassend ermittelt und strafrechtlich verfolgt.
Meike Dreckmann-Nielen: Haben Sie im Kontext Ihrer Arbeit über die Jahre einen Fall bearbeitet oder kennengelernt, der mit dem der Colonia Dignidad vergleichbar wäre?
Andreas Schüller: Wirklich vergleichbar sind die meisten Fälle nicht. Was im Fall der Colonia Dignidad auffällt, ist das totale Versagen auf deutscher Seite, das Geschehene rechtlich aufzuarbeiten, trotz der vielen Bezüge nach Deutschland und des langen Zeitraums, in dem bekannt ist, was in der Siedlung geschah. Vergleichbar zu anderen Fällen ist, dass es gut organisierte kleine Täterkreise gibt, die über Jahre ein perfides Verbrechenssystem aufbauen und betreiben konnten. Vergleichbar ist auch, dass sie es mehrheitlich geschafft haben, davonzukommen – mit Ausnahme derer, die in hohem Alter letztlich von der chilenischen Justiz verurteilt wurden.
Meike Dreckmann-Nielen: Wann würden Sie davon sprechen, dass die Verbrechen der Colonia Dignidad juristisch aufgearbeitet wurden?
Andreas Schüller: Es muss umfangreich ermittelt werden. Das heißt, dass vor allem diejenigen Zeug*innen, die in Deutschland leben, vernommen werden müssen. Und zwar von erfahrenen Ermittler*innen, die sich mit der Colonia Dignidad auskennen. Jetzt ist die Zeit dafür, denn der Druck auf Zeug*innen ist nicht mehr so hoch wie früher und es gibt mehr Kenntnis darüber, was geschah. Einige sind dabei, sich mehr und mehr zu öffnen. Es geht uns nicht primär um Verurteilungen, sondern darum, dass die Vorwürfe und Beweise vor Gericht verhandelt werden. Nur so ist eine juristische Aufarbeitung möglich.
Meike Dreckmann-Nielen: Hartmut Hopp wurde in Chile verurteilt, weil er Beihilfe zu der sexualisierten Gewalt an Kindern durch Paul Schäfer geleistet haben soll. Wie genau kam es zu der Verurteilung?
Andreas Schüller:Hartmut Hopps Rolle und Funktion innerhalb der Führungsriege wurden in Chile aufgearbeitet. Er hat sich an dem Verfahren beteiligt und dagegen verteidigt. Am Ende waren die Richter aber von seiner Mitverantwortlichkeit aufgrund seiner Stellung und Nähe zu Paul Schäfer überzeugt, weshalb er verurteilt wurde.
Meike Dreckmann-Nielen: Hartmut Hopp entzog sich dieser Strafe ja schließlich, indem er 2013 nach Deutschland ausreiste. Das ist möglich, weil Deutschland und Chile kein Auslieferungsabkommen vereinbart haben. Im Jahr 2014 beantragte die chilenische Justiz schließlich, die Haft in Deutschland zu vollstrecken. Warum ist das bis heute nicht geschehen?
Andreas Schüller: Das ist wahr. Deutschland liefert keine eigenen Staatsbürger aus, das ist im Grundgesetz garantiert. Aber es ist möglich, ausländische Verurteilungen in Deutschland anerkennen zu lassen, so dass eine Freiheitsstrafe hier vollstreckt wird. Im Fall von Hartmut Hopp hat das Oberlandesgericht Düsseldorf jedoch sehr hohe, aus unserer Sicht zu hohe, Maßstäbe an das Urteil der chilenischen Justiz angelegt. Zudem fehlte das Verständnis dafür, wie die Colonia Dignidad funktionierte. Andererseits haben es die Staatsanwaltschaften in Deutschland unterlassen, selbst die erforderlichen Ermittlungen durchzuführen. So entsteht Straflosigkeit für schwerste systematische Verbrechen.
Meike Dreckmann-Nielen: Es klingt förmlich so, als gäbe es handfeste Beweise, die einfach nicht gesehen werden (wollen). Was macht den Fall Hartmut Hopp denn so kompliziert?
Andreas Schüller: Das lange Abwarten der deutschen Justiz hat zum einen dazu geführt, dass viele Taten schon verjährt sind. Außerdem geht es um Hartmut Hopps Verantwortlichkeit aufgrund seiner Stellung und Position in einer Organisationsstruktur, die Verbrechen begangen und ermöglicht hat. Die chilenischen Ermittlungen sind logischerweise im Hinblick darauf geführt worden, was vor chilenischen Gerichten Standard ist, um zu einer Verurteilung zu gelangen. Da sich das deutsche Strafrecht schon unterscheidet, können die Zeugenbefragungen aus Chile hier nur Anhaltspunkte geben. Für ein deutsches Verfahren müssten im Grunde genommen alle Zeug*innen erneut befragt werden. Das ist aufwendig und bedarf des entsprechenden politischen Willens, dies zu priorisieren und die erforderlichen Ressourcen zur Verfügung zu stellen.
Meike Dreckmann-Nielen: Es gibt einige ehemalige Anhänger*innen der Colonia Dignidad, die Hartmut Hopp bis heute als Opfer Paul Schäfers verteidigen. Wie gehen Sie beim ECCHR mit den Kategorien Opfer und Täter*in um?
Andreas Schüller: Das ist ein wichtiger Punkt, der in einem Strafverfahren auch Berücksichtigung finden würde. Dennoch entschuldigt erlittenes Unrecht nicht, selbst anderen Menschen Leid zuzufügen oder andere dabei zu unterstützen, dies tun zu können. Dies betrifft vor allem auch die Kollaboration mit der Pinochet-Diktatur.
Meike Dreckmann-Nielen: Viele Leser*innen kontaktieren mich und fragen, was sie tun können für die Unterstützung von Opfergruppen und die Aufarbeitung. Haben Sie konkrete Anknüpfungsstellen, an denen eine engagierte Öffentlichkeit Sie und Ihre Arbeit unterstützen kann?
Andreas Schüller: Wichtig ist, dass das Thema präsent bleibt. Es muss allen Verantwortlichen in Justiz und Politik klar sein, dass dies die letzten Jahre sind, noch etwas zu ändern. Ansonsten wird ein historisches Versagen der deutschen Justiz, die seit 1965 Hinweise auf von deutschen Staatsbürger*innen im Ausland begangene Straftaten hat, in die Geschichtsbücher eingehen. Hilfe ist vor allem für die Betroffenen dringend erforderlich, hier und in Chile, die oftmals in sehr prekären Verhältnissen leben müssen. Sie verdienen jede Art der Unterstützung.
Meike Dreckmann-Nielen: Vielen Dank für den Einblick in Ihre Arbeit.
Weiterführende Links zu dem Thema Colonia Dignidad vom ECCHR (Auswahl):
„Rechtliche Stellungnahme des ECCHR zum Beschluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf in Sachen Hartmut Hopp/ Colonia Dignidad“ – Hier entlang!
„ECCHR-Stellungnahme zu der Rolle von Hartmut W. Hopp innerhalb der Colonia Dignidad“ – Hier entlang!
Mile Mavroski als Gefangener in der Colonia Dignidad – die Konstruktion eines Feindbildes
– ein Gastbeitrag von Dieter Maier anlässlich des Todes von Mile Mavroski am 10.6.2020
Der Fall des in der Colonia Dignidad gefangenen Chilenen Mile Mavroski ist einzigartig. Mavroski war elf Monate in der deutschen Siedlung „verschwunden“, also seit seiner Verhaftung ohne Lebenszeichen. Von keinem anderen chilenischen politischen Gefangenen ist ein derart langes Verschwundensein und Wiederauftauchen bekannt.
Mavroski wurde am 24.09.1933 in Mazedonien geboren. Er wuchs in einer Bauernfamilie auf, lebte in einfachen Verhältnissen und war Zeit seines Lebens Analphabet. 1955 kam er nach Chile und betrieb in San Carlos das Beerdigungsunternehmen Pompas Fúnebre. Für arme Hinterbliebene machte er die Beerdigungen umsonst. Die ganze Stadt kannte ihn. Er war mit einigen lokalen Polizisten, den Carabineros, befreundet.
Seine erste von 19 Karten in einem in der Siedlung gefundenen Karteikartenarchiv erwähnt vage politische Sympathien und eine russische Migrationsgeschichte.
Karteikarte aus dem in der Colonia Dignidad gefundenen Material
Er wurde am 17.01.1974 verhaftet, nach Chillán gebracht und dort schwer gefoltert. Offenbar hielt ihn der zuständige Militärstaatsanwalt Mario Romero für ein besonders gut getarntes führendes Mitglied der Widerstandsgruppe MIR (Movimiento de Izquierda Revolucionaria) und verurteilte ihn zu einer Haftstrafe von 541 Tagen (Urteil des Kriegsgerichts San Carlos 3-1974. Der Oberste Gerichtshof Chiles hob dieses Urteil am 04.09.2019 auf). Romero ließ ihn in die Colonia Dignidad bringen. Während dieser Haft entstanden die meisten seiner 19 Karteikarten. Auf über 100 weiteren kommt sein Name vor. Auf diesen Karten wird er zum „wichtigen MIR-Mitglied“,- und gleichzeitig „sehr verbunden mit der KP (Kommunistische Partei)“, was sich in der Praxis wegen der Rivalitäten zwischen der MIR und der KP faktisch ausschloss.
Ein führendes regionales Mitglied des MIR, Ricardo Catalán, war am 30.03.1974 in Santiago von der DINA verhaftet und am 17.12.1974 nach Chillán gebracht worden, um am folgenden Tag Mavroski, der zur Vernehmung vorgeladen war, gegenüber gestellt zu werden. Romero notiert: “Wir haben Catalán in Haft, er wurde uns ausgeliehen, denn er ist in Santiago in Haft, aber sie haben ihn uns zum Verhör ausgeliehen“. Catalán stammte aus der Region der Colonia Dignidad, und das Verhör während der „Ausleihe“ drehte sich um mögliche Waffenverstecke dort und den MIR. Catalán sagte wenig Konkretes gegen Mavroski aus; er erwähnt gelegentliche Treffen und Hilfsleistungen und ein Gespräch über die Herstellung von Maschinenpistolen im zweiten Weltkrieg. Der MIR hätte, so die Karte, gerne Maschinenpistolen gehabt, aber Mavroski verstand nichts davon.
Mavroskis Karteikarten zeichnen das Bild einer Verschwörung, die bis zu den Spitzen der UP-Regierung (Unidad Popular) reicht: Ein Hubschrauber, in dem sich José Tohá, der Innenminister Allendes, befand, soll beim Rückflug von San Carlos nach Santiago auf dem Friedhof von San Carlos gelandet sein, um Waffen aus ausgegrabenen Särgen einzuladen.
Das klingt nach Legendenbildung. Särge und Urnen, in denen Waffen versteckt gewesen sein sollen, sind das Ergebnis eines Gerüchts, das zum Konstruktionselement des „bösen Russen“ wurde. „Romero hatte irgendetwas gehört, wollte mehr wissen und schnüffelte den Friedhof aus. Er fand heraus, dass Mavroski manchmal mit nur wenigen Familienangehörigen zu Beisetzungen ging. Der Militärgeistliche „glaubte“ deshalb, in den Urnen seien Waffen. Die Eintragung stammt aus der Zeit, als Mavroski in der Colonia Dignidad in Haft war. Navarrete war ein fortschrittlicher Priester und Freund Mavroskis. Das Agentennetzwerk bespitzelte ihn und hatte offenbar irgendetwas aufgeschnappt. Die Vermutung von den Waffen auf dem Friedhof verfestigt sich durch entsprechende Formulierungen auf späteren Karten zur Tatsache.
Und so geht es weiter. Mavroski wollte angeblich ein Haus neben einem Hotel kaufen. Auf dem Dach des Hotels könnte man einen Heckenschützen postieren, meint der Spitzel „Bü“. „Bü“ bekam eine Bemerkung Mavroskis mit: Wenn die Frau des Hotelbesitzers stürbe, würde er alle Kosten übernehmen. Weiter: In der Bäckerei eines sozialistischen „Marxisten und Freimaurers“ soll Mavroski einem „Dickerchen“ eine Maschinepistole gegeben haben. Einige Karten notieren Mavroskis Mitgliedschaft bei den Freimaurern. Freimaurerei und Marxismus verwandeln sich in den Köpfen des Agentennetzwerks zu einer giftigen Mischung.
Oder: “Ich bin informiert”, sagt eine DINA-Quelle aus San Carlos, dass Mavroski bei einem Sprengstoffanschlag auf den Sendemast der Firma ENTEL in San Carlos mitgewirkt habe.
Der Verhaftete Victor Faúndes sagte mit Datum vom 24.01.1974 unter der Folter aus, dass ein anderer Gefangener früher Militärs und die Familie Romero (fast sicher die Familie Mario Romeros) von San Carlos fotografiert habe. Das passt ins Schema von “Plan Z”, laut dem die Linke alle Rechten und Militärs ermorden wollten, und bedient die Paranoia der Diktatur.
All das verdichtet sich zu einem „Plan Mabrovski“. Mavroski, so die Karteikarten-Version, wollte persönlich die Waffen verteilen und dann zuerst die Extremisten führen, um das Kommissariat der Carabineros in San Carlos anzugreifen, ihnen die Waffen wegnehmen, dann dasselbe mit der Kriminalpolizei (Servicio de Investigaciones) machen und dann das öffentliche Gefängnis von San Carlos stürmen, wo er die politischen Gefangenen befreien und ihnen Waffen geben wollte. Nachdem das erledigt worden wäre, wollte er das Stadtzentrum angreifen und „die wichtigsten Familien und alle diejenigen, die Widerstand leisteten, töten. Das ganze soll als Aktion „schwarze Weihnachten“ (auch „Plan Mabrovski“) geplant worden sein. In Särgen vergrabene Waffen (fünf Kisten mit ja 25 Maschinenpistolen) sollten an Guerilleros ausgehändigt werden. Diese Aktion soll für 1974 geplant gewesen sein, dann wird sie auf 1975 umdatiert, und sie wird von einer lokalen Aktion in San Carlos zu einem landesweiten Putschversuch. Der Plan sei wegen Verhaftungen aufgeschoben worden und taucht dann als „schwarzer September“ für den zweiten Jahrestag des Putsches auf. Die Vorstellung einer „schwarzen Weihnacht“ oder eines „schwarzen Septembers“ hat sich offenbar in den Köpfen des Agentennetzwerks festgesetzt. Es gibt weitere Karteikarten, die auf ihn Bezug nehmen. Dokumente des Staatssicherheitsdientes der DDR greifen das Stichwort auf. Dort heißt es, die Erfindung eines Planes „schwarzer September“ im September 1975 in Santiago sei dazu bestimmt gewesen, das Verbot der Einreise einer UNO-Kommission zu rechtfertigen. (BStU MfS HA II 14032 Bl. 13) Mavroski leugnete beim Verhör diesen Plan.
Die Karteikarten enthalten eine Aussage Mavroskis vom 15.01.1974, also zwei Tage vor seiner Verhaftung (möglicherweise ist dies eine Aussage vor der Kriminalpolizei in San Carlos.) und ein weitere am 22.6.1974. Sie bestätigt nichts von dem, was ihm vorgehalten wird. „Ich hatte noch nicht einmal eine Wasserpistole“, sagte er vor der Kriminalpolizei in San Carlos.
In diesem anfangs rätselhaften Fall war es uns möglich, den Wahrheitsgehalt vor Ort zu überprüfen. Luis Narváez besuchte Mavroski 2015 für ein Interview. Mavroski berichtete von seinen Folterungen. Narváez‘ zweiter Besuch schlug fehl, da Mavroski ihn bat, nach dem Essen wiederzukommen, dann aber bereits im Krankenhaus lag, da er zusammengebrochen war. Im Dezember 2017 besuchten ihn Luis Narváez, Jan Stehle und Dieter Maier. Er war nun 84 Jahre alt und saß, wie jeden Tag, auf einen Stock gelehnt, mit Anzug und Krawatte vor Pompas Fúnebre, wo er zugleich wohnte, und schwatzte mit seinen Freunden. Er bat uns in seine Wohnung. Dieser Besuch, schon für sich ein Erlebnis, zeigt, wie sehr die Konstruktion eines Feindbildes und die Wirklichkeit sich unterschieden. Wir gehen an einem Leichenwagen vorbei in sein Wohnzimmer. An der Wand hängen ein Bild des jugoslawischen Partisanen-Marschalls Tito in ordensgeschmückter Uniform, Fotos von Mavroskis Brüdern (einer ebenfalls in Uniform), ein Ölgemälde seines russischen Großvaters, ein Bajonett aus dem ersten Weltkrieg und Diplome seiner Mitgliedschaft bei den Freimaurern, Großloge 123 „David Benavente“.
Mavroski gibt uns eine unfreiwillige Lektion über die Schwierigkeiten des Erinnerns. Sein Gedächtnis ist schwach, aber er erzählt flüssig aus seinem Leben. Er sagt, er sei mit 14 Jahren zu Titos Partisanenarmee gestoßen, habe dort aber nur Kartoffeln für die Kämpfer geschält. Es geht um „Kriege nach dem zweiten Weltkrieg“. Was damit gemeint ist, bleibt unklar, vielleicht Kämpfe in Titos Jugoslawien; zu Kriegsende war Mavroski jedenfalls erst 13 Jahre alt. Er habe Tito in seinem Haus besucht. Vom Bosporus aus sei er per Zug nach Moskau gereist und 1948 in Berlin gewesen. Zwei Jahre sei er in Italien gewesen, bis ihm „der Papst“ die Ausreise nach Chile ermöglicht habe. Er lebte sechs Jahre in Concepción, wo er im Krankenhaus Allende kennenlernte, und dann in San Carlos.
Seine Haft in der Colonia Dignidad schildert er zunächst als harmlos. Während der elf Monate in einem Keller sei er nicht misshandelt worden, die Augen waren nicht verbunden. Es gab keine Mitgefangenen. Schäfer verhörte ihn zwei Mal. Er wurde auch auf Russisch verhört, sagte er (er sprach kein Russisch, verstand es aber). Obwohl alle Beteiligten Spanisch sprachen, nahmen die Deutschen einen Dolmetscher für Russisch. Offenbar dachten die Verhörer, dass die KP-Leute sich heimlich auf Russisch unterhielten. In Aussagen früherer Colonia-Mitglieder werden Verhöre auf Russisch mehrfach erwähnt. Colonia-Mitglied Heinrich Neufeld, der Russisch konnte, musste als „Gefangener“ im Kartoffelkeller der Siedlung, der als Folter- und Haftort diente, Bürsten binden und „im Käfig wie (ein) Hühnerkäfig bleiben, um Gespräche mitzuhören.“ Dann sagte Mavroski leise zu uns: „Ich will mich nicht mehr an das erinnern, was gewesen ist.“ Und: “Ich glaube nicht an die Justiz.“ Langsam rückt er damit heraus, dass er mit Eintauchen bis kurz vor dem Ersticken (U-Boot-Folter) und Elektroschocks gefoltert wurde („Ja, das kann sein“). Ob er die Augen verbunden hatte? „Seguro“ (deutsch: sicher). Dass er in der Colonia Dignidad war, weiß er, weil er in der Vergangenheit zwei Tote aus dem Krankenhaus übernommen hatte, und Schäfer kannte er von Fotos.
Über die Gründe seiner Freilassung nach elf Monaten kann man nur spekulieren. Hatte er lediglich seine Haftstrafe in der Colonia Dignidad verbüßt? Hatte er Stillschweigen versprochen? Der geistliche Jorge Elias Navarette hatte Unterschriften für seine Freilassung gesammelt. Mavroskis Carabinero-Freunde mochten sich für ihn eingesetzt haben. Laut den Karten hatte sích auch eine Gruppe von Freunden für seine Freilassung eingesetzt. Diese Freunde könnten Freimaurer oder Rotarier gewesen sein, Mavroski gehörte auch zum Rotary-Club.
„Der politische Einfluss der DC, der Sozialisten und der Kommunisten beeinflussten Staatanwalt Romero, bis er ihn freiließ“, schreibt der unermüdliche Colonia-Spitzel „OMH“ (Oscar Muñoz Hildebrandt) auf Mavroskis letzter Karte. „Bü“ beschwerte sich am 22.03.1982: „Es war ein riesiger Fehler, dass Mavroski noch lebt.“. „OMH“ notiert noch 1982 die Autos, die benutzt wurden, als Mavroski eine Tote aus „dem Krankenhaus“ abholte, und er trägt 1985 noch einmal die Geschichte von den Urnen mit den versteckten Waffen vor.
Laut der Erklärung eines anderen früheren Colonia-Bewohners sagte Schäfer: „Er darf nicht lebend hier raus!“ (Erklärung von Willi Malessa im Fall Maino, 2005). Die Colonia Dignidad hatte aber kein Recht, Chilenen zu ermorden. Aber auch bei den Chilenen stand Mavroski auf der Todesliste. Der Heeresoffizier Torrealba wurde nach dem Putsch aus der Pension geholt und war für die Gefangenen in der Garnison Chillán zuständig. „Er geht sehr hart mit den Miristen (MIR-Mitgliedern, D.M.) um“, sagt „Bü“. Aus Mavroskis Aussage vom 20.01.1974 zitiert seine Karte: „Mit diesem Mann (Mavroski, DM.) kann man nichts anderes machen als ihn zu töten.“
Das Agentennetzwerk, das hier handelte, scheint Mavroski als eine Art persönliche Trophäe betrachtet zu haben. Dies würde erklären, warum es auf einer Karte heißt: „Sehr bedauerlicher Weise ist Hauptmann Rivero durch eine Indiskretion über den Ort informiert, an dem sich der Jugoslawe-Russe-Chilene Mile Mabrovski befindet“. Gemeint ist die Colonia Dignidad. Rivero, ein offenbar harter Offizier, sieht das Verhalten der Colonia Dignidad kritisch, er sagt, er hätte aus Mavroski alles innerhalb von fünf Tagen rausgeholt.
Luis Narváez traf 2018 Mavroskis Sohn Mile Mavroski Sepúlveda. Mavroski war gestürzt und bettlägerig. Er wurde rund um die Uhr gepflegt. Der Sohn wusste wenig über die Haft seines Vaters. Der Vater hatte ihm von der Haftzeit erzählt, aber ohne die Folterungen zu erwähnen.
„Don Mile“, so die zugleich liebevolle und respektvolle Anrede, starb am 10.06.2020.
Ein Jahr davor interviewte ihn ein Team des Oral-History-Projekts (CDOH) der Freien Universität Berlin. Zwei Tage nach seinem Tod stellte das Projekt den folgenden Nachruf auf seine Website:
„‚Don Mile Mavroski wurde im Jahr 1933 in Mazedonien geboren und kam 1955 nach Chile. In Concepción lernte er seine Ehefrau Carmen Sepúlveda kennen mit der er zwei Kinder hatte. Die Familie zog nach San Carlos, wo er ein Beerdigungsinstitut gründete. Wiederholt unterstützte er dabei solidarisch auch Familien, die sich eine würdige Beerdigung sonst nicht hätten leisten können. Nach dem Militärputsch wurde Mile Mavroski Mileva verhaftet und beschuldigt, dem MIR anzugehören, ein sowjetischer Spion zu sein und mit Waffen zu handeln. Im Januar 1974 brachten sie ihn aus dem Gefängnis in Chillán in die Colonia Dignidad. Don Mile war dort elf Monate lang gefangen. Damit war er der Gefangene, der die längste Zeit dort festgehalten, verhört und gefoltert wurde. Nach Chiles Rückkehr zur Demokratie sagt er vor der Comisión Nacional sobre Prisión Política y Tortura (Comisión Valech) aus und wurde in deren Aufstellung der politischen und gefolterten Gefangenen aufgenommen.
Die Interviewerin Evelyn Hevia erinnert sich: ‚Ich kam an diesem Morgen zum Interview in Begleitung von Edison und Manuel, den Kollegen des Medienteams und von Luis Narváez, einem Journalisten, der Don Mile seit Jahren kennt. Mit Luis und dem Rechtsanwalt Hernán Fernández hatten wir Don Mile bereits 2016 besucht, damals allerdings im Krankenhaus; inzwischen wohnte er in einer Seniorenresidenz und seine Tochter erzählte uns, dass ihm in der Woche nach unserem Interview die Ehrenbürgerschaft seines Wohnortes San Carlos verliehen werden würde. Denn Don Mile war eine bekannte Persönlichkeit in der Stadt, ein Mann der Solidarität, immer elegant, gut gekleidet und mit der Pfeife zwischen den Lippen oder in den Händen. Am Tag des Interviews wirkte er wie üblich mit einem strahlenden Lächeln, aber auch mit einem gewissen Widerstand dagegen, sich an die schwierigen Momente seines Lebens zu erinnern. Wir nahmen das Interview auf, in den Pausen aßen wir gemeinsam Kuchen und tranken Tee, er erzählte uns von seiner Kindheit in Mazedonien, wo er Schafe und Ziegen hütete, er erzählte uns vom Krieg und zeigte uns die Tätowierung auf seinem Arm, die dazu dienen sollte, im Falle seines Todes bei einem Bombenangriff erkannt zu werden.
Er erzählte uns auch, dass er dank der ’schlechten Wörter‘, die ihm von Freunden und Kollegen beigebracht wurden, die er bei seiner Ankunft im Land traf, gelernt habe, ‚chilenisch zu sprechen‘. Als wir uns an diesem Nachmittag von Don Mile verabschiedeten, gingen wir mit dem Bewusstsein, dass wir eine großartige Lebensgeschichte aufgezeichnet haben, denn trotz der Kürze von Don Miles Bericht bleibt damit das Zeugnis vom Leben eines großen Mannes und eines Überlebenden von so vielen verschiedenen Schlachten erhalten.‘
Es ist uns eine Ehre, durch dieses Projekt eine Aufzeichnung seiner Lebensgeschichte bewahren zu können.“
Das Interview soll 2021 im Oral History-Archiv der FU öffentlich zugänglich sein.
Quelle: Dieser Text besteht zum Teil aus Auszügen eines unveröffentlichten Manuskriptes: Dieter Maier; Luis Narvárez: Die Kartei des Terrors (unveröffentlichtes Manuskript).
Bild aus dem chilenischen Nationalarchiv, Bildrecht: CDPHB
David Bartels ist stellvertretender Leiter des Referats für Grundsatzfragen mit Bezug auf Lateinamerika und die Karibik im Auswärtigen Amt. Im Sommer 2018 kam er von seinem Posten in Washington nach Berlin und ist seither für das Thema Colonia Dignidad im Auswärtigen Amt zuständig. Im Sommer 2020 geht es für Bartels gemäß des Rotationsprinzips auf seinen nächsten Posten nach Riga. Im Interview zieht er Bilanz über die letzten Jahre und erzählt u.a. von der Rolle des Auswärtigen Amtes in der Geschichte der Colonia Dignidad, seiner Arbeit im Ministerium und von den Auswirkungen von COVID-19 auf die Aufarbeitung der Colonia Dignidad heute.
Interview mit David Bartels vom Auswärtigen Amt zum Thema Colonia Dignidad
Meike Dreckmann: Lieber Herr Bartels, für viele Leser*innen ist die Arbeit einer obersten Bundesbehörde wie dem Auswärtigen Amt nur abstrakt vorstellbar. Könnten Sie uns einen kurzen Einblick in Ihren Arbeitsalltag geben? Wie müssen wir uns Ihre Zuständigkeit für das Thema Colonia Dignidad vorstellen?
David Bartels, Auswärtiges Amt
David Bartels: Ich bin stellvertretender Leiter des Referats für Grundsatzfragen mit Bezug auf Lateinamerika und die Karibik sowie direkt zuständig für die bilateralen Beziehungen zu Argentinien und Chile. Daher kommt auch meine Zuständigkeit für die Colonia Dignidad. In meinem Arbeitsalltag beschäftige ich mich viel mit Berichten und Analysen aus den Staaten, für die ich zuständig bin. Ich stehe in Kontakt zu den Botschaften Chiles und Argentiniens und bereite z.B. Gesprächsunterlagen und Sachstände für hochrangige Kontakte vor. Der Schwerpunkt wechselt ständig. Es gibt Zeiten, da dominiert das Thema Colonia Dignidad deutlich. Und auch hier gibt es viele Unterbereiche. Die Arbeit rund um die Gemeinsame Kommission von Bundestag und Bundesregierung hat viel Zeit in Anspruch genommen, als das Hilfskonzept erstellt wurde. Zuletzt gab es mehr für mich zu tun bei der bilateralen Zusammenarbeit mit der chilenischen Regierung, z.B. zur Frage der Errichtung einer Dokumentations- und Gedenkstätte für die Opfer der Colonia Dignidad.
MD: Wann sind Sie persönlich erstmals mit dem Thema Colonia Dignidad in Berührung gekommen?
DB: Privat als Kind oder Jugendlicher. Da war das für mich einfach eine schreckliche, aber auch irgendwie schwer vorstellbare Geschichte aus einem fernen Land. Im Amt dann erst wieder im Sommer 2018, als ich meinen jetzigen Posten übernahm. Je mehr ich mich in die Thematik einarbeitete, desto furchtbarer wurde das Bild dessen, was dort geschehen ist.
MD: Welche Rolle hat das Auswärtige Amt in der Geschichte der Colonia Dignidad aus Ihrer Sicht gespielt?
DB: Es sind schwere Fehler gemacht worden, gar keine Frage. Ich habe mir viele Akten dazu durchgelesen, um zu verstehen, was in den Köpfen der Kolleg*innen damals an der Deutschen Botschaft oder auch in der Zentrale in Bonn vor sich ging. Und da habe ich gemerkt, dass es eine große Bandbreite gibt. Manches ist für mich unerklärlich. Bei anderen Akten sieht man aber auch, dass da Beamte mit sich selbst gerungen haben. Und dann gab es auch eine Zeit in den 1980er-Jahren, als das Auswärtige Amt unter dem damaligen Minister Genscher wirklich alles versuchte, um Licht in das Dunkel rund um die Colonia Dignidad zu bekommen. Das blieb erfolglos, denn der Diktator Pinochet wollte natürlich nicht zulassen, dass dann alle Gräueltaten bekannt würden. Alles in allem würde ich sagen: Man muss wirklich den Fall des einzelnen Beamten sehen, der da gehandelt hat. Aber unterm Strich wurden eben auch gravierende Fehler gemacht, so dass es da ganz sicher zumindest eine moralische Mitverantwortung des Auswärtigen Amtes gab.
MD: Im April 2016 hat Frank-Walter Steinmeier, damals noch als Außenminister, über die Verantwortung an den in der Colonia verübten Verbrechen gesagt, dass seitens des Auswärtigen Amtes „eindeutig zu wenig für den Schutz ihrer Landsleute in dieser Kolonie getan“ wurde. Was hat die Rede von Steinmeier damals rückblickend für Sie/Ihre Arbeit verändert?
DB: Ich war im April 2016 noch in Washington auf Posten, da habe ich das nur am Rande mitbekommen. Diese Rede bleibt aber bis heute für unsere Arbeit ganz wichtig. Wenn es dieses Bekenntnis von „ganz oben“ nicht gegeben hätte, hätten wir als Beamte uns gegenüber den Opfern zu dieser Frage schwer positionieren und allenfalls auf unsere persönliche Meinung verweisen können.
MD: Haben Sie den Eindruck, dass im Auswärtigen Amt aus den Fehlern im Umgang mit der Colonia Dignidad gelernt werden kann? Wurde das Thema wie angekündigt in den Lehrplan für angehende Diplomat*innen aufgenommen?
DB: Das glaube ich ganz sicher. Man sieht das vielleicht außen nicht so, aber das Thema Colonia Dignidad hat im Amt sehr viele Leute, bis an die Spitze des Amtes, beschäftigt. So etwas behält man im Gedächtnis. In einer vergleichbaren Lage würde man sich daran erinnern und sich sagen: Wir müssen um jeden Preis verhindern, dass sich so etwas wiederholt. Die Auseinandersetzung mit der Colonia Dignidad und dem Verhalten des Auswärtigen Amts damals ist heute in der Tat fester Bestandteil der amtsinternen Ausbildung. Es gibt dazu z.B. in der Diplomatenakademie in Tegel Veranstaltungen, teils im Rahmen der Attaché-Ausbildung, teils auch laufbahnübergreifend, zu denen auch Personen eingeladen werden, die dem Thema auf unterschiedliche Weise verbunden sind.
MD: Haben Sie selbst auch Reisen nach Chile unternommen?
DB: Ich konnte im November 2019 nach Chile reisen und war auch mit einer Kollegin aus der Botschaft in der Villa Baviera. Mir war das vorher von Kolleg*innen, die schon dagewesen waren, als ein sehr berührendes Erlebnis beschrieben worden. Und das stimmte wirklich. Da waren diese Folterstätten und die vielen Berichte von Misshandlungen, Demütigungen und Angst. Und dann tritt man vor die Tür und hat diese wunderschöne Landschaft vor Augen. Es war sehr beklemmend, aber auch sehr ergreifend, mit den Menschen einmal direkt zu sprechen, über die ich sonst nur ganz abstrakt in Akten und Berichten gelesen hatte.
MD: Mit welchen „Opfergruppen“ haben Sie dort gesprochen und wie ist die Auswahl zustande gekommen?
DB: Wir hatten über die Botschaft angeboten, über das Hilfskonzept zu informieren. Ich wollte dafür werben, dem Konzept eine Chance zu geben und mit uns zusammenzuarbeiten, ungeachtet aller – verständlichen – Vorbehalte und Kritikpunkte. Dazu gab es einen Termin außerhalb der Villa Baviera, am Folgetag einen innerhalb, wobei beide offen für sämtliche potenziellen Antragsteller*innen waren. Eine Familie haben wir noch separat getroffen, weil sie es terminlich anders nicht einrichten konnte. Uns war wichtig, dass sich keine Gruppierung bevorzugt oder benachteiligt fühlen sollte. In Deutschland gab es eine ähnliche, ebenfalls gut besuchte Veranstaltung in Hannover während eines vom Auswärtigen Amt geförderten Treffens eines Unterstützungsverbandes für Colonia Dignidad-Opfer.
MD: Und haben Sie auch mit chilenischen Opfergruppen gesprochen? Also etwa den Überlebenden von Folter, den Angehörigen von in der Colonia Verschwundenen, oder denjenigen Chilenen, die als Kinder noch in den 1990er-Jahren sexualisierte Gewalt durch Paul Schäfer erlitten?
DB: Ja, in Chile waren einige – allerdings wenige – Chilen*innen dabei, die in der Colonia Dignidad missbraucht worden waren, ohne dort gelebt zu haben; und auch Zwangsadoptierte. Außerdem gab es per E-Mail danach Kontakt mit einigen, die Fragen zum Hilfskonzept hatten.
MD: Viele Menschen beschreiben, dass sie die Arbeit zum Thema Colonia Dignidad auch persönlich immer wieder herausfordernd erleben. Gab es auch Momente, die Sie persönlich frustriert haben?
DB: Ja, ganz klar. In der Gemeinsamen Kommission haben Abgeordnete und Ressorts wirklich alles versucht, um das Hilfskonzept so auszugestalten, dass die Betroffenen es auch würden annehmen können. Und dann gab es aber Momente, wo wir einfach rechtlich an Grenzen stießen. Schlimmer aber waren die persönlichen Berichte, die einen wirklich über den Dienst hinaus verfolgen. Es ist ja ein Unterschied, ob man etwa in Berichten abstrakt über Familientrennungen liest oder dann von einem Menschen hört, der als Kleinkind von seiner Mutter getrennt wurde und sie lebend nicht mehr wiedergesehen hat. Oder von älteren Männern hört, wie sie als kleine Jungs immer und immer wieder missbraucht wurden. Ich kann nicht ansatzweise ahnen, was die Menschen, die das alles haben durchmachen müssen, auch seelisch darunter zu leiden haben mussten und immer noch müssen.
MD: Und gibt es etwas, dass Sie mit Blick auf das Thema positiv stimmt?
DB: Ich habe das Gefühl, dass das Hilfskonzept vielen Betroffenen wirklich etwas bringt. Ganz klar: Es gibt viel Kritik und Verbitterung, und das muss man respektieren. Aber ich habe das Gefühl, dass viele doch als eine Art Abschluss empfinden, was nun geschieht: dass der Staat, besonders das Auswärtige Amt, seine moralische Mitverantwortung öffentlich eingestanden hat; dass er Menschen zu Ihnen schickt, denen sie ihre Leidensgeschichte berichten können, wenn sie das wollen und dazu in der Lage sind; dass mit den Zahlungen wenigstens eine Geste erfolgt, die über Worte hinaus anerkennt, was diese Menschen haben durchleiden müssen. Ich hoffe einfach, dass möglichst viele Ex-„Colonos“ auch dadurch ein bisschen Genugtuung und Frieden finden. Wir müssen Ihnen aber weiterhin zeigen, dass das Thema Colonia Dignidad damit nicht für uns erledigt ist, z.B. über die Errichtung der Dokumentations- und Gedenkstätte.
MD: Die Entscheidung darüber, dass nun doch Hilfszahlungen an einige Opfer der Colonia Dignidad gezahlt werden, ist nicht gleich gefallen. Im Gegenteil, es war ein langer Aushandlungsprozess. Wie ist es aus Ihrer Sicht letztendlich doch dazu gekommen? Können Sie uns einen Einblick in Ihre Perspektive auf den Prozess geben?
DB: Auch hier muss ich darauf verweisen, dass ich erst Mitte 2018 ins Referat stieß. Da war bereits die Entscheidung gefallen, Hilfszahlungen zu leisten. Es war vorher lange Zeit unklar, auf welcher rechtlichen Grundlage Zahlungen erfolgen könnten. Bei aller moralischen Mitverantwortung des Auswärtigen Amtes: Hier handelte es sich ja um Verbrechen, die nicht der deutsche Staat, sondern deutsche Privatpersonen verübt hatten, noch dazu im Ausland und ohne eine realistische Möglichkeit – auch wenn manche das anders sehen –, das alles von Deutschland aus zu stoppen. Das musste erst einmal rechtlich möglich gemacht werden.
MD: Vor einigen Wochen wurden tatsächlich die ersten Hilfsgelder an einige Opfer der Colonia Dignidad ausgezahlt. Wie sind Sie bei der Verteilung vorgegangen?
DB: Der Auszahlungsprozess wird derzeit so zügig wie möglich fortgesetzt. Beauftragt damit ist die Internationale Organisation für Migration (IOM). Sie führt Gespräche mit Betroffenen. Dann wird geprüft, ob wir etwa belastbare und ernsthafte Erkenntnisse haben, dass es sich bei der Person vielleicht nicht um ein „Opfer“ handeln könnte. Ansonsten können die Gelder ausgezahlt werden.
MD: Wie ist dieser Geldbetrag über bis zu 10.000 € zustande gekommen?
DB: Da hat sich die Gemeinsame Kommission an anderen Regelungen für Opfer verschiedener Verbrechen orientiert, wie ich schon erklärt habe. Es ist natürlich allen klar ist, dass kein Geld der Welt das erlittene Leid der Betroffenen aufwiegen kann. Aber es handelt sich um eine Hilfsleistung, die gleichzeitig eine Geste der Anerkennung des Leids sein soll.
MD: Welche Auswirkung hat die weltweite Ausbreitung von COVID-19 auf die Auszahlungen der Hilfsgelder an die Opfer der Colonia Dignidad?
DB: Würden wir weitermachen wie bisher, würde das Verfahren wohl ins Stocken geraten. Die persönlichen Gespräche zwischen IOM und Betroffenen sind ja ganz wichtig. Aber mit den jetzigen Reisebeschränkungen und angesichts der Tatsache, dass viele Ex-„Colonos“ alters- oder gesundheitsbedingt Risikogruppen angehören, sind persönliche Besuche kaum noch möglich. Deshalb freue ich mich, dass die Gemeinsame Kommission zugestimmt hat, dass solche Gespräche jetzt auch telefonisch ermöglicht werden, wobei persönliche Besuche dann später nachgeholt werden sollen. Entscheiden müssen das die Betroffenen selbst.
MD: Welche Hilfsleistungen hat das Auswärtige Amt neben dem Geldbetrag festgelegt?
DB: Da ist vor allem noch der Fonds „Pflege und Alter“. Wir hatten in der Vergangenheit schon pflegebedürftige Menschen in der Villa Baviera unterstützt. In Deutschland greifen zumindest die funktionierenden Sozial- und Gesundheitssysteme für Betroffene. Der Fonds eröffnet jetzt die Möglichkeit, vor allem denjenigen Ex-„Colonos“, die in Chile außerhalb der Villa Baviera leben, auch eine menschenwürdige Pflege zukommen zu lassen, indem z.B. Zahlungen direkt an Pflegeeinrichtungen geleistet werden können. Nicht unbedingt „Hilfsleistungen“, aber ebenfalls wichtige Projekte sind die geplante Dokumentations- und Gedenkstätte, das laufende Projekt „Oral History“ des Lateinamerika-Instituts der FU Berlin oder auch verschiedene Dialogseminare, die das Auswärtige Amt fördert.
MD: Wo sieht sich das Auswärtige Amt hingegen nicht in der Verantwortung?
DB: Das Auswärtige Amt ist vor allem nicht für die Verbrechen selbst, die in der Colonia Dignidad verübt worden sind, verantwortlich. Ich verstehe die Verbitterung gegenüber dem Amt bei vielen Opfern sehr gut. Aber ich habe auch Äußerungen erlebt, die in die Richtung gingen, dass die Botschaft oder jedenfalls die Bundesregierung damals in Bonn das Schäfer-Regime einfach hätten beenden können, wenn man nur gewollt hätte. Das halte ich wirklich für ausgeschlossen, zumal das Auswärtige Amt ja in den 1980er-Jahren, wie schon gesagt, dann tatsächlich alles versucht hatte, um die Strukturen der Colonia Dignidad aufzubrechen und den „Colonos“ zu helfen; leider vergebens.
MD: In der heutigen Villa Baviera leben inzwischen viele Familien. Diejenigen, die Kinder bekommen konnten, fühlen sich heute mit der Kindererziehung oft überfordert. Bei wem können sie sich Hilfe holen? Hat jemand einen Blick auf die dritte Generation, die gerade mit ihren traumatisierten Eltern in Chile heranwächst?
DB: Das Auswärtige Amt bietet über die Botschaft psychologische Unterstützung an, z.B. werden Therapien bezahlt – für einzelne Personen, aber auch für Familien. Aber man muss da realistisch sein: Weder das Amt noch die Botschaft können in jeder Lebenslage zur Hilfestellung bereit stehen. Dafür haben wir weder die Expertise, noch die Mittel. Das heißt nicht, dass wir solche Probleme nicht ernst nehmen würden. Wir müssen prüfen, ob und was da geleistet werden könnte.
MD: Sie kennen die Einzelheiten der Colonia Dignidad gut. Sie wissen sicherlich, dass es zahlreiche chilenische Zeugen gibt, die aussagen, dass sie von dem damaligen Arzt der Gruppe, Hartmut Hopp, als Kinder mit Psychopharmaka ruhiggestellt wurden, bevor sie sexualisierter Gewalt durch Schäfer ausgesetzt wurden. Diese Zeugen wurden nie in Deutschland gehört. Trotz aller Vorwürfe verteidigen einige ehemalige Colonia-Anhänger*innen den Arzt bis heute. Andere halten es für schlicht unerträglich, dass der Mann juristisch in Deutschland nie belangt wurde. Können Sie die Entscheidung des Oberlandesgerichts nachvollziehen?
DB: Ich kann nur sagen: Natürlich habe ich eine persönliche Meinung dazu. Aber für uns als Bundesregierung gilt, dass wir uns in die Arbeit und Entscheidungen der Justiz nicht einmischen können und dürfen. Und das ist in einem demokratischen Rechtsstaat auch grundsätzlich richtig so, auch, wenn es im Einzelfall manchmal sehr bitter sein kann, dann schweigen zu müssen.
MD: Geht das Auswärtige Amt noch Hinweisen nach dem Vermögen nach, welches Paul Schäfer angehäuft und versteckt haben soll?
DB: Ja, aber das ist ein sehr schwieriges Unterfangen – wie übrigens eigentlich alles, was mit Vermögensanteilen, Eigentumsverhältnissen usw. rund um die ehemalige Colonia Dignidad oder die heutige Villa Baviera zu tun hat. Vereinfacht gesagt: Immer, wenn man meint, etwas durchschaut zu haben, tuen sich neue Untiefen und Verästelungen auf. Dazu kommen manchmal abenteuerlich anmutende Gerüchte und Verdächtigungen. Mein Eindruck ist, dass wir noch sehr lange damit zu tun haben werden. Zumal es in der Regel ja gerade nicht um in Deutschland geparkte Vermögenswerte geht, die wir mit deutschem Recht aufklären könnten.
MD: Es ist üblich für Mitarbeitende des Auswärtigen Amtes alle paar Jahre ihren Zuständigkeitsbereich nach dem Rotationsprinzip zu wechseln. Ein solcher Wechsel steht auch Ihnen bald bevor. Wenn Sie heute hier ein Resümee ziehen müssten, wie würde dies mit Blick auf die Aufarbeitung der Colonia Dignidad ausfallen?
DB: Stimmt, im Sommer geht es für mich an die Botschaft nach Riga. Ich muss sagen, das Thema Colonia Dignidad hat mich viel stärker berührt als irgendetwas sonst, womit ich im Auswärtigen Amt je zu tun gehabt hätte. Ich glaube, das geht allen so, die sich damit ausführlicher beschäftigen. Aber so schrecklich das Thema an sich war und ist, kann ich rückblickend auch manches Positive sehen: Das Hilfskonzept wird umgesetzt und kann Opfern der Colonia Dignidad wirklich helfen. Und in der Gemeinsamen Kommission war ich sehr beeindruckt davon, wie nachdrücklich und leidenschaftlich Abgeordnete und Regierungsvertreter*innen, immer stärker gemeinsam, zusammengearbeitet haben, um das bestmögliche Konzept auf die Beine zu stellen. Ich hoffe einfach, dass die Hilfe weiterhin angenommen wird und möglichst viele Opfer der Colonia Dignidad damit auch ein Stück weit Frieden finden können.
Peter Rahl bei Renovierungsarbeiten im neuen Haus in Gronau, Copyright: Peter Rahl/CDPHB
Peter Rahl verbrachte 32 Jahre seines Lebens in der Colonia Dignidad in Chile. Inzwischen lebt er mit seiner siebenköpfigen Familie im nordrhein-westfälischen Gronau. In diesem Interview erzählt er aus seinem Leben nach der Colonia Dignidad, von den Herausforderungen in der neuen Heimat, von Unterstützer*innen, den Hilfsgeldern aus den Mitteln des Deutschen Bundestages und seinen Wünschen für die weitere Aufarbeitung der Geschichte.
Meike Dreckmann-Nielen im Gespräch mit Peter Rahl über sein Leben nach der Colonia Dignidad
Meike Dreckmann-Nielen: Herr Rahl, Sie leben inzwischen mit Ihrer Familie in Gronau. Könnten Sie für die Leser*innen kurz erklären, wann Sie in die Colonia Dignidad kamen, wie lange Sie dort gelebt haben und wann und warum Sie sich entschieden haben, die Villa Baviera zu verlassen?
Peter Rahl: Im Oktober 1973, im Alter von 17 Jahren, kam ich in die Colonia Dignidad. Ich wurde von meiner Mutter hingeschickt, um dem Wehrdienst in Deutschland zu entgehen. Nach 32 Jahren – im Jahr 2005 –, vier Jahre nach unserer Hochzeit, hatten wir die Möglichkeit mit unseren drei dort geborenen Töchtern die Colonia Dignidad für immer zu verlassen und nach Deutschland zu gehen. Der Hauptgrund war die „Schäfer-Treue“ der Komplizen Paul Schäfers, die inzwischen das Sagen in der Colonia Dignidad fest in ihren Händen hielten. Sie verteufelten jede Aufarbeitung der Vergangenheit strikt; sie logen genauso weiter, wie sie es unter Schäfer taten. Sie begünstigten ihre Kinder (einst Schäfers Sprinter) und verhalfen ihnen zu Posten, Geld und Macht in der Colonia Dignidad. Sie herrschten wie Füchse, die versuchten ihr Fell zu wechseln, nicht aber ihre Gesinnung.
MDN: Warum sind Sie nach Gronau gekommen?
PR: Ich hatte 16 Jahre als Kind in Gronau gelebt und meine Schulzeit hier absolviert. Außerdem lebten mein Vater und weitere Verwandte hier. Ingesamt einfach viele Menschen, die sich über Jahrzehnte für meine Befreiung aus der Sklaverei eingesetzt hatten.
MDN: Wie waren die ersten Jahre in Deutschland für Sie?
PR: Meine Frau und ich hatten uns nach der Ankunft in Deutschland die Frage gestellt: Sollen wir uns in die Arme des deutschen Sozialstaates fallen lassen? Oder mit allem Willen eine eigene unabhängige Existenz aufbauen? Wir entschieden uns für eine eigene Existenz, auch als Vorbild für unsere Kinder. Wir machten uns klar, dass wir in Chile zwei entscheidende Dinge gelernt hatten: arbeiten und verzichten! Auf dieser Basis können wir es schaffen, hatten wir beschlossen.
MDN: Was geschah daraufhin?
PR: Mit 50 stieg ich also ins deutsche Berufsleben ein, bekam eine Anstellung in der Baufirma einer ehemaligen Mitschülerin von damals hier in Gronau. Ich war als Montagearbeiter deutschlandweit unterwegs und schaffte es, unsere mittlerweile siebenköpfige Familie ohne staatliche Hilfe zu versorgen. Wir bekamen einen Kredit, um eine Bauruine zu erwerben. Wir haben sie in jahrelanger Feierabend-Arbeit renoviert und zu unserem Zuhause gemacht. Die Zeit war nicht nur körperlich sehr hart, weil wir bis spät in die Nacht am Haus bauten. Die Woche über von der jungen Familie getrennt zu sein und die heranwachsenden Kinder nur am Wochenende sehen zu können – das war auch sehr schwer. Wir lebten 5 Jahre auf einer Baustelle. Jahrelang hatte meine Frau nicht einmal warmes Wasser in der Küche, und das mit den Kleinen. Es war eine sehr harte Zeit, die wir aber nie bereut haben.
MDN: Ist die Vergangenheit von Ihrer Frau und Ihnen im familiären Alltag Thema?
PR: Nein – wir können nicht nach vorne marschieren und dauernd zurückschauen. Die Vergangenheit hat uns nichts mehr zu sagen, denn aus der Vergangenheit schöpfen wir keine Kraft. Sie hat uns unwiderruflich geprägt, dauerhaft geformt, seelisch und körperlich geschädigt und verkrüppelt. Sie hat als Vergangenheit ihren Platz in der vollendeten Vergangenheit.
MDN: Sie und Ihre Frau gehören zu den ersten ehemaligen Colonia-Anhänger*innen, die Hilfszahlungen aus den Mitteln des Deutschen Bundestages erhalten haben. Wie kam es Ihres Erachtens dazu, dass es nun doch Unterstützung für die Betroffenen gab?
PR: Es ist das unermüdliche Mahnen einiger verantwortungsvoller Politiker*innen, die ihr Gewissen nicht totgeschwiegen haben und die sich entschlossen, ihre Augen und Ohren nicht vor der Wahrheit zu verschließen. In Vertretung möchte ich Renate Künast (MdB, Bündnis 90/Die Grünen) und Michael Brand (MdB, CDU) danken für ihr eisernes Durchhaltevermögen. Sie haben den Deutschen Bundestag wachgerüttelt. Sie haben den gepeinigten Opfern und von den deutschen Behörden ignorierten Flehenden im Bundestag und in der Öffentlichkeit Gesicht und Namen gegeben. Meine Frau und ich danken ihnen aus tiefstem Herzen.
MDN: Bisher haben Sie 7000€ erhalten und potenziell können Sie weitere 3000€ beantragen. Lindert dieser Geldbetrag Ihre finanzielle Not?
PR: Nein, das ist aber auch nicht sein geplanter Zweck. Eine siebenköpfige Familie mit fünf schulpflichtigen Töchtern kann durch solch einen Geldbetrag kein anderes Leben führen oder den Kindern eine bessere Ausbildung ermöglichen. Die beiden Ältesten machen gerade ihren Führerschein: Damit sind 5000€ weg! Der Betrag ermöglicht es uns, dieses Jahr weniger Schulden zu machen.
MDN: Gibt es noch etwas, dass Sie sich für die weitere Aufarbeitung der Geschichte der Colonia Dignidad wünschen?
PR: Oh ja! Ich wünsche mir, dass die wenigen Menschen, die bis heute durch den Bann des Schweigens eine befreiende Wahrheitsaufarbeitung blockieren, endlich ihren Selbstschutz aufgeben und um der Wahrheit Willen reden, egal ob aus Krefeld oder aus Chile.
MDN: Gibt es noch etwas, dass Ihnen am Herzen liegt? Hier haben Sie Raum dafür.
PR: Ich möchte den Menschen hier in Ämtern, auf Behörden, in Gemeinden, in Schulen, auf Arbeitsstellen und im gesamten persönlichen Umfeld herzlich danken für die Unterstützung, die seelische Erbauung, die Spenden an Kleidung, Möbel und Nahrung, die Hilfestellungen im Zurechtfinden in dieser für uns neuen Gesellschafts- und Sozialordnung. Dafür möchte ich mich bedanken. Ihr habt uns unermesslich mehr „Reichtum“ geschenkt, als es sich je in einer Geldsumme erfassen ließe. Herzlichen Dank!
MDN: Vielen Dank, Herr Rahl!
PR: Gerne.
Mehr zum Thema (Auswahl):
Zum Interview mit Renate Künast über ihre Arbeit hier entlang.
Das Interview mit Elke Gryglewski über die Planung einer Gedenkstätte in der ehemaligen Colonia Dignidad finden Sie hier.
Ein Bewohner vor einer Sauna in der ehemaligen Colonia Dignidad
Im März 2020 feierte der Dokumentarfilm „Songs of Repression“ von den Filmemacher*innen Marianne Hougen-Moraga und Estephan Wagner Premiere auf dem diesjährigen Internationalen Dokumentarfilmfestival Kopenhagen (CPH:DOX). Dort gewann er gleich zwei Preise: einen für den besten dänischen Film (Politiken:Dok:Award) und den Hauptpreis des Festivals, den DOX:Award. Ende dieser Woche läuft er auch (online) beim DOK.fest in München an.
Inzwischen hat es zahlreiche dokumentarische und journalistische Filmprojekte zum Thema Colonia Dignidad gegeben. „Songs of Repression“ nähert sich der Thematik aus einem besonderen Blickwinkel: Er nimmt die Erinnerungen der bis heute in der ehemaligen Colonia Dignidad lebenden Menschen in den Blick. Er schaut sich an, wie die Menschen ihrer Vergangenheit in der Colonia Dignidad rückblickend Sinn verleihen. Dabei bemüht er sich nicht darum, eine detaillierte Chronik der historischen Ereignisse zu zeigen. Er nimmt vielmehr die individuellen Bewältigungsstrategien in den Fokus. Die Geschichten der Sprechenden erzählen von unterschiedlich erfolgreichen Strategien: von Verdrängung, Verleugnung, Reue, Schuld, über Trauer, Überforderung; hin zu kleinen Freuden, Hoffnung und Sehnsucht.
Drei Männer in der Villa Baviera beim Musizieren, Foto: Wagner & Hougen-Moraga
Musik durchzieht den Film als zentrales Motiv wie ein roter Faden. Deshalb auch der Titel „Songs of Repression“, welchen die Filmemacher*innen für den 90-minütigen Film gewählt haben. Die Rolle der Musik habe die Filmemacher*innen besonders beschäftigt, weil sie als etwas „eigentlich schönes und freies“ in der Colonia Dignidad auch zu einem Werkzeug der Repression verwandelt worden sei.
Die Berliner Professorin für Musiktherapie, Susanne Bauer, war nach der Festnahme Paul Schäfers Teil eines Psychotherapeut*innen-Teams, welches die Menschen der Colonia Dignidad psychotherapeutisch betreute. In einem Aufsatz zur Rolle von Musik in der Colonia schreibt sie:
Sie [die Musik, Anm. MD] war in vielen Fällen ein Mittel zur Unterdrückung, Demütigung und Beschämung, gleichzeitig aber auch ein Gegenmittel zu so mancher malignen Intention von Sektenführer Schäfer. In und mit ihr konnte man gute Gefühle spüren, die nicht einfach zunichte gemacht oder weggenommen werden konnten. (1)
Bis heute polarisiert das Thema Musik in der ehemaligen Colonia Dignidad. Während einige bis heute Freude an Chor-Gesang haben, musizieren manche lieber alleine und wieder andere schließen kategorisch für sich aus, jemals wieder singen zu wollen. Was manche rückblickend als gemeinschaftsstiftend empfanden, wirkt bei anderen schon bei dem Gedanken daran retraumatisierend. Zu schmerzhaft die Repressionen, die sie in Chor oder Orchester erleben mussten. Wieder anderen ist die Musik ein Rückzugsort, an den sie sich zurückziehen, um ihre Vergangenheit für einen Moment ruhen zu lassen. „Songs of Repression“ gibt all diesen Empfindungen Raum und lässt sie dennoch nie alleine stehen. Denn jede Geschichte einer Person ist nur einen präzisen Schnitt von einer anderen Perspektive entfernt.
Was der Film leider nicht berücksichtigt, ist die Bedeutung von klassischer Musik für chilenische Oppositionelle, die während der Militärdiktatur zu Stücken von Tschaikowsky oder Mozart in der Colonia Dignidad gefoltert worden sind. Eine Geheimdiensttechnik, die den „Schwanensee“ oder „Eine kleine Nachtmusik“ in zynische Waffen gegen Menschen verwandelte.
Chor singt auf dem Friedhof der Villa Baviera, Foto: Wagner & Hougen-Moraga
Insgesamt ist ein beeindruckend aufmerksamer und sensibler Dokumentarfilm entstanden, dem es gelingt, vielschichtige Facetten von Erinnerungen an ein totalitäres System einzufangen. Ein Film mit viel Empathie für die traumatischen Erfahrungen Einzelner, aber vor allem mit einem kritischen und differenzierten Blick auf die komplexen Zusammenhänge der konfliktbehafteten Erinnerungskultur in der heutigen Villa Baviera. Spannend ist dabei, dass ihm das nahezu ausschließlich mit den Erinnerungen von Zeitzeug*innen gelingt. Während andere Produktionen manchmal versuchen, die Moral mit dem Vorschlaghammer einzubläuen und damit Gefahr laufen, den Blick für die Komplexität des Themas zu verlieren, gelingt es dieser Produktion viel subtiler, sich an den Kern erinnerungskultureller Aushandlungsprozesse heranzutasten.
Estephan Wagner und Marianne Hougen-Moraga
Die beiden Regisseur*innen Marianne Hougen-Moraga und Estephan Wagner sind ein Paar und leben heute in Kopenhagen. Sie ist Dänin-Chilenin und er Deutsch-Chilene. Das Thema Colonia Dignidad beschäftigt sie nicht erst seit dem gemeinsamen Filmprojekt „Songs of Repression“. Beide begegneten der Colonia Dignidad bereits im Kindes- und Jugendalter. Allerdings aus zwei gegensätzlichen Perspektiven, die vielen Chile*innen bekannt vorkommen dürften. Wagner kannte die Gruppe um Schäfer von dem Familienrestaurant „Casino Familar“, welches die Colonia in der chilenischen Stadt Bulnes betrieb. (2) Auf dem Weg in den Urlaub nach Südchile wählte seine Familie das Restaurant der deutschen Siedler*innen, weil ihnen das deutsche Essen schmeckte und ihnen der Ort gefiel. Seine Familie verteidigte die Gruppe und ihr Vorzeige-Image gegen Anfeindungen und Vorwürfe. Hougen-Moragas Familie hingegen kannte früh die Gerüchte von dem Folterlager, welches der chilenische Geheimdienst DINA in der Colonia Dignidad eingerichtet hatte. Sie wusste, dass in der Colonia Dignidad im Auftrag der Militärdiktatur Augusto Pinochets gefoltert und gemordet wurde. Sie wuchs bei ihrer Mutter im dänischen Exil auf und kannte die Warnungen vor der Gruppe um Paul Schäfer.
Als die beiden Filmemacher*innen sich in ihren 30ern kennenlernten, hatten sie längst begonnen, die Geschichten über die Colonia Dignidad weiter zu hinterfragen. Beiden war klar: Sie wollten sich von einem Schwarz-Weiß-Bild ihrer Kindheit und Jugend lösen und die komplexen Facetten in den Blick nehmen, welche die Geschichte der Colonia Dignidad mit sich bringt. Insgesamt besuchten sie die heutige Villa Baviera und ihre Bewohner*innen über einen Zeitraum von dreieinhalb Jahren in regelmäßigen Abständen. Gemeinsam mit ihren Kindern zogen sie für sechs Monate in die nähergelegene Stadt Chillán. Sie ließen die Menschen sprechen und luden sie ein, ihre Sichtweisen auf die eigene Vergangenheit zu teilen. Dabei hatten sie das Ziel vor Augen, die Menschen zu verstehen und die Logik der historischen Sinngebungen zu begreifen.
Auf die Frage, wie Hougen-Moraga und Wagner ihre Interviewpartner*innen ausgewählt haben, hebt Wagner im Gespräch mit diesem Blog hervor:
Wir machen keine Interviews. Wir haben uns mit den Menschen unterhalten. Das ist für uns ein riesiger Unterschied. Denn das Wort Interview beinhaltet ein Machtgefälle zwischen Interviewendem und Interviewten. Wir haben oft und auch sehr lange mit den Menschen gesprochen. Auch ohne Kamera. Wir haben auch einen ganzen Monat die Kamera gar nicht rausgeholt. Viele sind selbst auf uns zugekommen, sobald sie Vertrauen gefasst hatten.
Hougen-Moraga und Wagner fanden unterschiedliche Bewältigungsstrategien für den Umgang mit eigenen Traumata vor:
We found that behind the attempt to create a paradise for themselves and for tourists, people living there have very different strategies for dealing with their traumas: from staying silent about the past and choosing only to remember the bright moments, to a desire to open up while being unable to vocalize their pain.
Zwei ältere einstige Colonia-Anhängerinnen auf der Pflegestation der Villa Baviera, Foto: Wagner & Hougen-Moraga
Die Frage danach, wer eigentlich Opfer des Systems und wer Täter*in war, gelangt dabei in den Hintergrund. Diese Entscheidung der Filmemacher*innen hätte in Anbetracht der mangelnden Aufarbeitung der Verbrechen problematisch ausgehen können. Ist sie aber nicht – ganz im Gegenteil: Die Zuschauerin spürt in jedem Moment die Verwicklungen der gezeigten Personen und ihre individuellen Aushandlungen mit der eigenen oft schmerzhaften und auch schuldaufgeladenen Vergangenheit. Bauchbinden mit Namen, Rolle und Verantwortung im historischen System Colonia Dignidad sind in diesem Film gar nicht nötig, während sie in anderen Doku-Formaten dringender vermisst wurden. „Songs of Repression“ braucht sie nicht, weil der Film nicht auf eine Kategorisierung in Schuld und Unschuld abzielt. Ein geschichtskultureller Drahtseilakt, bei dem die Filmemacher*innen die vielfältigen Bewältigungsstrategien der Betroffenen offenlegen, ohne die Sprechenden vorzuführen.
Eine weitere Besonderheit an diesem feinfühligen Dokumentarfilm ist, dass Wagner und Hougen-Moraga sich von den so genannten Talking Heads, sprechenden Köpfen, entfernt haben. Sie geben ihren Gesprächen mit den Betroffenen einen Kontext. Die Zuschauerin erhält einen Einblick in die Sekunden, manchmal Minuten vor dem offiziellen Beginn. Das verleiht den Aufnahmen eine Authentizität, wie sie Talking Heads und dramatische Erzähl-Stimmen nicht schaffen können. „Songs of Repression“ braucht auch keine dramatisierende Hintergrundmusik oder eine*n Sprecher*in, die das Unbeschreibliche weiter zuspitzt. Der Schmerz der Vergangenheit und die Bewältigungsstrategien sind derart spürbar, dass keine speziellen Effekte nötig sind. Einzig präzise Schnitte, die den Perspektivwechsel dann vornehmen, wenn er dramaturgisch nötig ist, um ein komplexeres Bild von den Menschen in der ehemaligen Colonia Dignidad zu zeichnen. Die filmische Inszenierung gelingt, weil viele Nuancen eingefangen wurden und die Menschen für sich selbst sprechen dürfen.
Bewohner der Villa Baviera, Foto: Wagner & Hougen-Moraga
Dieser souveräne Umgang mit einem erinnerungskulturellen Minenfeld liegt vielleicht auch in der Erfahrung mit problematischen Vergangenheiten begründet, auf die das Team der beiden Regisseur*innen Hougen-Moraga und Wagner zurückgreifen kann. Denn die Produzent*innen Joshua Oppenheimer und Signe Bryge Sørensen haben Erfahrung mit konfliktbehafteten Erinnerungskulturen und ihren vielschichtigen Ausprägungen. Sie wagten mit dem Dokumentarfilm „The Act of Killing“ (2012) eine umstrittene Annäherung an die Täter-Perspektive auf die Massaker in Indonesien 1965–1966.
Dokumentarfilm-Fans und Interessierte an der Geschichte der Colonia Dignidad sehen einen Film, der Ambivalenzen hervorhebt anstatt zu moralisieren. Aber auch ohne Geschehenes zu beschönigen. Der Film ist auf Augenhöhe mit den Betroffenen produziert worden. Und die Beziehung zwischen Filmemacher*innen und Dargestellten endete nicht mit seiner Fertigstellung. Denn Hougen-Moraga und Wagner flogen mit dem fertigen Film zunächst nach Chile, um ihn in der ehemaligen Colonia Dignidad vor der Premiere vorzuführen. Das hatten sie versprochen. Im Gespräch mit diesem Blog heben sie hervor:
Wir möchten weiterhin an dem Thema bleiben. Wir haben viel Kontakt zu den Menschen und wir haben Freundschaften geschlossen. Das ist uns ganz wichtig. Unser Interesse hört nicht auf, weil wir aufgehört haben zu drehen. Deshalb sind wir auch dorthin gefahren, um den Film zu zeigen. Das hat etwas mit Respekt zutun. Wir arbeiten auf eine Art und Weise, wo wir nichts verbergen wollen. Die Offenheit, und ich glaube, dass man das auch im Film merkt, ist uns ganz wichtig.
Was wie eine Kleinigkeit daherkommt, bedeutet den Menschen vor Ort eine Menge. Denn Vertrauen fällt den meisten bis heute nicht leicht. Und zuletzt war es für die Betroffenen häufig schwierig die Filme, Serien und Dokus, an denen sie häufig mitgewirkt haben, überhaupt zu sehen.
Vielversprechend wäre es auch, wenn Hougen-Moraga und Wagner einen zweiten Teil drehen würden – dieses Mal auch mit Perspektiven von außerhalb der Villa Baviera. Zum Beispiel mit explizitem Fokus auf die Erinnerungen der Familienangehörigen von in der Colonia Dignidad Verschwundenen. Oder auch mit Blick auf die Erfahrungen der chilenischen Jungen, die noch in den 1990er-Jahren im so genannten „Intensivinternat“ der Villa Baviera zu Opfern sexualisierter Gewalt durch Paul Schäfer geworden sind. Die politische, juristische, künstlerische und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Colonia Dignidad ist längst nicht abgeschlossen.
Sprachen: Deutsch und Spanisch, englische Untertitel
(1) Das Casino Familiar besteht bis heute und wird von der gegenwärtigen Villa Baviera geführt.
(2) Susanne Bauer, Über die Bedeutung und den Einfluss von Musik auf Menschen in extremen Lebenssituationen am Beispiel der Sekte ‚Colonia Dignidad‘ in Chile, in: Stephan Grätzel und Jann E. Schlimme (Hg.), psycho-logik, Jahrbuch für Psychotherapie, Philosophie und Kultur, Freiburg/München 2013, S. 217.
In den vergangenen Jahrzehnten sind einige Dokumentarfilme über die Colonia Dignidad (bspw. „Deutsche Seelen„), ein Spielfilm („Colonia Dignidad – Es gibt kein Zurück„) und zuletzt eine achtteilige Thriller-Serie („Dignity“) erschienen. Das mediale Interesse an der Geschichte der Colonia Dignidad hält an: Journalist*innen, Filmemacher*innen, Tourist*innen und Wissenschaftler*innen geben sich in der heutigen Villa Baviera ununterbrochen die sprichwörtliche Klinke in die Hand. Sie wollen mehr über die Geschichte der deutschen Gruppe im Süden Chiles erfahren.
Eine Doku-Serie von ARD und Arte möchte nun „die innere Dynamik der Colonia Dignidad“ zeigen und damit einen „tiefgreifenden“ Blick auf das individuelle Erleben einzelner Mitglieder werfen. Neben den einstigen Colonia-Anhänger*innen kommen in der dokumentarischen Serie auch Folteropfer, Kriminalbeamte und Nachbar*innen zu Wort. Im Mittelpunkt steht aber das von den Macher*innen als „Archiv der Hölle“ bezeichnete Quellenmaterial (Foto-, Film- und Tonaufnahmen), welches in der neuen Doku-Serie nun erstmals öffentlich gezeigt werden soll.
Das anonyme Kollektiv aufbrechen und das Individuum sichtbar machen
Die Doku-Serie, die am 10. März 2020 auf Arte und am 16. und 23. März 2020 im Ersten (anschließend in der Mediathek) zu sehen sein wird, will „eine deutsche Sekte am anderen Ende der Welt, die Menschlichkeit versprach und in der Unmenschliches geschah“ zeigen. Sie fragt nach dem individuellen Erleben der Mitglieder und lässt sie unabhängig von ihren Verwicklungen mit dem Schäfer-System in erster Linie über ihre einstigen Ängste, Sehnsüchte, Träume und die grausame Realität berichten. Die Geschichte beginnt mit den Anfängen in Nordrhein-Westfalen kurz nach dem Zweiten Weltkrieg und spannt einen Bogen in die Gegenwart der Siedler*innen. Der Schwerpunkt des gewählten Doku-Narrativs liegt damit besonders auf dem individuellen Erleben der ehemaligen deutschen Schäfer-Anhänger*innen, weniger auf den chilenischen Opfergruppen. Regisseurin Annette Baumeister dazu:
„Die Doku-Serie soll mit dem gängigen Klischee der roboterhaften, gesichtslosen Kolonisten brechen und sie als Menschen mit Namen, Gefühlen und Träumen zeigen.“
Der Alltag der Colonia-Anhänger*innen war jahrzehntelang geprägt von sexualisierter Gewalt, einem despotischen Strafsystem, harter unbezahlter Arbeit und dem Verbot von Familienleben. Die Siedler*innen führten ein von der Außenwelt abgeschirmtes Leben. Der unzensierte Zugang zu Büchern und Filmen, Fernsehen, Radio und zur Außenwelt blieb den Allermeisten verwehrt. Colonia-Leiter Paul Schäfer paktierte mit der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet. Er ließ den chilenischen Geheimdienst auf dem Gelände der Colonia Dignidad foltern und morden. Einige Siedler mussten Leichenteile aus- und umgraben, verbrennen und in einen Fluss in der Umgebung verstreuen. Willi Malessa sprach darüber erstmals vor ein paar Wochen in einem Bericht von ReportMainz. Viele von Schäfers Anhänger*innen wurden im Verlauf der Jahrzehnte selbst zu Täter*innen. Immer mehr Zeitzeug*innen sprechen offen darüber. Das gibt denjenigen chilenischen Familienangehörigen Hoffnung, die bis heute nicht wissen, wo ihre Kinder, Männer, Frauen, Brüder oder Schwestern geblieben sind.
Mädchen der Colonia bei einem Gruppentanz | Bild: WDR
Für das international aufwändig produzierte Gemeinschaftsprojekt arbeiteten die chilenische Produktionsfirma Surreal, die deutsche LOOKSfilm, der chilenische TV-Sender Canal13, sowie WDR, SWR und Arte zusammen. Das „exklusive“ Archivmaterial (Filmrollen, Tapes, Fotos) sei dem chilenischen Regisseur Cristían Leighton (Surreal Film) von dem ehemaligen Colonia-Mitglied Wolfgang Müller vor etwa fünf Jahren übergeben worden. Müller hatte für Paul Schäfer eine Art Film- und Aufnahmeabteilung in der Colonia geführt. Insgesamt handele es sich bei dem Material um 400 Stunden Film-, 100 Stunden Ton- und rund 9.000 Fotoaufnahmen. Sie seien in einem schlechten Zustand gewesen und hätten umfassend restauriert und digitalisiert werden müssen, um das „deutsch-chilenische Drama in einer Serie erzählen“ zu können.
Kritik an der Nutzung des Archivmaterials seitens der Wissenschaft
Kritik an dem Projekt kam vor allem von Wissenschaftler*innen. Sie hätten sich die frühzeitige Übergabe des Archivmaterials an eine öffentliche Institution gewünscht. Vor allem, weil die juristische Verfolgung der in der Colonia Dignidad begangenen Verbrechen längst nicht abgeschlossen ist. Das wissen auch ARD und Arte: „Vieles liegt im Dunkeln, viele Verbrechen, die in der Colonia Dignidad begangen wurden, sind nicht aufgeklärt.“, schrieben die Pressestellen. Die Aufarbeitung stockte immer wieder und nicht zuletzt, weil es u.a. an Beweismaterial fehlte. Die Rechtsanwältin Petra Schlagenhauf kritisiert außerdem eine unzureichende Handlungsbereitschaft seitens der Justiz, um die Verbrechen aufzuklären. Ob das Material aus dem „Archiv der Hölle“ überhaupt juristisch relevant sein könnte, wird bald in Chile geprüft. Das Rohmaterial sei laut dem Produzenten Gunnar Dedio bereits auf dem Weg nach Chile. Auf die abschließende Digitalisierung und Verschlagwortung des Materials durch die Produktionsfirmen warte die chilenische Justiz allerdings noch, um es dann für die eigene Prüfung zu nutzen.
Der Politologe Jan Stehle vom Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika e.V. hätte sich die Nutzung des Materials andersherum gewünscht:
„Der Aufarbeitung der Geschichte der Colonia Dignidad wäre es zuträglicher gewesen, wenn das Vorgehen transparent verlaufen wäre: Erst die Übergabe an die Justiz und an eine öffentliche Institution zur Auswertung durch die Wissenschaft. Einer gleichzeitigen Nutzung für Filmprojekte wäre nichts im Wege gestanden. Dass nun aber die Justiz und die Wissenschaft auf die Aufbereitung des Materials durch eine kommerzielle Produktionsfirma warten, und letztere ein Narrativ über das de-facto von ihr privatisierte Material bereits vorlegt, halte ich für ein Vorgehen, dass der Aufarbeitung eher abträglich ist.„
Für die beteiligten Produzent*innen ist die Lage aber eindeutig. Gunnar Dedio wies auf die immens hohen Kosten hin, welche die Bearbeitung des Materials durch mehrere Mitarbeiter*innen in den vergangenen vier Jahren bedeutet habe. Den Aufwand, den seine Firma im Auftrag von ARD und Arte betrieben habe, hätte keine öffentliche Institution in dem Maße aufbringen können. Mit dieser Einschätzung liegt der Film-Produzent vielleicht nicht falsch. Denn das Auswärtige Amt hat in den vergangenen Jahrzehnten bewiesen, dass die Bereitstellung von Finanzmitteln für die Aufarbeitung der Geschichte der Colonia Dignidad mit größter Zurückhaltung erfolgt.
Das Museo de la Memoria in Santiago de Chile oder das chilenische Nationalarchiv wären mögliche Orte, um das originale und das digital aufbereitete Material zu archivieren. Die Institutionen müssen allerdings ohnehin mit prekären Mitteln haushalten. Ob sich eine der Einrichtungen es nun leisten kann, das bearbeitete Material von der Produktionsfirma LOOKSfilm in irgendeiner Form abzukaufen, wäre die nächste Frage. Gunnar Dedio erklärte aber, dass die Übergabe des Materials an eine geeignete Institution bereits geplant werde. Er kündigte sogar an, dass er sich mit Partner*innen zusammentun wolle, um nicht nur das „Archiv der Hölle“, sondern auch Archivmaterial anderer Stellen an einem Ort bereitzustellen. Weitere Informationen sollen nach der Ausstrahlung der Doku-Serie folgen.
Geschichtspolitisch umkämpftes Feld
Den Produzent*innen der Doku-Serie ist es gelungen, Zeitzeug*innen zu interviewen, die sich bisher nicht vor die Kamera getraut haben. Das gezeigte Material ermöglicht es den Zuschauer*innen auf anschauliche Art und Weise, einen Einblick in den Alltag der Siedler*innen in der Colonia Dignidad zu erhalten. Colonia-Leiter Paul Schäfer hatte in Auftrag gegeben, den Alltag seiner Anhänger*innen in meist geschönten Situationen auf Ton-, Foto- und Videoaufnahmen festzuhalten. Zum einen, um Propaganda-Material für die Presse bereitzuhalten und zum anderen sicherlich auch aus narzisstisch motivierter Eitelkeit. Schaurig kommen die originalen Tonaufnahmen Schäfers daher, in denen er Frauen als minderwertiges Geschlecht diskriminiert und vulgär beleidigt. Die Bilder von musizierenden Männern und Frauen lösen Unbehagen aus, weil Zeitzeug*innen berichten, dass sie nie das Instrument spielen durften, an dem sie wirklich Freude hatten. Schäfers Kontrollsystem ließ keinen Platz für kleine Freuden. Auf dem Teil des Materials, welches Schäfer für die Presse festhalten ließ, kann man die echten Gefühle der Betroffenen nur erahnen. Umso wertvoller zeigen sich die Erzählungen der ehemaligen Schäfer-Anhänger*innen.
Insgesamt bietet die Doku-Serie einen einzigartigen Einblick in bisher ungezeigtes Quellenmaterial. Wenn dieses zeitnah auch Justiz und Wissenschaft zugänglich gemacht wird, ist dies ein echter Zugewinn für den langen Aufarbeitungsprozess der Geschichte der Colonia Dignidad – inmitten dieses geschichtspolitisch stark umkämpften Feldes.
Sendetermine:
COLONIA DIGNIDAD – AUS DEM INNERN EINER DEUTSCHEN SEKTE (Regie: Annette Baumeister, Wilfried Huismann)
Das Erste: 16. und 23. März 2020, um 22.45 Uhr, jeweils 90 Minuten als dokumentarischer Zweiteiler
ARTE: 10. März 2020, um 20.15 Uhr als vierteilige dokumentarische Serie
Der Colonia Dignidad Public History Blog (CDPHB) versteht sich als interdisziplinärer Raum für Information und Diskussion. Der Sachbuchautor und Colonia Dignidad-Experte Dieter Maier hat einen Kommentar zu einem jüngst veröffentlichten Beitrag auf diesem Blog eingereicht mit der Bitte um Veröffentlichung.
Kommentar von Dieter Maier zum Blog-Artikel
„Zwischen Fiktion und Realität: ‚Dignity‘ und Colonia Dignidad“
Dieses Interview wirft ein bedenkliches Licht auf den gegenwärtigen (2019) Stand der Aufarbeitung der Verbrechen der Colonia Dignidad.
Das sich „emotional Nähern“ dürfte bei einer nüchternen Betrachtung der Colonia Dignidad im Kontext der Pinochet-Diktatur nur in einem einfühlenden Verstehen der überlebenden Opfer bei genügend emotionaler Distanz bestehen. Der simple emotionale Zugang versperrt das Verständnis der größeren Zusammenhänge. Emotionale Beteiligung ist unvermeidlich, da die Colonia Dignidad ja immer noch von den meist deutschen Opfern und Tätern bewohnt ist. Wer den eingeübten Opferdiskurs der ehemaligen Siedler für bare Münze nimmt, versteht nicht, dass das System Schäfers und seiner Mithelfer eine unauflösliche Täter-Opfer-Symbiose hervorgebracht hat. Mitleid ohne Zorn ist ignorant.
Das Spiel mit Realität und Fiktion sollte man Schillers historischen Dramen überlassen. Es ist ein Geschäftsmodell, das Quoten erzielt, aber die Zusammenhänge verdunkelt. Das Besondere an der Colonia Dignidad ist, dass die Realität jede Fiktion überholt; es war schlimmer, als Film oder Buch es darstellen können. Fiktionale Bearbeitung bedeutet deshalb Verflachung, auch wenn sie noch so drastisch ist. Sie kann schockieren, aber keine Lernprozesse in Gang setzen.
Traumata, die noch heute nachwirken und zur nächsten Generation tradiert werden, sagen etwas über deren Ursachen aus, aber das ist kein Filmstoff. Ein Film kann allenfalls Symptome zeigen.
Vorzeitige Historisierung statt schrittweiser Aufarbeitung ist die Mumifizierung am lebenden Objekt mit dem Ziel, Geld mit der Pseudohistorisierung zu machen. Hier gibt es eine Umkehrung der sinnvollen Abfolge: Die Forschung müsste erst einmal alles vorhandene Material bearbeiten. Soweit ist es noch lange nicht, und es kommt ständig neues Material dazu. Die Sachbücher, die es gibt, legen immer Wert darauf, jeweils den bekannten Stand der Aufarbeitung zu dokumentieren. Die Colonia Dignidad ist das einzige mir bekannte Folterlager, das noch bewohnt ist, also Subjekt und Objekt in einem. Jeder Film, der heute gedreht wird, müsste der Verquickung von früher und heute, von Tätern und Opfern Rechnung tragen.
Der Denkmalschutz für die Villa Baviera wirkt wie eine Historisierung, ist aber eine Maßnahme, die verhindern soll, dass ein zukünftiger Gedenkort zuvor verändert, d.h. enthistorisiert wird. Für Menschen gibt es keinen Denkmalschutz. Ihre Erinnerungen unterliegen der ständigen Gefahr der Veränderung durch kommerzialisierter Befragung und schließlich Musealisierung.
Wir sind gerade in der Epoche der Deutungskämpfe zwischen verschiedenen Opfergruppen, und die Psychologisierungen leisten dem Opferdiskurs der Deutschen Vorschub. Chilenische Opfer sind an der historischen Wahrheit interessiert. Sie kommen meist nur am Rande vor. Damit erhalten die deutschen Opfer gegenüber den chilenischen ein mediales Übergewicht, dem die wissenschaftliche Aufarbeitung nur schwer entgegen halten kann.
In der Villa Baviera geben sich schaulustige GruselturistInnen, JournalistInnen, HistorikerInnen und FilmemacherInnen die Klinke in die Hand. Die Bewohner erzählen gegen ein kleines, aber stets willkommenes Entgelt immer wieder dieselbe Opfergeschichte. Durch diese Massenproduktion von Erinnerung entsteht eine seltsame Schleife von medialer Produktion und systematischer Aufarbeitung: Die systematische (und das ist nicht nur die wissenschaftliche) Aufarbeitung muss die meist sehr unkritisch geführten Interviews berücksichtigen, da sie ja einige Wahrheitselemente enthalten. Geschichte und Zeitgeschichte, kritisch dokumentierte Erinnerung und entgeltlicher Opferdiskurs verknoten sich, denn die sich verschiebenden Erinnerungsnarrative der (früheren) Sektenmitglieder sind Teil der Geschichte der Villa Baviera, die ja zur Nachgeschichte der Colonia Dignidad gehört. Das kann bedenkliche Engführung mit sich bringen, Homogenisierung der Narrative stellt sich fast automatisch ein.
Abgehangener Schinken dient nicht der Wahrheitsfindung.
Dieter Maier, Dezember 2019
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