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Akteur*innen & Projekte/Interviews

„Wenn plötzlich jemand anfängt zu reden.“

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„Wenn plötzlich jemand anfängt zu reden.“

Die Sonderpädagogin Heike Rittel nahm sich Auszeiten vom Lehrer-Beruf und reiste mehrmals in die ehemalige Colonia Dignidad nach Chile. Aus ihrem anfänglich privaten Interesse entwickelte sich über die Jahre ein Buch-Projekt, das als erste Publikation die Erfahrungen der weiblichen Sektenmitglieder in den Mittelpunkt stellt. Im Interview gibt sie einen Einblick in persönliche Herausforderungen, emotionale Begegnungen und Reaktionen auf die “Frauenprotokolle”.

Heike Rittel im Interview zu ihrem Buch über die Frauen der Colonia Dignidad

Meike Dreckmann: Im Jahr 2012 warst du im Rahmen einer privaten Chile-Reise zum ersten Mal in der Villa Baviera. Danach ließ dich das Thema nicht mehr los und es schlossen sich weitere Reisen für dich an. 2018 hast du dann gemeinsam mit Jürgen Karwelat das Buch „Lasst uns reden. Frauenprotokolle aus der Colonia Digniad“ im Schmetterling Verlag veröffentlicht. Wie ist die Idee für dieses Buch entstanden und wie kam es zu der Zusammenarbeit mit Jürgen Karwelat?

Heike Rittel: Wer als Deutscher durch Chile reist, stößt überall auf Spuren und Einflüsse Deutscher. Und so kommt man früher oder später auch nicht an den Spuren der ehemaligen Colonia Dignidad vorbei. Was bei diesem Thema sofort neugierig macht, ist die extrem unterschiedliche Bewertung der Berichtenden. Man findet bis heute in Chile genügend Menschen, die sich vor allem an gelungene Kulturprogramme und deftiges deutsches Essen in den Restaurants der Colonia erinnern und man hört auf der anderen Seite von den langjährigen Verbrechen an verschiedenen Opfergruppen. Mit dieser Neugier fuhren wir dorthin, um uns selbst ein Bild zu machen. Wir hatten uns vorher umfassend in Literatur und Medien informiert und waren so sicher, über ein gefestigtes und politisch korrektes Bild der Geschehnisse vor Ort zu verfügen.

Und dann ließ uns vor allem ein Satz aufhorchen, den wir nur allzu gut kannten: „Es war nicht alles schlecht.“ Da wurde uns plötzlich ein Spiegel vorgehalten, zu dem, was wir im Umgang mit der DDR-Geschichte von zu Hause kannten. Und aus dieser Erfahrung wollten wir keineswegs die Besserwisser von außen sein, sondern begannen erst einmal gründlich mit dem Zuhören. Schon das erste vertraute Gespräch mit Maria Schnellenkamp, der Tochter des Mitbegründers dieser Sekte, machte mich fassungslos. Zaghaft begann sie zu erzählen. Irgendwann wagte ich Fragen zu stellen.

Wir konnten hiesige Medien für das Thema interessieren und erste Lesungen fanden in Spremberg in kleinen Frauengruppen, der Volkssolidarität oder auch anderen Ortsgruppen statt. Parallel dazu lernte ich Jürgen Karwelat am Rande eines Treffens im Haus der Wannsee-Konferenz kennen. Jürgen lud uns anschließend zu einem Treffen der Not- und Interessengemeinschaft nach Hamburg ein. Auch dort las ich aus einem Protokoll. Nach jeder Lesung motivierte man mich zum Schreiben eines Buches. Dies tat ich dann im zweiten Sabbatjahr und bat Jürgen um die geschichtliche Einbettung.

Über die Jahre hatten wir auch schon vielfach Zeitzeugen aus der Villa Baviera bei uns zu Gast im Haus.

MD: Zur Zeit deiner ersten Reise in die Villa Baviera gab es ja noch keine Tourismus-Strukturen. Wie müssen sich die Leser*innen den Ablauf deiner Reisen in die Villa Baviera vorstellen? Wie haben die Menschen auf dich reagiert, wo hast du geschlafen, gegessen und gearbeitet?

HR: Während unserer ersten Reise schliefen wir auf dem Fundo im noch nicht fertigen Hotel in einem schönen Zimmer. Wir kamen sehr schnell mit den ehemaligen Sektenmitgliedern ins Gespräch. Sie hörten uns zu und wir ihnen noch viel lieber. Wir aßen allein oder mit ihnen im Zippelsaal und arbeiteten während der ersten Reise gar nicht. Während aller anderen Reisen schliefen wir immer privat bei den Leuten. Über die Jahre hatten wir auch schon vielfach Zeitzeugen aus der Villa Baviera bei uns zu Gast im Haus. Die Interviews führte ich meistens im Freihaus oder bei den Frauen zu Hause.

Die größte Herausforderung war für uns meine atheistische Erziehung und Denkweise.

MD: Wie hast du die Interviewpartnerinnen ausgewählt? Und was waren bei deiner Arbeit die größten Herausforderungen?

HR: Wichtig war mir der Querschnitt durch alle Altersgruppen und nach Möglichkeit auch verschiedene Lebenslinien. Die größte Herausforderung war für uns meine atheistische Erziehung und Denkweise. Unser gemeinsamer Glaube an das Gute im Menschen schaffte uns dann aber ein gutes Fundament im Miteinander. Wichtig war für die Frauen auch, dass sie das Protokoll nach jeder Interviewsitzung nochmals lesen durften. Daraus schöpften die Frauen – aus meiner Sicht- ein enormes Vertrauen.

Maria Schnellenkamp und Heike Rittel während eines Familienausfluges

MD: In den Frauenprotokollen sind die Geschichten einzelner Frauen in ihrer Rohform zu lesen. Sie sind zwar zur besseren Lesbarkeit redigiert, lassen die Leser*innen aber mit der Brutalität der Erfahrungen in der Colonia Dignidad allein. Ich gebe zu, dass ich mit diesen Protokollen, die häufig von sexualisierter Gewalterfahrung erzählen, emotional zu kämpfen hatte. Warum hast du dich dafür entschieden, die Interviews für sich stehend zu veröffentlichen?

HR: Ich wollte den Frauen die Möglichkeit geben, ihren entbehrungsreichen Lebensweg umfassend zu erzählen. Mir erschien eine zusätzliche Wertung überflüssig. Dies überlasse ich dem*r interessierten Leser*in. Hilfestellungen sind dafür sicher im Buch die geschichtliche Einbettung, der Zeitstrahl, aber auch die Begriffserklärung und das Personenregister.

Im Gegensatz zu den Erfahrungen der Männer denke ich, dass jede Frau, jedes Mädchen der Colonia Dignidad mit dieser Gewalterfahrung allein umgehen musste.

MD: In der bisherigen Berichterstattung zu der Geschichte der Colonia Dignidad wurden die Erfahrungen der Mädchen und Frauen mit sexualisierter Gewalt wenig berücksichtigt. Dein Buch stellt sie mit den Geschichten der Frauen in den Mittelpunkt. Was unterscheidet deiner Meinung nach die Erfahrungen der Frauen von denen der Männer in der Colonia Dignidad?

HR: Meiner Meinung nach stelle ich die sexualisierte Gewalt der Frauen in der ehemaligen Colonia Dignidad nicht in den Mittelpunkt des Buches. Alle Fragen waren mir gleichrangig. Und nach sexueller Gewalt fragte ich direkt gar nicht. Die Frauen erzählten erst nach einigen Jahren über diese persönlich besonders schrecklichen Erlebnisse, denn sie mussten mir hier enorm vertrauen, und als sich das Buchprojekt entwickelte, mussten sie sich darüber klarwerden, dass diese emotional stark belastenden, beschämenden Momente ihres Lebens nun öffentlich werden. Dies war ein Prozess, den ich mit jeder Frau ganz allein und individuell ging. Vielleicht half mir hier auch meine langjährige Arbeit als Sonderpädagogin. Im Gegensatz zu den Erfahrungen der Männer denke ich, dass jede Frau, jedes Mädchen der Colonia Dignidad mit dieser Gewalterfahrung allein umgehen musste. Wem sollten sie sich anvertrauen? Alles wurde sofort Schäfer erzählt und die Strafe, ob in Form von Redeverbot, Prügel vor der ganzen Gemeinschaft, Gruppenkeile oder langjährige Isolation wären die Folge gewesen. Die jüngeren männlichen Mitglieder der Colonia Dignidad ahnten untereinander, was sich im Zimmer von Schäfer abspielte; wenn z.B. einer als Sprinter über Nacht bei Schäfer schlafen durfte, Zuneigung erhielt, vielleicht sogar Schokolade, aber auch sexualisierte Gewalt erlitt.

Doch ich weiß auch von einer Frau, dass sie jetzt unter ihrer Aufrichtigkeit leidet.

MD: Während meines Forschungsaufenthaltes in der heutigen Villa Baviera habe ich im Februar 2019 etwas Interessantes erlebt: Frauen, die während meiner ersten Reise in die Villa Baviera im Jahr 2016 noch schüchtern vor Interview-Situationen davongelaufen waren, verhielten sich nun anders. Viele Zeitzeuginnen stellten sich mir recht stolz vor mit Sätzen wie: „Ich bin ja auch in dem Buch.“ oder „Meine Geschichte kennst du vielleicht aus dem Buch.“ Andere hingegen fühlen sich immer noch von den Älteren in der Villa Baviera für ihr Mitmachen verurteilt und deshalb etwas unwohl mit ihrer Entscheidung für ein Interview. Wie lautet denn deine persönliche Bilanz? Welchen Einfluss hatten die Frauenprotokolle innerhalb der Villa Baviera und auch außerhalb?

HR: Diese Protokolle haben die aktiven Frauen mehrheitlich enorm gestärkt. Doch ich weiß auch von einer Frau, dass sie jetzt unter ihrer Aufrichtigkeit leidet. Ihre Gruppentante lebt noch auf dem Fundo und verurteilte die Protokolle sehr harsch, täglich begegnen sie sich. Diese ängstliche Frau bleibt in solchen Situationen auch jetzt noch das kleine Kind, obwohl sie mittlerweile 60 Jahre alt ist. Dieses hierarchische Denken, verbunden mit der starken Angst, etwas falsch gemacht zu haben, ist in ihr leider wieder aufgekeimt. Ich erhielt aber auch Leserbriefe von ehemaligen Sektenmitgliedern, die nun in Deutschland leben, sich bei mir für das emotionale Buch bedankten und oft schrieben: „Vielen Dank für Ihre breite Sichtweise auf das Leben in der Colonia Dignidad. Ich habe ja gar nicht gewusst, dass so viele so viel aushalten mussten.“ Und hier liegt auch eine meiner weiteren Beobachtungen: Ob es nun die „Protokollfrauen“ selbst oder ehemalige Sektenmitglieder sind, sie bleiben immer in der Betrachtung: „Das von damals habe ich ja gar nicht so gewusst.“ Natürlich nicht. Das wird dem*r Leser*in auch sehr schnell klar. Bei den Lesungen in Deutschland verneigen sich die Zuhörer*innen vor den „Protokollfrauen“, ihren Familien, ihrem Lebensmut, ihrer Lebenskraft und ihrem Leben, Arbeiten und Denken im Jetzt.

Heike Rittel im Interview mit Renate Malessa

MD: Welches waren deine emotionalsten Momente während des Buchprojektes?

HR: Unmöglich, alle Erlebnisse aufzuzählen. Neben atemberaubenden gemeinsamen Momenten in der wunderbaren Natur sind es immer wieder vor allem Gesprächsmomente, die verblüffen und beeindrucken. Wenn plötzlich jemand anfängt zu reden, der sich bisher komplett verweigert hatte. Wenn einem eine Frau, die man nun schon jahrelang zu kennen glaubt, plötzlich völlig neue Ungeheuerlichkeiten eröffnet, über die sie bisher nicht zu sprechen gewagt hatte. Wenn man scheinbar nebenbei um Rat gebeten wird zu Erziehungsfragen und Aufklärungsfragen bezüglich der Kinder, die uns banal erschienen, jedoch für die dort Lebenden aufgrund des Verbots von Familienleben einfach nicht zum Erfahrungsschatz gehören. Wenn man Widerstand erfährt, die Nachforschung und Aufklärung behindert wird und plötzlich stehen dort mutige Frauen solidarisch neben einem und lassen sich das Reden nicht mehr verbieten. Wenn man erfährt, wie jahrelanges persönliches Leiden ohne Rachegedanken und Hass verarbeitet werden. Und welch ambivalente Rolle der Glaube an Gott spielen kann, einerseits jahrzehntelang im Interesse der Unterdrücker und Peiniger, andererseits nun, um persönliche Stabilität und Souveränität im neugewonnenen freien Leben zu gewinnen.

MD: Was hat dich dein Buchprojekt gelehrt?

HR: Die Prozesse um die Entstehung des Buches haben mich einzigartig gelehrt, wie extrem wichtig und befreiend reden, zuhören und das Erfahren von Aufmerksamkeit bei Betroffenen in unterschiedlichsten Zusammenhängen sein können. Und dass Menschlichkeit unabhängig von der jeweiligen politischen Lage unteilbar und selbst unter schlimmsten Bedingungen unausrottbar ist. Außerdem bin ich bei den Arbeiten am Buch in eine Gemeinschaft aufgeklärter und engagierter Menschen in Deutschland und Chile geraten, die sich unter- und füreinander unterstützen, motivieren, konstruktiv kritisieren und zuhören. Das allein ist schon eine sehr wohltuende und solidarische Erfahrung.

Meine Schule hat eine Schulpartnerschaft mit der Grundschule vor den Toren der Villa Baviera.

MD: Wie engagierst du dich über das Buchprojekt hinaus für die ehemaligen Sektenmitglieder?

HR: Ich gehe sehr gern mit ein oder zwei „Protokollfrauen“ auf Lesereise. Ich möchte die Frauen auch weiterhin stärken, und gemeinsam wollen wir aufklären über das Dasein in der ehemaligen Colonia Dignidad und ihrem heutigen entbehrungsreichen Leben in Deutschland oder Chile.

Meine Schule hat eine Schulpartnerschaft mit der Grundschule vor den Toren der Villa Baviera. Alle Kinder der neuen Generation besuchen diese Schule. Vielfach überreichte ich dort Unterrichtsmaterialien, die besonders den Deutschunterricht unterstützen.

Für ein halbes Jahr wohnte der Sohn eines ehemaligen Sektenmitgliedes bei uns zu Hause, besuchte das wohnortnahe Gymnasium, lernte etwas Deutsch und die Abläufe in der freiwilligen Feuerwehr unseres Ortes kennen.

Den „Protokollfrauen“, ihren Familien und auch vielen anderen Mitgliedern der ehemaligen Sekte Colonia Dignidad werde ich auch weiterhin stark verbunden bleiben, die Entwicklung ihrer Kinder aus der Ferne beobachten und allen sehr gern mit Rat und Tat zur Seite stehen.

Heike Rittel beantwortete mir die Fragen schriftlich via Mail. 

Akteur*innen & Projekte/Interviews

„Hier kann die Geschichte auf einer abstrakten Ebene thematisiert werden.“

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„Hier kann die Geschichte auf einer abstrakten Ebene thematisiert werden.“

Sonja Hugi lebt und arbeitet als Illustratorin, Graphikerin und Historikerin in Berlin. Gegenwärtig arbeitet sie an ihrer ersten Graphic Novel, die sie der Geschichte der Colonia Dignidad widmet. Im Interview erzählt sie von den Chancen, die das Graphic Novel-Format für die Geschichtsvermittlung mitbringt. Sie berichtet aber auch von der Skepsis, die diesem vermeintlich neuen Format in Deutschland immer noch anhaftet. Außerdem gibt sie einen Einblick in ihre ersten Entwürfe.

Sonja Hugi im Interview über ihre Graphic Novel zur Geschichte der Colonia Dignidad

Meike Dreckmann: Sonja, erkläre doch mal kurz, was eigentlich eine Graphic Novel ist.

Sonja Hugi: Graphic Novel bedeutet grafischer Roman und das beschreibt es eigentlich ganz gut. Eine Graphic Novel ist eine gezeichnete Geschichte – in der Regel mit Text ergänzt. Man könnte das Genre auch als „erwachsenen“ Bruder des Comics bezeichnen. Über die genaue Abgrenzung herrscht aber Uneinigkeit, die Form kann ganz unterschiedlich sein und es gibt eine Menge Subgenres. Manche Graphic Novels haben einen dokumentarischen Charakter, andere lassen sich eher dem Bereich Fantasy zuordnen. In letzter Zeit gab es auch immer mehr Roman-Adaptionen. Das finde ich aber eigentlich schade, denn dann ist eine Graphic Novel nur eine Übersetzung eines Romans und nutzt nicht unbedingt das eigene schöpferische Potential des Formats.

MD: Und worum geht es in deiner Graphic Novel?

SH: Ich möchte die Geschichte der Colonia Dignidad erzählen. Ich greife dabei auf Zeitzeug*innenaussagen aus autobiografischen Quellen und Interviews als Grundlage zurück. Die Graphic Novel beruht also auf Erinnerungen und ist nicht frei erfunden. Dennoch werden fiktive Protagonist*innen erzählen und die Erinnerungen von verschiedenen Zeitzeug*innen werden zu neuen Geschichten verschmolzen. Es ist mir dabei wichtig, dass es in der Graphic Novel eine gewisse Mehrstimmigkeit und Multiperspektivität gibt. Ich maße mir nicht, an DIE Geschichte der Colonia Dignidad zu erzählen. Ich möchte sichtbar machen, dass es immer sehr unterschiedliche Motive, Perspektiven, Einschätzungen und Erinnerungen gibt und dass sich die „Wahrheit“ irgendwo dazwischen findet.

Die freie Form der Zeichnung ermöglicht eine Auseinandersetzung mit den grundlegenden Fragen dieser Geschichte ohne Beschönigung und ohne Überwältigung.

MD: Warum eignet sich das Thema Colonia Dignidad deiner Meinung nach für eine Graphic Novel?

SH: Zwei verschiedene Gründe waren ausschlaggebend für die Entscheidung eine Graphic Novel über die Colonia Dignidad zu machen: Zum einen bietet das Thema Raum zur Auseinandersetzung mit grundlegenden, über den Fall Colonia Dignidad hinausgehenden Fragen. Ich komme aus der historisch-politischen Bildungsarbeit, mich interessiert, wie man politische Ereignisse und Geschichte im Allgemeinen begreif- und vermittelbar machen kann. Die Colonia Dignidad hat funktioniert wie eine totalitäre Diktatur. Man kann durch die Betrachtung dieser Geschichte „im Kleinen“ sichtbar machen, welche Mechanismen und Strukturen den Aufbau und Erhalt eines solchen Systems ermöglichen.

Der andere Grund ist, dass die Geschichte der Colonia Dignidad aufgearbeitet und erzählt werden muss. Aber wie redet man über Dinge die so grausam und brutal sind wie die Ereignisse, die sich in dieser Gemeinschaft abgespielt haben? Man kann darüber schreiben oder einen Film drehen. Bei diesen Formaten ist die Gefahr allerdings groß, dass die Rezipient*innen durch das explizite Darstellen von Gewalt überwältigt werden oder dass Dinge weggelassen und beschönigt werden, um den Schockeffekt zu umgehen. Da die Graphic Novel nicht an realistische Darstellungsformen gebunden ist, können Dinge hier auf einer abstrakten Ebene thematisiert werden. Die freie Form der Zeichnung ermöglicht eine Auseinandersetzung mit den grundlegenden Fragen dieser Geschichte ohne Beschönigung und ohne Überwältigung. Für ehemalige Mitglieder der Colonia Dignidad könnte die Graphic Novel eine Hilfe sein, ihren Kindern zu erklären, was mit ihnen geschehen ist.

MD: Kannst du unseren Leser*innen beschreiben, wie du das machst? Also, wie müssen wir uns den künstlerischen Entstehungsprozess vorstellen? Zeichnest du zum Beispiel am Computer oder mit der Hand?

SH: Ich skizziere zuerst mit Bleistift, zeichne dann mit Tusche und bearbeite das Ganze hinterher am PC. Der Prozess ist natürlich ziemlich aufwändig aber ich war immer schon eine eher analoge Person. Ich mag den Geruch von Chinatusche beim Zeichnen und das Gefühl der Feder auf dem Papier. Außerdem wird da manchmal gekleckst und geschmiert und diese Zufälle ergeben neue Bilder. Wenn man direkt am Computer zeichnet, kann man jederzeit einen Schritt zurückgehen. Das ist zwar praktisch aber manchmal geht so auch etwas verloren.

MD: Was sind deine größten Herausforderungen in diesem Projekt?

SH: Die allergrößte Herausforderung ist die Finanzierung. Ich habe einige Förderanträge gestellt, von denen ist bisher einer über eine kleine Summe bewilligt worden. Das Problem ist, dass das Projekt nicht in die klassischen Förderkategorien passt. Da es sich irgendwo zwischen Kunst und Wissenschaft befindet, lässt es sich schwer einordnen. Außerdem ist es meine erste Graphic Novel und viele Stiftungen fördern nur Projekte von Autoren, die bereits veröffentlicht sind. So geht es eben im Moment recht langsam voran, da ich nebenher arbeite.

Einer gewissen Skepsis begegne ich aber schon ab und zu wenn ich von dem Projekt erzähle.

MD: Sonja, wir kennen uns ja aus dem Master-Studium Public History an der FU Berlin. Inwiefern hat denn deine Graphic Novel zum Thema Colonia Dignidad auch etwas mit der Arbeits- und Forschungsdisziplin Public History zu tun?

SH: Also ich würde mal behaupten, dass ich exakt das mache, worum es in unserem Studium ging: Geschichtsvermittlung. Neben Museen, Gedenkstätten und Film ist die Graphic Novel meiner Ansicht nach das wichtigste Medium zur außerschulischen Vermittlung von Geschichte. Ich komme aus der Schweiz, da ist die Graphic Novel schon lange etabliert. Ich habe mich etwa als Teenager durch die Lektüre von Art Spiegelmanns „Maus“ intensiv mit der Geschichte des Holocaust befasst. Auch mit dem Thema HIV bin ich durch eine Graphic Novel erstmals in Berührung gekommen. In Ländern wie Belgien, Frankreich und USA hat das Format ebenfalls einen ganz anderen Status. Ich habe aber den Eindruck, dass man sich in Deutschland langsam öffnet. Ein sehr positives Zeichen war für mich meine Assoziierung mit dem Projekt am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam (ZZF). Einer gewissen Skepsis begegne ich aber schon ab und zu wenn ich von dem Projekt erzähle. Manche Leute verbinden gezeichnete Bücher einfach mit Superman, Kindheit, Humor. Und dann denken sie natürlich, dass das keine angemessene Art ist, sich mit Geschichten wie der der Colonia Dignidad zu befassen. Ich habe aber vor, meinen Teil dazu beizutragen, diese Menschen von den Möglichkeiten gezeichneter Romane zu überzeugen.

MD: Und zuletzt; dürften interessierte Leser*innen dich kontaktieren? Wenn ja, wie oder wo?

SH: Auf meiner Webseite können sich Interessierte meine Arbeiten anschauen. Dort ist auch eine kleine Vorschau der Graphic Novel zu sehen und meine E-Mail-Adresse, über die ich erreichbar bin.

Sonja Hugi beantwortete mir die Fragen schriftlich via Email.

Akteur*innen & Projekte/Interviews

„Die Colonia Dignidad war ein integraler Bestandteil der chilenischen Diktatur.“

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Ich glaube, du hast mir mal gesagt, dass du lange Zeit Paul Schäfers Feind Nummer 1 warst. Wie kam es dazu?
Ich bin nicht sicher, ob ich die Nr. 1 war. Schäfer und seine direkten Helfer visierten mich auf jeden Fall als Feind an. Jürgen Karwelat und ich schrieben 1976 die Broschüre von Amnesty international „Colonia Dignidad – deutsches Mustergut in Chile, ein Folterlager der DINA“, (Frankfurt am Main 1977), die dann im darauf folgenden Jahr erschien und die Colonia Dignidad  in Bedrängnis brachte. Ich bekam dann auch einen anonymen Drohanruf auf Spanisch.
Wir haben zum ersten Mal miteinander gesprochen, als du am 26. April 2016 als Experte auf dem Podium anlässlich einer Veranstaltung zu der Rolle des Auswärtigen Amtes in der Geschichte der Colonia Dignidad eingeladen warst. In seiner Rede sagte Frank-Walter Steinmeier in der damaligen Funktion als Außenminister „der Umgang mit der Colonia Dignidad ist kein Ruhmesblatt, auch nicht in der Geschichte des Auswärtigen Amtes.“ Er fügte hinzu: „Über viele Jahre hinweg, von den sechziger bis in die achtziger Jahre haben deutsche Diplomaten bestenfalls weggeschaut – jedenfalls eindeutig zu wenig für den Schutz ihrer Landsleute in dieser Kolonie getan.“ Wie war es für dich diese Sätze im Auswärtigen Amt zu hören, nachdem du schon so viele Jahre gegen die Colonia Dignidad gekämpft hattest?
Nun ja, es war keine Überraschung. Ich hatte am Rande etwas mit den Vorbereitungen der Veranstaltung zu tun, und kleine Passagen der Steinmeier-Rede gehen auf mich zurück. Aber es war eine große Genugtuung.
Immer wieder heißt es, dass es nichts Vergleichbares zur Geschichte der Colonia Dignidad gibt. Woran liegt das? Was unterscheidet diese Sektengeschichte deiner Meinung nach von anderen? 
Es geht nicht nur um eine Sekte, sondern um eine Repressionsagentur der Pinochet-Diktatur von großer Wirkung. Bezieht man die interne Sektenstruktur mit ein, erweist sich die Colonia Dignidad als eine nach außen und innen hochrepressive Sklavenhaltergesellschaft, die etwa ein halbes Jahrhundert lang bestand, und dies zu unseren Lebzeiten. Nimmt man zur Systematik und zeitlichen Länge der Repression die Mischung aus Folter, sexuellem Missbrauch, Waffengeschäften usw. dazu, dann gibt es nichts Vergleichbares.
Du plädierst immer wieder dafür, die Colonia Dignidad als historisches System zu begreifen, das über die eigenen Zäune hinausragt(e). Wo machen die meisten Menschen einen Denkfehler, wenn sie sich mit der Colonia Dignidad auseinandersetzen?
Es ist, wie wenn jemand ein Pflaster im Gesicht hat: Man versucht nicht hinzusehen und tut es immer wieder doch. Der Blick richtet sich auf das Dorf innerhalb des Zaunes und auf die deutschen Opfer. Diese Perspektive ist ethnisch eingeengt, enthistorisiert und entpolitisiert. Die Colonia Dignidad war ein integraler Bestandteil der chilenischen Diktatur.
Wie würdest du Paul Schäfer charakterisieren?
Ein machtversessener, genialer Manipulator. Er hat sich selbst ein kleines Reich geschaffen, wo er seine destruktiven Bedürfnisse ungestraft ausleben konnte. Ich weiß bis heute nicht, ob er seine eigenen Lügen geglaubt hat.
Wie lange willst du dich noch mit dem Thema Colonia Dignidad beschäftigen?
Ich würde nach fast 50 Jahren Beschäftigung mit dem Thema am liebsten heute noch aufhören.