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Akteur*innen & Projekte/Forschungseinblicke

„Archiv der Hölle“ – ARD und ARTE zeigen Doku-Serie zur Colonia Dignidad

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„Archiv der Hölle“ – ARD und ARTE zeigen Doku-Serie zur Colonia Dignidad

Paul Schäfer ca. 1970 | Bild: WDR

In den vergangenen Jahrzehnten sind einige Dokumentarfilme über die Colonia Dignidad (bspw. „Deutsche Seelen„), ein Spielfilm („Colonia Dignidad – Es gibt kein Zurück„) und zuletzt eine achtteilige Thriller-Serie („Dignity“) erschienen. Das mediale Interesse an der Geschichte der Colonia Dignidad hält an: Journalist*innen, Filmemacher*innen, Tourist*innen und Wissenschaftler*innen geben sich in der heutigen Villa Baviera ununterbrochen die sprichwörtliche Klinke in die Hand. Sie wollen mehr über die Geschichte der deutschen Gruppe im Süden Chiles erfahren.

Eine Doku-Serie von ARD und Arte möchte nun „die innere Dynamik der Colonia Dignidad“ zeigen und damit einen „tiefgreifenden“ Blick auf das individuelle Erleben einzelner Mitglieder werfen. Neben den einstigen Colonia-Anhänger*innen kommen in der dokumentarischen Serie auch Folteropfer, Kriminalbeamte und Nachbar*innen zu Wort. Im Mittelpunkt steht aber das von den Macher*innen als „Archiv der Hölle“ bezeichnete Quellenmaterial (Foto-, Film- und Tonaufnahmen), welches in der neuen Doku-Serie nun erstmals öffentlich gezeigt werden soll.

Das anonyme Kollektiv aufbrechen und das Individuum sichtbar machen

Die Doku-Serie, die am 10. März 2020 auf Arte und am 16. und 23. März 2020 im Ersten (anschließend in der Mediathek) zu sehen sein wird, will „eine deutsche Sekte am anderen Ende der Welt, die Menschlichkeit versprach und in der Unmenschliches geschah“ zeigen. Sie fragt nach dem individuellen Erleben der Mitglieder und lässt sie unabhängig von ihren Verwicklungen mit dem Schäfer-System in erster Linie über ihre einstigen Ängste, Sehnsüchte, Träume und die grausame Realität berichten. Die Geschichte beginnt mit den Anfängen in Nordrhein-Westfalen kurz nach dem Zweiten Weltkrieg und spannt einen Bogen in die Gegenwart der Siedler*innen. Der Schwerpunkt des gewählten Doku-Narrativs liegt damit besonders auf dem individuellen Erleben der ehemaligen deutschen Schäfer-Anhänger*innen, weniger auf den chilenischen Opfergruppen. Regisseurin Annette Baumeister dazu:

„Die Doku-Serie soll mit dem gängigen Klischee der roboterhaften, gesichtslosen Kolonisten brechen und sie als Menschen mit Namen, Gefühlen und Träumen zeigen.“

Der Alltag der Colonia-Anhänger*innen war jahrzehntelang geprägt von sexualisierter Gewalt, einem despotischen Strafsystem, harter unbezahlter Arbeit und dem Verbot von Familienleben. Die Siedler*innen führten ein von der Außenwelt abgeschirmtes Leben. Der unzensierte Zugang zu Büchern und Filmen, Fernsehen, Radio und zur Außenwelt blieb den Allermeisten verwehrt. Colonia-Leiter Paul Schäfer paktierte mit der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet. Er ließ den chilenischen Geheimdienst auf dem Gelände der Colonia Dignidad foltern und morden. Einige Siedler mussten Leichenteile aus- und umgraben, verbrennen und in einen Fluss in der Umgebung verstreuen. Willi Malessa sprach darüber erstmals vor ein paar Wochen in einem Bericht von ReportMainz. Viele von Schäfers Anhänger*innen wurden im Verlauf der Jahrzehnte selbst zu Täter*innen. Immer mehr Zeitzeug*innen sprechen offen darüber. Das gibt denjenigen chilenischen Familienangehörigen Hoffnung, die bis heute nicht wissen, wo ihre Kinder, Männer, Frauen, Brüder oder Schwestern geblieben sind.

Mädchen der Colonia bei einem Gruppentanz | Bild: WDR

Für das international aufwändig produzierte Gemeinschaftsprojekt arbeiteten die chilenische Produktionsfirma Surreal, die deutsche LOOKSfilm, der chilenische TV-Sender Canal13, sowie WDR, SWR und Arte zusammen. Das „exklusive“ Archivmaterial (Filmrollen, Tapes, Fotos) sei dem chilenischen Regisseur Cristían Leighton (Surreal Film) von dem ehemaligen Colonia-Mitglied Wolfgang Müller vor etwa fünf Jahren übergeben worden. Müller hatte für Paul Schäfer eine Art Film- und Aufnahmeabteilung in der Colonia geführt. Insgesamt handele es sich bei dem Material um 400 Stunden Film-, 100 Stunden Ton- und rund 9.000 Fotoaufnahmen. Sie seien in einem schlechten Zustand gewesen und hätten umfassend restauriert und digitalisiert werden müssen, um das „deutsch-chilenische Drama in einer Serie erzählen“ zu können.

Kritik an der Nutzung des Archivmaterials seitens der Wissenschaft

Kritik an dem Projekt kam vor allem von Wissenschaftler*innen. Sie hätten sich die frühzeitige Übergabe des Archivmaterials an eine öffentliche Institution gewünscht. Vor allem, weil die juristische Verfolgung der in der Colonia Dignidad begangenen Verbrechen längst nicht abgeschlossen ist. Das wissen auch ARD und Arte: „Vieles liegt im Dunkeln, viele Verbrechen, die in der Colonia Dignidad begangen wurden, sind nicht aufgeklärt.“, schrieben die Pressestellen. Die Aufarbeitung stockte immer wieder und nicht zuletzt, weil es u.a. an Beweismaterial fehlte. Die Rechtsanwältin Petra Schlagenhauf kritisiert außerdem eine unzureichende Handlungsbereitschaft seitens der Justiz, um die Verbrechen aufzuklären. Ob das Material aus dem „Archiv der Hölle“ überhaupt juristisch relevant sein könnte, wird bald in Chile geprüft. Das Rohmaterial sei laut dem Produzenten Gunnar Dedio bereits auf dem Weg nach Chile. Auf die abschließende Digitalisierung und Verschlagwortung des Materials durch die Produktionsfirmen warte die chilenische Justiz allerdings noch, um es dann für die eigene Prüfung zu nutzen.

Der Politologe Jan Stehle vom Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika e.V. hätte sich die Nutzung des Materials andersherum gewünscht:

„Der Aufarbeitung der Geschichte der Colonia Dignidad wäre es zuträglicher gewesen, wenn das Vorgehen transparent verlaufen wäre: Erst die Übergabe an die Justiz und an eine öffentliche Institution zur Auswertung durch die Wissenschaft. Einer gleichzeitigen Nutzung für Filmprojekte wäre nichts im Wege gestanden. Dass nun aber die Justiz und die Wissenschaft auf die Aufbereitung des Materials durch eine kommerzielle Produktionsfirma warten, und letztere ein Narrativ über das de-facto von ihr privatisierte Material bereits vorlegt, halte ich für ein Vorgehen, dass der Aufarbeitung eher abträglich ist.

Für die beteiligten Produzent*innen ist die Lage aber eindeutig. Gunnar Dedio wies auf die immens hohen Kosten hin, welche die Bearbeitung des Materials durch mehrere Mitarbeiter*innen in den vergangenen vier Jahren bedeutet habe. Den Aufwand, den seine Firma im Auftrag von ARD und Arte betrieben habe, hätte keine öffentliche Institution in dem Maße aufbringen können. Mit dieser Einschätzung liegt der Film-Produzent vielleicht nicht falsch. Denn das Auswärtige Amt hat in den vergangenen Jahrzehnten bewiesen, dass die Bereitstellung von Finanzmitteln für die Aufarbeitung der Geschichte der Colonia Dignidad mit größter Zurückhaltung erfolgt.

Das Museo de la Memoria in Santiago de Chile oder das chilenische Nationalarchiv wären mögliche Orte, um das originale und das digital aufbereitete Material zu archivieren. Die Institutionen müssen allerdings ohnehin mit prekären Mitteln haushalten. Ob sich eine der Einrichtungen es nun leisten kann, das bearbeitete Material von der Produktionsfirma LOOKSfilm in irgendeiner Form abzukaufen, wäre die nächste Frage. Gunnar Dedio erklärte aber, dass die Übergabe des Materials an eine geeignete Institution bereits geplant werde. Er kündigte sogar an, dass er sich mit Partner*innen zusammentun wolle, um nicht nur das „Archiv der Hölle“, sondern auch Archivmaterial anderer Stellen an einem Ort bereitzustellen. Weitere Informationen sollen nach der Ausstrahlung der Doku-Serie folgen.

Geschichtspolitisch umkämpftes Feld

Den Produzent*innen der Doku-Serie ist es gelungen, Zeitzeug*innen zu interviewen, die sich bisher nicht vor die Kamera getraut haben. Das gezeigte Material ermöglicht es den Zuschauer*innen auf anschauliche Art und Weise, einen Einblick in den Alltag der Siedler*innen in der Colonia Dignidad zu erhalten. Colonia-Leiter Paul Schäfer hatte in Auftrag gegeben, den Alltag seiner Anhänger*innen in meist geschönten Situationen auf Ton-, Foto- und Videoaufnahmen festzuhalten. Zum einen, um Propaganda-Material für die Presse bereitzuhalten und zum anderen sicherlich auch aus narzisstisch motivierter Eitelkeit. Schaurig kommen die originalen Tonaufnahmen Schäfers daher, in denen er Frauen als minderwertiges Geschlecht diskriminiert und vulgär beleidigt. Die Bilder von musizierenden Männern und Frauen lösen Unbehagen aus, weil Zeitzeug*innen berichten, dass sie nie das Instrument spielen durften, an dem sie wirklich Freude hatten. Schäfers Kontrollsystem ließ keinen Platz für kleine Freuden. Auf dem Teil des Materials, welches Schäfer für die Presse festhalten ließ, kann man die echten Gefühle der Betroffenen nur erahnen. Umso wertvoller zeigen sich die Erzählungen der ehemaligen Schäfer-Anhänger*innen.

Insgesamt bietet die Doku-Serie einen einzigartigen Einblick in bisher ungezeigtes Quellenmaterial. Wenn dieses zeitnah auch Justiz und Wissenschaft zugänglich gemacht wird, ist dies ein echter Zugewinn für den langen Aufarbeitungsprozess der Geschichte der Colonia Dignidad – inmitten dieses geschichtspolitisch stark umkämpften Feldes.

 

Sendetermine:

COLONIA DIGNIDAD  –  AUS DEM INNERN EINER DEUTSCHEN SEKTE (Regie: Annette Baumeister, Wilfried Huismann)

Das Erste: 16. und 23. März 2020, um 22.45 Uhr, jeweils 90 Minuten als dokumentarischer Zweiteiler

ARTE: 10. März 2020, um 20.15 Uhr als vierteilige dokumentarische Serie

im Anschluss: in der Mediathek der ARD

 

 

Akteur*innen & Projekte/Interviews

„Ich bin mit dem laufenden Prozess der Aufarbeitung sehr unzufrieden.“

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„Ich bin mit dem laufenden Prozess der Aufarbeitung sehr unzufrieden.“

Die Not- und Interessengemeinschaft beim Treffen 2012, Jürgen Karwelat ist der vierte von links.

Jürgen Karwelat traf 1976 auf Dieter Maier. Dieser schlug ihm im Namen von Amnesty International die Recherche zu einer deutschen Sekte in Chile vor, in der sich laut Medienberichten chilenische politische Gefangene aufhalten sollten. Im Interview erzählt Jürgen Karwelat von seinen damaligen Recherche-Erlebnissen, der Gründung der „Not-und Interessengemeinschaft der Geschädigten der Colonia Dignidad“ und seiner Enttäuschung über den Verlauf des gegenwärtigen Aufarbeitungsprozesses. 

Interview mit dem Mitgründer der „Not- und Interessengemeinschaft der Geschädigten der Colonia Dignidad“ Jürgen Karwelat

Meike Dreckmann: Weißt du noch, wann und wie du zum ersten Mal von der Colonia Dignidad gehört hast?

Jürgen Karwelat: Das war im Herbst 1976. Ich hatte Zeit zwischen meinem Jurastudium an der Ruhr-Universität in Bochum und meiner Referendarzeit, die ich bei verschiedenen Stationen in Dortmund absolvieren wollte. Wir hatten mit Freund*innen einige Jahre zuvor eine Unterstützergruppe für chilenische politische Gefangene gegründet. Deshalb bin ich, ich glaube es war im September 1976, nach Frankfurt am Main zu Amnesty International gefahren, weil diese Gruppe die nach Deutschland geflüchteten Chilen*innen betreute. Ich traf dort auf Dieter Maier, dem ich anbot, für vier Monate in Frankfurt mitzuarbeiten. Dieter Maier lehnte zu meiner damals maßlosen Enttäuschung mein Angebot ab mit dem Argument, so viele Chilenen kämen zur Zeit nicht. Außerdem könnte ich kein Spanisch. Er gab mir dann aber einen kleinen Artikel der Süddeutschen Zeitung aus dem Jahr 1966, in dem über die Flucht eines gewissen Wolfgang Müller aus einem Gut einer deutschen Sekte in Chile berichtetet wurde. Dieter Maier meinte, es gäbe Hinweise darauf, dass in diesem Gut chilenische politische Gefangene festgehalten und gefoltert würden. Ich könnte doch versuchen, mehr über diese Gruppe zu erfahren.

Besonders eigenartig war meine Recherche in Siegburg.

MD: Du hast damals mit Dieter Maier für Amnesty International die berühmte Broschüre „Colonia Dignidad Deutsches Mustergut in Chile – ein Folterlager der DINA“ verfasst. Dabei hast du mit anderen die Recherche zur deutschen Vergangenheit der Schäfer-Sekte übernommen. Wie müssen sich die Leser*innen denn die damaligen Umstände vorstellen, mit denen ihr bei eurer Recherche-Arbeit zutun hattet?

JK: Der Zeitungsartikel war der Beginn einer dreimonatigen Recherche. Begonnen habe ich damit, in Dortmund im Zeitungsforschungsinstitut, alle verfügbaren Zeitungen durchzusehen, ob über die Flucht Wolfgang Müller berichtet wurde. Weil auch Regionalblätter berichtet hatten, entwickelte sich so langsam ein Mosaikbild mit Angaben über die Orte, aus denen die Mitglieder der Sekte stammten. Anschließend war ich für weitere Recherchen in Siegburg, Bonn, Gronau und Hamburg. Dort habe ich mit Journalist*innen, katholischen Priestern, evangelischen Pfarrern, mit Anwohner*innen und auch mit sehr vielen Verwandten gesprochen, die ihre Eltern, Geschwister oder weitere Verwandte an die Sekte verloren hatten. Sie haben mir auch Material, zum Beispiel Briefe und Zeitungsartikel gegeben. Teilweise war ich auch „verdeckt“ unterwegs, wenn ich nicht erwähnte, dass ich für Amnesty International arbeitete, sondern vorgab, eine Diplomarbeit über die Sekte zu schreiben.

Besonders eigenartig war meine Recherche in Siegburg. Während die beiden Regionalzeitungen Siegburger Rundschau und Rhein-Sieg-Anzeiger kritisch über die Colonia Dignidad berichteten, stellte sich der CDU-Bürgermeister Adolf Herkenrath vor die Gruppe, deren deutscher Restteil in Siegburg wohnte und dort einen Lebensmittelladen betrieb. Es handele sich bei der Colonia Dignidad um eine wohltätige christliche Gemeinschaft, die zwar etwas verschroben sei, aber nur Gutes tue. Ganz anders sah das die Junge Union in Siegburg, die ihren Bürgermeister wegen seiner Haltung scharf angriff. Ich hatte bei meinen Recherchen auch etwas Angst, da ich immer mehr haarsträubende Tatsachen über brutale Zustände in der Colonia Dignidad erfuhr und auch die Zusammenarbeit der Sekte mit dem chilenischen Geheimdienst mir unheimlich und gefährlich erschien. Deshalb habe ich jeden Tag meine Mutter informiert, wo ich mich gerade befinde und was ich vorhabe, falls ich mich am nächsten Tag nicht bei ihr melde.

„Colonia Dignidad. Deutsches Mustergut in Chile – ein Folterlager der DINA.“

Das Verrückte war, dass ich in Hamburg bei einem Gespräch mit der Mutter eines Sektenmitglieds, das in Chile lebte, erfuhr, dass Wolfgang Müller in Verwandtenkreisen ebenfalls recherchierte. Ich habe mich mit ihm dann in einer Kneipe in Hamburg getroffen und durch vorsichtiges Nachfragen erfahren, dass er bei seinem Arbeitgeber, der Zeitschrift STERN, freigestellt sei, um über die Colonia Dignidad zu recherchieren, da der STERN zu diesem Thema eine Veröffentlichung plane. Das war der Beginn der Zusammenarbeit von Amnesty International und dem STERN, die zur zeitgleichen Veröffentlichung des STERN-Artikels und der Amnesty-Broschüre „Colonia Dignidad – Deutsches Mustergut in Chile, ein Folterlager der DINA“ am 21. März 1977 führte.

MD: Du bist außerdem auch Mitbegründer der „Not- und Interessengemeinschaft für die Geschädigten der Colonia Dignidad“ gewesen. Wie kam es dazu, welche Anliegen hattet ihr konkret und wie erfolgreich war eure Arbeit?

JK: Nach der Veröffentlichung folgte, wie ich das befürchtet hatte, eine Klage der Sekte gegen uns und den STERN vor dem Landgericht Bonn. Die Sekte war so dreist, die von uns zusammengetragenen sehr dichten Aussagen und Indizien zu bestreiten. Vor dem Bonner Landgericht sagten ehemalige Häftlinge und sogar ein DINA-Agent aus, sodass das Thema aber immer wieder in den Medien aufgenommen wurde. Zum nächsten Knall kam es aber, als 1985 die Ehepaare Packmor und Hugo Baar, ehemals mit Paul Schäfer in der Führung der Sekte, aus der Colonia Dignidad flohen und vor der deutschen Botschaft über schwerste Menschenrechtsverletzungen und auch über Waffenschmuggel berichteten.

Paul Schäfer sollte genau wie die anderen Führungsmitglieder strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden.

MD: Und was passierte dann?

JK: Der Deutsche Bundestag griff dies mit gewisser Verzögerung auf und setzte im Februar 1988 eine Anhörung vor einem Unterausschuss des Deutschen Bundestages an. Wolfgang Müller und ich trommelten die uns bekannten Verwandten der Sektenmitglieder zusammen, damit sie an der öffentlichen Anhörung teilnahmen. Es kamen etwa 40 Leute zusammen. Wir haben in Bonn in einem Kloster gewohnt und am Vorabend der Anhörung beschlossen, den Betroffenenverein zu gründen. Der Name „Not-und Interessengemeinschaft der Geschädigten der Colonia Dignidad“ stammte von Wolfgang Müller, der inzwischen geheiratet und den Namen seiner Frau Kneese angenommen hatte. Die Satzung, die wir uns gegeben haben, stammte von mir. Ich habe Wert auf Basisdemokratie gelegt. Wir haben uns bewusst entschieden, wegen der Gefahr zu großer Bürokratie, den Verein nicht ins Vereinsregister einzutragen. Es gibt keinen Vorsitzenden. Wir haben damals fünf gleichberechtigte Sprecher gewählt. Einer davon war ich. Unser oberstes Ziel war, dass die Menschen, die in der Colonia Dignidad lebten, in freier Selbstbestimmung entscheiden sollten, wie sie leben. Paul Schäfer sollte genau wie die anderen Führungsmitglieder strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Auch die Aufklärung und Bestrafung der chilenischen Täter, die Folter und Mord begangen hatten, war Ziel der Not- und Interessengemeinschaft.

Jürgen Karwelat und Mitglieder der CD-Verwandtengruppe am 5.11.1988 in Siegburg. Die Gruppe hatte dort auf dem Platz vor dem Rathaus einen Informationsstand aufgestellt.

MD: Wie ging es dann weiter?

JK: Wir haben uns in den Folgejahren regelmäßig mindestens einmal im Jahr in Hannover oder Braunschweig getroffen. In Siegburg und Gronau haben wir Infoveranstaltungen gemacht und unzählige Interviews gegeben. Bei unserer Aktion in Siegburg kam es zur Konfrontation mit der Sekte, weil wir vor deren Lebensmittelladen unsere Flugblätter verteilt haben und die Sekte daraufhin die Polizei rief.

Leider haben die Aktivitäten der Not- und Interessengemeinschaft nicht den Skandal Colonia Dignidad beseitigt. Wir sind aber über Jahre dran geblieben und haben Bundestagsabgeordnete und das Auswärtige Amt mit Informationen und Protestbriefen versorgt und unser Unverständnis geäußert, dass die Menschenrechtsverletzungen, die in der Colonia Dignidad ja bis zum Verschwinden von Schäfer im Jahr 1997 weiter gingen, nicht unterbunden wurden. Als 2016 der Film „Colonia Dignidad – Es gibt kein Zurück“ in die Kinos kam und dadurch wieder Aufmerksamkeit auf die Colonia Dignidad gezogen wurde, waren wir auch wieder bei öffentlichen Diskussionen dabei und haben Bundestagsabgeordnete sensibilisiert.

Schäfer hat uns, zu Recht, ernst genommen.

MD: Im Februar 2019 habe ich in der Villa Baviera im Rahmen meines Dissertationsprojekts Interviews mit den dortigen Bewohner*innen geführt. Dabei erzählte mir ein Zeitzeuge, dass ihr in der Colonia Dignidad von Paul Schäfer und anderen immer abfällig als „Kot- und Interessengemeinschaft“ bezeichnet wurdet. Ich würde sagen, dass dieser Spottname zeigt, dass ihr an den richtigen Stellen Druck gemacht habt. Siehst du das auch so?*

JK: Wir wussten nicht, dass wir in der Colonia Dignidad als „Kot- und Interessengemeinschaft“ bezeichnet wurden. Wir wussten allerdings, dass Paul Schäfer und seine Führungsgruppe uns bei den Sektenmitgliedern schlecht gemacht hat und vor einem Kontakt mit uns gewarnt hat. Wir waren „vom Teufel“. Dies zeigt allerdings, dass unsere Arbeit Wirkung gehabt hat. Paul Schäfer hat uns, zu Recht, ernst genommen.

Frauen standen beim Sektenführer am untersten Ende der Rangfolge.

MD: Gemeinsam mit Heike Rittel hast du zuletzt die „Frauenprotokolle“ veröffentlicht. In den Interviews mit den Frauen wird sehr deutlich, dass auch die Mädchen und Frauen in der Colonia Dignidad zu Opfern von sexualisierter Gewalt wurden. Welche Bedeutung hatte das Buch deiner Einschätzung nach für den Prozess der Aufarbeitung dieses Teils der Colonia-Geschichte?

JK: Das Buch lenkt die Aufmerksamkeit auf eine Tatsache, die lange ignoriert worden war, nämlich das spezielle Schicksal der Frauen in der Colonia Dignidad. Mädchen und Frauen sind, wie auch die Jungen und Männer, geschlagen, getreten, eingesperrt und mit Psychopharmaka vollgepumpt worden. Für die Frauen hatte das aber zum Teil drastischere Folgen als für die Männer. Viele Frauen wurden unfruchtbar und kämpfen heute mit dem, aus ihrer Sicht, sehr schlimmen Schicksal, keine Kinder bekommen zu haben. Frauen standen beim Sektenführer am untersten Ende der Rangfolge. Das haben wir vor der Veröffentlichung des Buchs mit den Interviews, die Heike Rittel gemacht hat, so nicht beachtet.

Hier wird eine Antragsbürokratie aufgebaut.

MD: Wo siehst du die größten Herausforderungen für den laufenden Aufarbeitungsprozess und was wünschst du den verschiedenen deutschen und chilenischen Opfergruppen für die Zukunft?

 JK: Ich bin mit dem laufenden Prozess der Aufarbeitung und Wiedergutmachung sehr unzufrieden. Der Deutsche Bundestag hat im Juni 2017 weitreichende Beschlüsse zur Colonia Dignidad, bzw. zur Villa Baviera, wie sie sich heute nennt, gefasst. Es hapert aber mit der Umsetzung. Zur Entschädigung der Opfer der Sekte, also in erster Linie der deutschen Mitglieder der Sekte, ist zwar die Gründung eines Hilfsfonds beschlossen worden, der für 2019 mit einer Million Euro ausgestattet ist. Die Bedingungen zum Erhalt von maximal 10.000 Euro sind aber sehr bürokratisch ausgestaltet worden. Die Opfer empfinden es als bevormundend und inakzeptabel, dass sie genaue Rechenschaft darüber ablegen müssen, was sie mit dem versprochenen Geld machen. Die Menschen sind sehr arm und haben wegen der jahrelangen Zwangsarbeit keine Rentenansprüche erarbeitet. Das ist ihr Hauptproblem. Geld wird nur gewährt, wenn es verwendet wird, um noch bestehende Defizite, die durch den Aufenthalt in der Colonia Dignidad entstanden sind und noch weiter bestehen, beseitigt oder gelindert werden. Hier wird eine Antragsbürokratie aufgebaut. Klarer und einfacher wäre es gewesen, jedes Opfer hätte den Betrag zur eigenständigen freien Verwendung als Anerkennung der erlittenen Leiden erhalten, ähnlich den Zwangsarbeitern aus Osteuropa, denen man auch keine Vorschriften über die Verwendung des Geldes gemacht hat. In diesem Sinne haben wir bei den Bundestagsabgeordneten und dem Auswärtigen Amt interveniert. Eine Rückmeldung haben wir aber leider nicht erhalten.

Interview mit Dr. Elke Gryglewski über das geplante Gedenkstättenprojekt in der Villa Baviera

Die Schaffung einer Begegnungs- und Erinnerungsstätte in der Villa Baviera kommt meines Erachtens leider auch nicht richtig voran. Auch für die chilenischen Folteropfer muss dringend etwas getan werden. Wir sehen auch keine Aktivitäten, dass nach dem von den Führungsmitgliedern versteckten Geld gefahndet wird. In der Karibik soll Paul Schäfer viel Geld „gebunkert“ haben. Einzig positiv zu bewerten ist der Start des auch von uns begrüßten Oral-History-Projekts der Freien Universität Berlin. Es sollen in den nächsten drei Jahren ca. 50 Interviews mit ehemaligen Sektenmitgliedern, chilenischen Opfern und Aktivist*innen geführt werden, um die Colonia Dignidad wissenschaftlich zu dokumentieren und einen Teil dieser Interviews für die geplante Begegnungs- und Erinnerungsstätte zu nutzen.

MD: Und wie geht es mit der Arbeit der Not- und Interessengemeinschaft weiter?

JK: Eines kann man sagen, die Not- und Interessengemeinschaft, vor 31 Jahren gegründet, ist kleiner geworden, einige unserer Mitglieder sind schon sehr alt, einige sind gestorben. Wir machen aber weiter, um eine gerechte Lösung für die Opfer der Colonia Dignidad zu schaffen.

(Jürgen Karwelat beantwortete die Fragen schriftlich via Email.) 

*Aktualisierung am 20. August 2019 um 10:18 Uhr: Als Reaktion auf dieses Interview erhielt ich eine Email, in der ich darauf hingewiesen wurde, dass Paul Schäfer nicht nur von der „Kot- und Interessengemeinschaft“, sondern von der „Kot- und Fäkaliengemeinschaft“ gesprochen hatte, um die Arbeit der „Not- und Interessengemeinschaft der Geschädigten der Colonia Dignidad“ zu diskreditieren.