„Die Colonia Dignidad zwischen Erinnern und Vergessen
Zur Erinnerungskultur in der ehemaligen Siedlungsgemeinschaft“
von Meike Dreckmann-Nielen im Transcript-Verlag erschienen.
Aus dem Klappentext:
Die Colonia Dignidad erlangte wegen zahlreicher bis heute unaufgeklärter Menschenrechtsverbrechen internationale Bekanntheit. Dass einstige Mitglieder der deutschen Gruppe das historische Siedlungsgelände in Chile unter dem Namen »Villa Baviera« (deutsch: bayerisches Dorf) schrittweise zu einem touristischen Freizeitort umfunktioniert haben, sorgt angesichts der mangelnden Aufarbeitung für anhaltende Kritik. Meike Dreckmann-Nielen untersucht, wie sich einstige Mitglieder der Gruppe heute an ihre eigene Vergangenheit erinnern. In ihrer Studie ermöglicht sie einen intimen Einblick in komplexe erinnerungskulturelle Dynamiken im Mikrokosmos der ehemaligen Siedlungsgemeinschaft.
Interview des Transcript-Verlags mit der Autorin:
1. Warum ein Buch zu diesem Thema?
Die Zeit der Colonia Dignidad zählt zu den dunkelsten Kapiteln deutsch-chilenischer Geschichte. Da die Aufarbeitung der dort begangenen Verbrechen bis heute nur schleppend vorangeht, ist sie allerdings längst nicht nur ein historisches Kapitel, sondern für viele Opfer bittere Gegenwart. Dieses Buch möchte nun einen Beitrag zur Aufarbeitung leisten, indem es aufzeigt, wie die eigene Vergangenheit im Mikrokosmos der ehemaligen Colonia Dignidad heute verhandelt wird und welche Konsequenzen dies hat.
2. Welche neuen Perspektiven eröffnet Ihr Buch?
Das Buch blickt erstmals dezidiert mit einer erinnerungskulturellen Fragestellung auf die Colonia Dignidad. Es untersucht den Umgang der einstigen Mitglieder der Colonia Dignidad mit ihrer eigenen Vergangenheit an dem Ort der historischen Menschenrechtsverbrechen, dem heutigen Tourismusort ›Villa Baviera‹. Das Buch spürt gruppeninternen Narrativen und Geschichtsbildern nach, um schließlich Wirkmechanismen erinnerungskultureller Dynamiken aufzuzeigen.
3. Welche Bedeutung kommt dem Thema in den aktuellen Forschungsdebatten zu?
Der Forschungsstand zum Thema Colonia Dignidad ist bisher sehr dünn. Eine ganze Monographie zum erinnerungskulturellen Erbe der Siedlungsgemeinschaft hat es bisher noch nicht gegeben. Das Buch knüpft damit vor allem an bisherige Grundlagenstudien zur Verbrechensgeschichte an und spannt einen Bogen in die Gegenwart, indem es die Bedeutung komplexer Aushandlungsprozesse von Vergangenem in der Gegenwart einer spezifischen Siedlungsgemeinschaft analysiert.
4. Mit wem würden Sie Ihr Buch am liebsten diskutieren?
Ich wünsche mir noch einmal die Gelegenheit, persönlich mit den Betroffenen über meine Erkenntnisse aus der Forschungsarbeit zu sprechen. Leider kam die Pandemie dazwischen, sodass noch kein neues Treffen stattfinden konnte. Aktuell freue ich mich darauf, bei der Buchpräsentation im März 2022 mit Renate Künast und Elke Gryglewski über meine Ergebnisse zu diskutieren und ihre spezifischen Sichtweisen dazu zu hören.
5. Ihr Buch in einem Satz:
Das Buch beleuchtet, wie die ehemaligen Mitglieder der Colonia Dignidad heute am historischen Ort der Siedlung mit der eigenen Geschichte umgehen.
Foto von dem bisherigen Museum der Villa Baviera, Bildrechte: MDN
Veranstaltungshinweis:
Am 22.3.2022 wird am Arbeitsbereich „Didaktik der Geschichte“ der Freien Universität Berlin das Buch
Die Colonia Dignidad zwischen Erinnern und Vergessen Zur Erinnerungskultur in der ehemaligen Siedlungsgemeinschaft
von Meike Dreckmann-Nielen vorgestellt. Das Werk erscheint als OpenAccess-Version im März 2022 im Transcript-Verlag.
Aus dem Klappentext: Die Colonia Dignidad erlangte wegen zahlreicher bis heute unaufgeklärter Menschenrechtsverbrechen internationale Bekanntheit. Dass einstige Mitglieder der deutschen Gruppe das historische Siedlungsgelände in Chile unter dem Namen »Villa Baviera« (deutsch: bayerisches Dorf) schrittweise zu einem touristischen Freizeitort umfunktioniert haben, sorgt angesichts der mangelnden Aufarbeitung für anhaltende Kritik. Meike Dreckmann-Nielen untersucht, wie sich einstige Mitglieder der Gruppe heute an ihre eigene Vergangenheit erinnern. In ihrer Studie ermöglicht sie einen intimen Einblick in komplexe erinnerungskulturelle Dynamiken im Mikrokosmos der ehemaligen Siedlungsgemeinschaft.
Flyer zur Buchvorstellung von Meike Dreckmann-Nielen
Zum Ablauf der Buchpräsentation: 19:00 – 19:05 Uhr Begrüßung durch Prof. Dr. Martin Lücke (Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin) 19:05 – 19:20 Uhr Vorstellung des Buches durch die Autorin Meike Dreckmann-Nielen 19:20 – 19:30 Uhr Buch-Kommentar von Renate Künast MdB 19:30 – 19:40 Uhr Buch-Kommentar von Dr. Elke Gryglewski 19:40 – 20:00 Uhr Fragen und Diskussion
Hinweis: Die Veranstaltung findet online über Webex statt und die Zugangsdaten werden nach einer Anmeldung per Mail an clemens.bertram@fu-berlin.de verschickt. Die Teilnahme ist auch ohne Webex-Konto möglich.
Eröffnung des Colonia Dignidad Oral History Archivs (CDOH)
Am 17. März 2022 wird die Interviewplattform „Colonia Dignidad. Ein chilenisch-deutsches Oral History-Archiv“ (CDOH) veröffentlicht. Die Eröffnungsveranstaltung findet vor Ort im Berliner Humboldt Forum statt und wird online per Live-Stream übertragen.
Das Team des CDOH lädt Sie herzlich ein zur Veröffentlichung der Interviewplattform „Colonia Dignidad. Ein chilenisch-deutsches Oral History-Archiv“.
Wenn Sie nicht persönlich an der Veranstaltung in Berlin teilnehmen können, wird es die Möglichkeit geben, die Eröffnungsveranstaltung über einen Live-Stream zu verfolgen. Sowohl vor Ort im Humboldt Forum als auch für den Live-Stream wird eine Simultan-Übersetzung angeboten.
Am folgenden Vormittag werden auf einem Symposium in Berlin die Entwicklung des Interviewarchivs und die Möglichkeiten, die es für die weitere Auseinandersetzung mit der Thematik bietet, vorgestellt und diskutiert.
Die Veranstaltung wird in Kooperation mit dem Humboldt Labor im Humboldt Forum durchgeführt.
Für beide Veranstaltungen ist eine Anmeldung zwingend erforderlich, egal ob Sie vor Ort oder online teilnehmen.
Entrevista con Evelyn Hevia Jordán sobre su investigación de la historia del hospital de Colonia Dignidad
(Die deutsche Übersetzung ist weiter unten zu finden.)
Evelyn Hevia Jordán es psicóloga social e historiadora. Nacida en Chile, estudia la historia del hospital Colonia Dignidad como parte de su proyecto de tesis. En la siguiente entrevista, nos habla de su apasionante proyecto de investigación, en el que trabaja en el Instituto de América Latina de la Universidad Libre de Berlín.
Meike Dreckmann-Nielen: ¿Cómo llegaste a investigar sobre la Colonia Dignidad?
Evelyn Hevia Jordán: Desde mis años de adolescencia el tema de la Colonia Dignidad estuvo presente en mi imaginario y conocimiento general como una secta alemana con un líder pederasta a la cabeza. Tenía 16 años en 1997, cuando se produjo la fuga de Tobías Müller y Salo Luna, que tuvo una amplia cobertura de prensa, impactándome enormemente, pues éramos casi de la misma edad y nos tocaba enfrentar una vida tan diferente.
Años más tarde, como estudiante de psicología, tuve como profesor del ramo de psicopatología al Dr. Luis Enrique Peebles, quien como parte de su curriculum se presentó ante el curso como un “superviviente de la Colonia Dignidad” y “testigo clave contra Paul Schäfer y la Colonia”. En ese entonces, año 2003 ó 2004, Schäfer seguía prófugo de la justiciar chilena.
Desde mis años de estudiante universitaria me dediqué a trabajar como ayudante en asignaturas e investigaciones que tenían que ver con los procesos de elaboración del pasado reciente de la dictadura cívico-militar chilena, entonces la Colonia Dignidad era un tema que rondaba, pero no era mi foco. Fue acercándose a través de mi experiencia de trabajo como entrevistadora en el Archivo Oral de Villa Grimaldi, donde varios testigos se referían a la Colonia como un Centro de prisión política y tortura y como parte de la red de recintos secretos de la DINA. Sin embargo, solo, en 2013 fui invitada a participar en la elaboración de un primer proyecto de Archivo Oral cuyo foco era el caso Colonia Dignidad. Sin embargo, ese proyecto no se materializó, pero ese fue mi primer contacto investigando el caso. Ahí pude constatar por primera vez la magnitud y complejidad de este caso y de algún modo me sentí fuertemente llamada a intentar entender ¿cómo esto fue posible? Desde entonces, el tema Colonia Dignidad, su pasado, pero, sobre todo, sus desafíos en el presente, sus actores y actrices se han vuelto el foco central de mi trabajo.
MDN: Eres psicóloga e historiadora, ¿cómo te ayuda esta combinación en tu trabajo sobre Colonia Dignidad?
EHJ: La interdisciplinariedad es necesaria e indispensable, siempre a mis estudiantes de metodologías de la investigación cualitativa les decía: “a problemas complejos, abordajes disciplinares y metodológicos complejos”. De este modo, creo que una disciplina no puede ponerse como un traje que nos restrinja las posibilidades de comprender e intervenir en un fenómeno social. Así que me he formado en dos disciplinas que de algún modo se ocupan por el pasado, en la versión de la psicología más clásica centrada en el individuo, el foco está puesto en cómo ese pasado, las relaciones primarias, familiares y la socialización afecta la vida y relaciones en el presente para una persona. Por otro lado, la historia, nos ofrece una comprensión desde procesos sociales, políticos, culturales del pasado, para comprender nuestras problemáticas en el presente. Esto dicho de modo muy general, porque sabemos que para ambas disciplinas hay debates y corrientes que marcan diferencias.
De ambas, rescato su precisión y aportes metodológicos. La psicología me ha entregado valiosas herramientas en el trabajo directo con las personas, que hacen posible construir confianzas, cuidar el vínculo y respetar a todas las personas en su condición de seres humanos que han sufrido de diversos modos, en diversas circunstancias y por la acción u omisión de diversos actores. La reflexión ética, la capacidad de escucha, la confidencialidad y un análisis puesto en las relaciones, juegan un rol clave en ello. Por otro lado, está la historia, que me ha entregado una comprensión del contexto social, político, judicial y cultural de una determinada época. El trabajo con archivos, fuentes, es una disciplina que invita a buscar la multiperspectiva y a cuestionar también la noción de verdad, con mayúsculas, me enseña a cultivar la cautela antes de dar algo por hecho, pues la historia también es el resultado del tiempo en que se escribe y de las condiciones de posibilidad o limitaciones que tiene quien la escribe. La historia, exige un examen constante de las fuentes y de los modos de interpretarlas. Por ejemplo, en el caso Colonia Dignidad, existen numerosas declaraciones judiciales, pero hoy sabemos que muchas de ellas fueron hechas bajo presión de sus testigos en los tiempos de Schäfer, entonces es importante cuestionar el valor de verdad, lo que no significa que no sirvan para el trabajo histórico, pero hay que contrastar y analizarlas en ese marco temporal.
MDN: ¿Por qué has elegido el tema del hospital?
EHJ: En mi hipótesis central de investigación el hospital representa el centro del complejo funcionamiento de Colonia Dignidad y de algún modo, fue el que aseguró la institucionalización legal de la Sociedad Benefactora y Educacional Dignidad (SBED) en Chile, permitiendo su posterior consolidación y su funcionamiento por tanto tiempo a pesar de las denuncias ya existentes. Por otra parte, en torno al hospital se construyen y refuerzan una serie de discursos sobre el saber médico-científico y sobre las ideas germanófilas tan difundidas desde mucho antes en Chile: orden, limpieza, trabajo, esfuerzo, puntualidad, etc. También, elegí el hospital porque es un caso desafiante en términos éticos y políticos, quizás esto es lo más sensible y complejo, porque implica hablar de las zonas grises, como lo planteara Primo Levi. El hospital cumplió un rol donde el Estado chileno se vio superado y se practicaron atenciones médicas efectivas que lo diferenciaban de un sistema de salud público deficitario, pero, por otro lado, el hospital contribuyó a esconder prácticas criminales y eso es un hecho que no lo digo yo, sino también lo han señalado ante la justicia quienes participaron y fueron víctimas de esos crímenes.
MDN: ¿Cuál es tu objetivo de investigación?
EHJ: Mi objetivo es reconstruir la historia del hospital, desde su instalación como hospital “El Lavadero”, hasta el cierre, como hospital “Villa Baviera”. Para lo cual he determinado hasta ahora tres periodos históricos: Instalación e institucionalización; consolidación y cierre. Por cierto, mi tesis doctoral es el primer trabajo con el foco puesto en el hospital y espero que luego vengan otros que profundicen, expliquen, amplíen o cuestionen mis hallazgos.
MDN: ¿Cuáles son tus fuentes?
EHJ: He trabajado y sigo trabajando con fuentes documentales escritas, prensa y entrevistas.
MDN: ¿Puedes compartir ya con nosotros algunos hallazgos? ¿O es demasiado pronto para eso?
EHJ: Todavía es pronto. Sin embargo, ha sido interesante en el contexto de mi primer capítulo donde pongo en contexto la instalación e institucionalización del hospital, observar la problemática histórica (de larga duración) que ha tenido (y tiene todavía) Chile para dar cobertura de salud pública a su población. La existencia de sociedades de beneficencia que llevaban (y llevan) a cabo tareas sanitarias no empieza ni termina con el hospital de la Colonia. Eso me llevó bastante tiempo estudiarlo y creo que queda asentado el contexto que hace posible la creación de este hospital, a pesar de que no contaba con los permisos legales de la autoridad sanitaria desde sus inicios, sino que estas autorizaciones se logran en el contexto de la comisión investigadora del parlamento en 1968. Hay que recordar que la personalidad jurídica era para beneficencia centrada en la educación.
Por otro lado, he observado cómo las conexiones germano-chilenas de larga data contribuyeron a cimentar un camino que facilitó ese proceso de institucionalización, donde participaron varios funcionarios y autoridades que tenían conexiones familiares o personales con Alemania y que tenían una muy buena opinión sobre lo que podría ofrecer una sociedad benefactora alemana en Chile.
Un tercer hallazgo preliminar, es que desde los orígenes la Colonia va a probar algunas estrategias para enfrentar sus acusaciones públicas y esto se observa en los orígenes del hospital. Por un lado, está la que he denominado “estrategia de los hechos consumados” y que en el caso del hospital va a permitir su legalización cuando ya llevaba varios años funcionando, pues hubiera sido “imposible” para las autoridades chilenas cerrar un hospital cuando el país en la década de los 60 tenía tantas necesidades sanitarias. Esta es una argumentación que queda incluso expresada en las intervenciones de Patricio Aylwin en 1968. Por otro lado, está la “estrategia de los favores”, que en el caso del hospital se observa con el apoyo que el personal del hospital El Lavadero prestó ante la huelga nacional del sector salud en 1966. El apoyo al sector público de salud, le valió el reconocimiento por escrito de autoridades sanitarias y el ofrecimiento de apoyo incondicional que quedó por escrito y que fue utilizado en defensa de la SBED en el marco de las acusaciones tras la fuga de Wolfgang Müller y Wilhelmine Lindemann en 1966 y en el marco de las investigaciones y discusiones parlamentarias de 1968.
MDN: ¿Cuál crees que es el mayor desafío de la investigación de Colonia Dignidad?
EHJ: Hay un desafío ético. Como dijo en cierta ocasión Horst Schaffrik, esto no es un tema del pasado, no es historia. Y tiene razón. No es un tema del pasado del que se pueda hacer historia como si las personas afectadas no siguieran vivas sufriendo las consecuencias de las acciones del pasado, pero también de las inacciones o falta de voluntad política del presente, que tan nítidamente vemos en el caso de familiares de detenidos desparecidos, quienes a casi 50 años siguen exigiendo saber dónde están y qué pasó con sus familiares, o de los jóvenes chilenos abusados sexualmente que llevan años esperando el pago de sus indemnizaciones. El desafío ético tiene que ver con el tratamiento que le damos al caso y a las personas que muchas veces nos cooperan, por ejemplo, con entrevistas. Hay que evitar caer en el “extractivismo académico”, donde vamos, entrevistamos y luego publicamos nuestros trabajos y nunca las personas entrevistadas supieron en qué y cómo usamos sus relatos.
Por otra parte, hay que desarrollar investigaciones que no solo contribuyan al conocimiento especializado de este tema, sino también al conocimiento público, el tema de la Colonia y de las violaciones a los DDHH son temas de interés público actual y también para las generaciones que vienen.
Un reto metodológico y analítico, tiene que ver con cómo se interpretan o analizan las fuentes, hay que desarrollar fórmulas que permitan contrastar fuentes. También, un reto es cómo acotar nuestros temas de investigación, creo que a todos quienes nos hemos aproximado al caos de la Colonia desde la investigación, nos ha pasado sentir la necesidad de explicarlo todo (lo que es imposible) para entrar en un foco específico. Hoy se necesitan investigaciones que aborden tantas dimensiones particulares que nunca nadie ha pensado ni trabajado y desde diferentes enfoques científicos e incluso artísticos, creativos.
También hay un desafío idiomático, este es un caso que involucra dos idiomas y tenemos que hacer esfuerzos notables quienes nos interesamos por estos temas para aprender la otra lengua.
MDN: ¿Por qué te fascina el tema de la Colonia Dignidad?
EHJ: Es un tema que necesita un compromiso de larga data. En mi caso, me he acercado en mi rol como psicóloga social y luego como investigadora en historia. He conocido a los diferentes grupos de víctimas y el contacto con ellos y ellas me ha tocado en una dimensión de compromiso humano y profesional. Una no puede simplemente irse a la casa cuando hay tanto por hacer en el ámbito de la investigación, del acompañamiento, de la escucha, de la justicia, del conocimiento histórico, de la memoria y de la transmisión a las nuevas generaciones. Entonces, me compromete el trabajo en diferentes áreas que hay por hacer, las relaciones humanas que he ido construyendo y la confianza que muchos y muchas han puesto en mi persona, entonces todas son razones muy poderosas para seguir e intentar contribuir con un granito de arena a todo esto.
MDN: ¿Hay algún tema que, en tu opinión, debería recibir más atención en la investigación científica?
EHJ: Hay muchos temas, pues la investigación científica es muy reciente. Entonces, solo puedo alentar a investigadores jóvenes (y no tan jóvenes) a interesarse por este tema desde sus diferentes áreas de trabajo. También a los artistas y creadores, sabemos cuánto han aportado al debate y conocimiento público, las producciones audiovisuales, teatrales, novelas.
Eso sí, mi invitación es siempre considerando la dimensión ética en el trabajo. Estos son temas sensibles y que no pueden convertirse simplemente en objetos de estudio o creación, descuidando que nuestros principales interlocutores o público interesado son precisamente quienes fueron afectados por la Colonia.
MDN: ¿Qué consejo darías a las jóvenes becarias que quisieran iniciar un proyecto de investigación sobre el tema de la Colonia Dignidad?
EHJ: El primero y más fundamental, es el cuidado y respeto por el tratamiento de este tema, no olvidar que es un tema que interesa no solo en la academia sino a las personas que vivieron estos hechos, entonces ellos serán sus principales críticos. El segundo, es cuidarse y cuidar las relaciones que se establecen con las personas, hay que evitar caer en “alianzas” o “secretismos” que refuercen esquemas del pasado. Mantener durante el trabajo de investigación una actitud crítica y autocrítica respecto de las decisiones teóricas, metodológicas y éticas que se toman, ponderando sus efectos en los resultados. Mirar la multiperspectiva como algo que juega a favor de nuestro trabajo y no como una barrera. Y, por último, construir redes de trabajo, colaborar, intercambiarse con colegas, eso siempre ayuda a mantener esa reflexividad en el proceso de investigación.
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Evelyn Hevia Jordán vor dem Krankenhaus der Colonia Dignidad (Copyright: Evelyn Hevia Jordán)
Evelyn Hevia Jordán über ihre Forschungen zum Krankenhaus der Colonia Dignidad
Evelyn Hevia Jordán ist Sozialpsychologin und Historikerin. Die gebürtige Chilenin befasst sich im Rahmen ihres Dissertationsprojekts mit der Geschichte des Krankenhauses der Colonia Dignidad. Im Folgenden Interview gibt sie einen Einblick in ihr spannendes Forschungsprojekt, welches sie am Lateinamerikainstitut der Freien Universität Berlin erarbeitet.
Meike Dreckmann-Nielen: Wie kamst du dazu, zur Colonia Dignidad zu forschen?
Evelyn Hevia Jordán: Seit meiner Teenagerzeit war das Thema der Colonia Dignidad als eine deutsche Sekte mit einem pädokriminellen Anführer an der Spitze präsent. Ich war im Jahr 1997 gerade 16 Jahre alt, als die Flucht der Colonia-Mitglieder Tobias Müller und Salo Luna Schlagzeilen in der Presse machte. Die Geschichte hatte einen großen Einfluss auf mich, da wir fast gleich alt waren und doch ein so unterschiedliches Leben vor uns hatten. Erst Jahre später, als Psychologiestudentin, wurde ich in Psychopathologie von Dr. Luis Enrique Peebles unterrichtet, der sich im Rahmen seines Lehrplans als „Überlebender der Colonia Dignidad“ und „Kronzeuge im Fall Paul Schäfer“ vorstellte. Zu diesem Zeitpunkt, etwa 2003 oder 2004, war Paul Schäfer noch auf der Flucht vor der chilenischen Justiz.
Während des Studiums hatte ich dann als studentische Mitarbeiterin in Projekten mitgearbeitet, die sich den Prozessen der Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit der chilenischen zivil-militärischen Diktatur widmeten. In diesem Kontext war die Colonia Dignidad zwar Thema, sie war aber nicht mein Schwerpunkt.
Das Thema Colonia Dignidad begegnete mir zunehmend im Kontext meiner Arbeitserfahrung als Interviewerin im Oral History Archiv der Villa Grimaldi. Dort hatten mehrere Zeitzeug:innen die Colonia als politisches Gefängnis und Folterzentrum, sowie als Teil des Netzwerks der DINA bezeichnetet. Im Jahr 2013 wurde ich schließlich eingeladen, an der Ausarbeitung eines der ersten Mündlichen Archive mitzuwirken, das sich mit dem Fall Colonia Dignidad befassen sollte. Dieses damalige Projekt kam zwar nie zustande, aber es war eben mein erster Kontakt mit diesem Fall. Dort konnte ich zum ersten Mal das Ausmaß und die Komplexität der Colonia Dignidad sehen. Jenes wollte ich immer besser zu verstehen lernen. Seitdem ist das Thema Colonia Dignidad, seine Vergangenheit, aber vor allem seine gegenwärtigen Herausforderungen, seine Akteure und Akteurinnen in den Mittelpunkt meiner Arbeit gerückt.
MDN: Du bist Psychologin und Historikern; wie hilft dir diese Kombination in deiner Arbeit zur Colonia Dignidad?
EHJ: Interdisziplinarität ist notwendig und unverzichtbar. Ich habe meinen Student:innen der qualitativen Forschungsmethodik immer gesagt: „Komplexe Probleme erfordern komplexe disziplinäre und methodische Ansätze“. Ich bin in zwei Disziplinen ausgebildet worden, die sich in irgendeiner Weise mit der Vergangenheit befassen. Die klassischere Version der Psychologie, die sich auf das Individuum konzentriert, legt den Fokus darauf, wie die Vergangenheit, also die frühen Beziehungen, die Familie und ihre Sozialisation das Leben in der Gegenwart beeinflusst. Auf der anderen Seite bietet uns die Geschichte ein Verständnis von sozialen, politischen, kulturellen Prozessen der Vergangenheit, um unsere sozialen, politischen und kulturellen Probleme in der Gegenwart zu verstehen. Das ist sehr allgemein gesagt, denn wir wissen, dass es für beide Disziplinen Debatten und Strömungen gibt, die unterschiedlich geprägt sind.
An beiden schätze ich ihre Präzision und ihre methodischen Ansätze. Die Psychologie hat mir in der direkten Arbeit mit Menschen wertvolle Werkzeuge an die Hand gegeben, um Vertrauen aufzubauen, die zwischenmenschliche Bindung zu pflegen und alle Menschen in ihrem Zustand als menschliche Wesen zu respektieren. Sie haben alle auf unterschiedliche Weise, unter unterschiedlichen Umständen und durch das Handeln oder Unterlassen verschiedener Akteur:innen gelitten. Ethische Reflexion, die Fähigkeit zuzuhören, Vertraulichkeit und Beziehungsanalyse spielen dabei eine zentrale Rolle.
Auf der anderen Seite gibt es die Geschichte, die mir ein Verständnis für den sozialen, politischen, rechtlichen und kulturellen Kontext einer bestimmten Zeit vermittelt hat. Die Arbeit mit Archiven und Quellen ist eine Disziplin, die mich dazu einlädt, eine Multiperspektive zu suchen und den Begriff der Wahrheit in Frage zu stellen. Sie lehrt mich, Vorsicht zu kultivieren, bevor ich etwas als selbstverständlich annehme, denn Geschichte ist auch das Ergebnis der Zeit, in der sie geschrieben wird, und der Bedingungen des Möglichen oder der Einschränkungen, die der*die Autor:in hat. Sie erfordert eine ständige Auseinandersetzung mit den Quellen und den Möglichkeiten, sie zu interpretieren. Zum Beispiel gibt es im Fall Colonia Dignidad zahlreiche gerichtliche Aussagen. Heute wissen wir allerdings, dass viele von ihnen unter dem Druck auf Zeug:innen während der Zeit Schäfers gemacht wurden, so dass es wichtig ist, ihren Wahrheitswert zu hinterfragen. Dies bedeutet nicht, dass sie für die historische Arbeit nicht nützlich sind, aber sie müssen in diesem Zeitrahmen kontrastiert und analysiert werden.
MDN: Warum hast du dir das Thema des Krankenhauses ausgesucht?
EHJ: In meiner zentralen Hypothese stellt das Krankenhaus das Zentrum des komplexen Funktionierens der Colonia Dignidad dar. In gewisser Weise war es dasjenige, das die legale Institutionalisierung der Sociedad Benefactora y Educacional Dignidad in Chile sicherstellte, was dann ihre Konsolidierung und ihr Funktionieren für so lange Zeit trotz der Denunziationen ermöglichte. Andererseits werden um das Krankenhaus herum eine Reihe von Diskursen über medizinisch-wissenschaftliches Wissen und über die in Chile schon lange vorher verbreiteten germanophilen Vorstellungen konstruiert und verstärkt: Ordnung, Sauberkeit, Arbeit, Anstrengung etc. Ich habe das Krankenhaus auch deshalb gewählt, weil es in ethischer und politischer Hinsicht ein herausfordernder Fall ist. Vielleicht ist es der sensibelste und komplexeste Fall, weil er impliziert, über Grauzonen zu sprechen, wie Primo Levi es ausdrückte. Das Krankenhaus erfüllte eine Rolle, in der es den chilenischen Staat übertraf und eine effektive medizinische Versorgung bot, die sich von einem mangelhaften öffentlichen Gesundheitssystem abhob. Auf der anderen Seite trug das Krankenhaus dazu bei, kriminelle Praktiken zu verbergen. Das ist eine Tatsache, die ich nicht selbst behaupte, sondern auf die auch vor Gericht von denjenigen hingewiesen wurde, die an diesen Verbrechen beteiligt waren und Opfer davon wurden.
MDN: Was ist deine Forschungsabsicht?
EHJ: Mein Ziel ist es, die Geschichte des Krankenhauses zu rekonstruieren, von seiner Gründung als Krankenhaus El Lavadero bis zu seiner Schließung als Krankenhaus Villa Baviera. Zu diesem Zweck habe ich bisher drei historische Perioden bestimmt: Installation und Institutionalisierung, Konsolidierung und Schließung.
MDN: Was sind deine Quellen?
EHJ: Ich habe mit schriftlichen dokumentarischen Quellen, Presseveröffentlichungen und Interviews gearbeitet und werde dies auch weiterhin tun.
MDN: Kannst du schon ein paar Erkenntnisse mit uns teilen? Oder ist es dafür noch zu früh?
EHJ: Noch ist es etwas früh. Im Zusammenhang mit meinem ersten Kapitel, in dem ich die Einrichtung und Institutionalisierung des Krankenhauses in einen Kontext gestellt habe, war es jedoch interessant, die (seit langem bestehenden) historischen Probleme zu beobachten, die Chile bei der Versorgung seiner Bevölkerung mit öffentlichen Gesundheitsdiensten hatte (und immer noch hat). Die Existenz von Wohltätigkeitsvereinen, die Gesundheitsaufgaben wahrnahmen (und noch immer wahrnehmen), beginnt und endet nicht mit dem Krankenhaus der Colonia Dignidad. Es hat mich viel Zeit gekostet, dies zu studieren, und ich glaube, dass der Kontext, der die Gründung dieses Krankenhauses ermöglichte, feststeht, auch wenn es nicht von Anfang an über die gesetzlichen Genehmigungen der Gesundheitsbehörde verfügte, sondern diese Genehmigungen erst im Rahmen des parlamentarischen Untersuchungsausschusses von 1968 eingeholt wurden. Es sei daran erinnert, dass der Rechtsstatus gemeinnützigen Zwecken diente und der Schwerpunkt auf der Bildung lag.
Andererseits habe ich beobachtet, wie langjährige deutsch-chilenische Verbindungen dazu beigetragen haben, einen Weg zu ebnen, der diesen Institutionalisierungsprozess erleichterte, an dem mehrere Beamte und Behörden beteiligt waren, die familiäre oder persönliche Verbindungen zu Deutschland hatten und die eine sehr gute Meinung davon hatten, was eine deutsche Wohlfahrtsgesellschaft in Chile bieten könnte.
Ein drittes vorläufiges Ergebnis ist, dass die Colonia von Anfang an einige Strategien versuchte, um sich den öffentlichen Anschuldigungen zu stellen, was sich in den Ursprüngen des Krankenhauses zeigt. Einerseits gibt es das, was ich die „Strategie der vollendeten Tatsachen“ genannt habe, die im Fall des Krankenhauses dessen Legalisierung ermöglichte, als es bereits seit mehreren Jahren in Betrieb war. Es wäre für die chilenischen Behörden „unmöglich“ gewesen wäre, ein Krankenhaus zu schließen, als das Land in den 1960er Jahren so viele gesundheitliche Bedürfnisse hatte. Dieses Argument kommt sogar in den Reden von Patricio Aylwin im Jahr 1968 zum Ausdruck. Andererseits gibt es die „Strategie der Gefälligkeiten“, die sich im Falle des Krankenhauses in der Unterstützung des nationalen Streiks im Gesundheitssektor im Jahr 1966 durch das Personal des Krankenhauses El Lavadero zeigt. Diese Unterstützung des öffentlichen Gesundheitswesens wurde von den Gesundheitsbehörden schriftlich anerkannt und zur Verteidigung der SBED im Zusammenhang mit den Anschuldigungen nach der Flucht von Wolfgang Müller und Wilhelmine Lindemann im Jahr 1966 sowie im Rahmen der parlamentarischen Untersuchungen und Diskussionen im Jahr 1968 herangezogen.
MDN: Was ist deiner Meinung nach die größte Herausforderung an der Forschung zur Colonia Dignidad?
EHJ: Es gibt eine ethische Herausforderung. Wie der Colonia-Zeitzeuge Horst Schaffrik einmal sagte: Das ist keine Sache der Vergangenheit, das ist keine Geschichte. Und er hat Recht. Es handelt sich nicht um ein Thema der Vergangenheit, das man zur Geschichte machen kann, als ob die Betroffenen nicht noch am Leben wären und unter den Folgen vergangener Handlungen leiden würden, sondern auch um die Untätigkeit oder den mangelnden politischen Willen der Gegenwart, was wir so deutlich im Fall der Angehörigen von verschwundenen Häftlingen sehen, die fast 50 Jahre später immer noch verlangen, zu erfahren, wo sie sind und was mit ihren Angehörigen passiert ist. Oder der sexuell missbrauchten jungen Chilenen, die seit Jahren auf ihre Entschädigung warten. Die ethische Herausforderung hat mit der Behandlung zu tun, die wir dem Fall und den Menschen geben, die oft mit uns kooperieren, zum Beispiel bei Interviews. Wir müssen vermeiden, in die Falle des „akademischen Extraktivismus“ zu tappen, wo wir hingehen, Interviews führen und dann unsere Arbeit veröffentlichen und die Menschen, die wir interviewt haben, nie erfahren, wie wir ihre Geschichten verwendet haben.
Andererseits müssen wir Forschungen entwickeln, die nicht nur zum Fachwissen über dieses Thema beitragen, sondern auch zum öffentlichen Wissen. Das Thema der Kolonie und der Menschenrechtsverletzungen ist ein Thema von aktuellem öffentlichen Interesse und auch für die kommenden Generationen wichtig.
Eine methodische und analytische Herausforderung hat damit zu tun, wie die Quellen interpretiert oder analysiert werden. Es ist notwendig, Formeln zu entwickeln, die es uns erlauben, Quellen zu kontrastieren. Ich glaube, dass alle von uns, die sich dem Chaos der Colonia durch Forschung genähert haben, das Bedürfnis hatten, alles zu erklären (was unmöglich ist), um in einen bestimmten Fokus zu gelangen. Wir brauchen heute eine Forschung, die sich mit so vielen besonderen Dimensionen befasst, an die noch niemand gedacht oder gearbeitet hat, und zwar mit unterschiedlichen wissenschaftlichen und sogar künstlerischen, kreativen Ansätzen.
Es gibt auch eine sprachliche Herausforderung, denn es handelt sich um einen Fall, der zwei Sprachen betrifft, und diejenigen von uns, die sich für diese Themen interessieren, müssen bemerkenswerte Anstrengungen unternehmen, um die andere Sprache zu lernen.
MDN: Warum fasziniert dich das Thema Colonia Dignidad?
EHJ: Es ist ein Thema, das ein langjähriges Engagement erfordert. In meinem Fall habe ich mich ihr in meiner Rolle als Sozialpsychologin und dann als Forscherin in der Geschichte genähert. Ich habe verschiedene Gruppen von Opfern getroffen und der Kontakt mit ihnen hat mich in einer Dimension des menschlichen und beruflichen Engagements berührt. Man kann nicht einfach nach Hause gehen, wenn es so viel zu tun gibt auf dem Gebiet der Forschung, der Begleitung, des Zuhörens, der Gerechtigkeit, des historischen Wissens, der Erinnerung und der Weitergabe an neue Generationen. Ich engagiere mich also für die Arbeit, die in verschiedenen Bereichen getan werden muss, für die menschlichen Beziehungen, die ich aufgebaut habe, und für das Vertrauen, das viele in mich gesetzt haben. Das sind alles sehr starke Gründe, weiterzumachen und zu versuchen, ein Körnchen Sand zu all dem beizutragen.
MDN: Gibt es ein Thema, das deiner Meinung nach, mehr Aufmerksamkeit bekommen sollte?
EH: Es gibt viele Themen, da die wissenschaftliche Forschung sehr aktuell ist. Ich kann also junge (und nicht mehr ganz so junge) Forscher:innen nur ermutigen, sich in ihren verschiedenen Arbeitsbereichen mit diesem Thema zu beschäftigen. Auch Kunstschaffende und Künstler, von denen wir wissen, wie viel sie zur Debatte und zum öffentlichen Wissen beigetragen haben, audiovisuelle Produktionen, Theaterstücke, Romane.
Natürlich ist meine Aufforderung immer, die ethische Dimension der Arbeit zu berücksichtigen. Das sind heikle Themen, die nicht einfach zu Studien- oder Gestaltungsobjekten werden können, wobei wir die Tatsache vernachlässigen, dass unsere Hauptgesprächspartner:innen oder die interessierte Öffentlichkeit genau diejenigen sind, die von der Kolonie betroffen waren.
MDN: Was würdest du Nachwuchswissenschaftle:rinnen raten, die eine Forschungsarbeit zum Thema Colonia Dignidad aufnehmen möchten?
EHJ: Die erste und grundlegendste ist die Sorgfalt und der Respekt im Umgang mit diesem Thema. Vergessen Sie nicht, dass es sich um ein Thema handelt, das nicht nur für Akademiker von Interesse ist, sondern auch für die Menschen, die diese Ereignisse miterlebt haben. Also werden sie die Hauptkritiker:innen sein. Zweitens ist es wichtig, auf sich selbst und die Beziehungen zu den Menschen zu achten, um nicht in „Allianzen“ oder „Heimlichkeiten“ zu verfallen, die die Muster der Vergangenheit verstärken. Während der Forschungsarbeit eine kritische und selbstkritische Haltung im Hinblick auf die getroffenen theoretischen, methodischen und ethischen Entscheidungen bewahren und deren Auswirkungen auf die Ergebnisse abwägen. Betrachten Sie die Multiperspektive als etwas, das für unsere Arbeit förderlich ist und nicht als Hindernis. Und schließlich hilft der Aufbau von Netzwerken, die Zusammenarbeit, der Austausch mit Kolleg:innen immer, diese Reflexivität im Forschungsprozess zu erhalten.
Hier gehts zu einem Zeitzeugen-Bericht über das Krankenhaus der Colonia Dignidad.
Die juristische Strafverfolgung von Täter*innen der einstigen Colonia Dignidad bedeutet für den Heilungsprozess vieler Opfer mehr als nur Gerechtigkeit vor dem Gesetz. Sie ist ein Teil rückwirkender Wahrheitsfindung in einer von Lügen geprägten Vergangenheit. Zeitzeuge Peter Rahl hat in der Colonia Dignidad schwere Menschenrechtsverbrechen überlebt. Er fühlt sich inzwischen bereit, auch über die dunkelsten seiner Erfahrungen zu berichten, um die Aufarbeitung voranzubringen. Im folgenden Gesprächsausschnitt gibt er einen Einblick in diese Leidensgeschichte, die in Anbetracht jüngster Entscheidungen deutscher Justizbehörden im Fall Hartmut Hopp nicht aufzuhören scheint. Peter Rahl erzählt auch von einer Entschuldigung, die der einstige Colonia-Arzt ihm bis heute schuldig geblieben ist.
Gespräch mit Zeitzeuge Peter Rahl über die Unfähigkeit „Wahrheit zu erkennen und Versagen anzuerkennen“
Meike Dreckmann-Nielen: Woran erinnern Sie sich, wenn Sie an Hartmut Hopp denken?
Peter Rahl: Nachdem ich zweieinhalb Jahre im Krankenhaus Villa Baviera in Einzelhaft festgehalten wurde (die Geschehnisse würden ein Buch füllen) kam Hopp im April 1985 in das dortige Isolierzimmer und sagte zu mir: „Wir müssen jetzt mal herausfinden, woran du wirklich leidest und eine Lösung suchen. Deshalb möchte ich dich mitnehmen nach Deutschland, um dort eine medizinische Untersuchung durchzuführen, die hier nicht möglich ist.“ Eine Woche später nahm er mich mit nach Santiago de Chile und ab ging es im Flieger nach Deutschland.
MDN: Wohin genau?
PR: Nach Siegburg, wo die „Private Sociale Mission“ ja noch ein gemietetes Haus hatte. Von dort fuhren wir in die Psychiatrische Klinik Bonn, um am Venusberg mit einem Psychiater namens Professor H. zu sprechen. Mit Elektroden übersätem Kopf kam ich dort zur Untersuchung in die Röhre. Saß danach im Wartezimmer vor dem Sprechzimmer des Professors und hörte das Gespräch zwischen Hartmut Hopp und dem Arzt mit. Hopps Frau war auch dabei. Sie werteten die vielen gefalteten Papierausdrücke der Röhre aus.
MDN: Und was kam dabei heraus?
PR: Schlussendlich sagte der Professor zu Hartmut Hopp: „Für Ihre Vermutungen gibt es keinen Hinweis. Ihr Patient ist vollkommen gesund.“ Und zu der Sekretärin: „Holen sie den Herrn Rahl doch mal herein.“
MDN: Was geschah, als Sie dann in das Zimmer gebeten wurden?
PR: Nachdem er mich begrüßte, sagte er sofort: „Ich kann Ihnen Ihre Angst nehmen. Sie sind gesund. Es liegen keinerlei Schäden oder Beeinträchtigungen vor.“ Da dachte ich mir damals: Meine Angst? Ich wusste doch, dass ich gesund bin. So hatte Hopp das also eingefädelt! „Vielleicht gibt es traumatische Belastungen aus der Kindheit“, sagte der Professor dann noch, „das müsste man in einer anderen Zusammensetzung erkunden. Aber ich kann ihnen versichern, Sie sind gesund.“ Und zu Hopp gewandt, meinte er schließlich: „Dr. Hopp, setzen Sie innerhalb von drei Tagen alle Medikamente ab und ich möchte Herrn Rahl in 14 Tagen noch einmal sehen.“
MDN: Hatte Hopp denn damit erreicht, was er mit diesem Klinikbesuch beabsichtigte?
PR: Das von Schäfer gewünschte Attest über mich, welches allen belegen sollte, dass ich, Peter Rahl, ein Geisteskranker wäre, konnte Hopp zumindest nicht mit nach Chile bringen.
MDN: Ich verstehe noch nicht ganz, was dieser ganze Aufwand bezwecken sollte.
PR: Dazu müssen Sie wissen, dass ich vor meiner Krankenhauseinlieferung Schäfer schriftlich mitgeteilt hatte, dass der sexuelle Übergriff auf mich 3 Tage nach meiner Ankunft aus Deutschland im Oktober 1973 eine Sünde ist – seine Sünde an mir. Und, dass ich eine Erklärung von ihm erwartete.
MDN: Was passierte im Anschluss an diesen Brief an Paul Schäfer?
PR: Daraufhin kam ich ins Krankenhaus und wurde über Jahre mit Elektroschocks und stärksten Medikamenten gequält. Ich lag bis zu 20 Tagen im Koma. Das Krankenhauspersonal, insbesondere Frau Dr. Gisela Seewald, hat mir dies im Nachhinein bestätigt. Mehrere Jahre später, bei einer Dokumentenvernichtungsaktion im Jahr 1999, entdeckte ich im Archiv von Dr. Gerd Seewald einen großen Umschlag mit meinem Namen drauf. Den habe ich weggeschmuggelt. Unter anderem war dort eine Kopie der Unterlagen drin, die Hartmut Hopp damals vor unserem Flug nach Deutschland per Post an den Professor in der Bonner Klinik geschickt hatte.
MDN: Und was stand in der Kopie dieser Unterlagen?
PR: Alleine 11 Seiten „Berichte“ über perverse Auffälligkeiten, sexuelle Gelüste, meine vermeintlich triebhafte Spionage über die Privatsphäre der Ehepaare und so weiter. Alle krankhaften Aktivitäten, die Paul Schäfer selbst und seine Komplizen seit Jahrzehnten lebten, wurden mir damit aufgestempelt. Das war Wahnsinn! Mit Zeugen und Uhrzeiten gelogen und erfunden – ganze 11 Seiten lang. Nie war ich dem Wunsch nach Sterben näher als in der Stunde, in der ich diesen verlogenen Bericht, von Hartmut Hopp unterschrieben, gelesen habe.
MDN: Haben Sie Hartmut Hopp selbst jemals damit konfrontieren können?
PR: Ich nicht, meine Frau Karin hatte das nach unserer Hochzeit in Chile versucht.
MDN: Und auf welche Reaktion ist sie gestoßen?
PR: Die üblichen Ausreden: „Ich musste gehorchen.“, „Ich habe nur den Auftrag ausgeführt.“, „Ich habe vieles nicht gewusst; damals hab ich das Krankenhaus noch nicht geleitet.“ und so weiter.
MDN: Hat er sich irgendwann im privaten Rahmen bei Ihnen entschuldigt?
PR: Nein, nie ein Wort der Entschuldigung. Stattdessen Sprüche wie: „Wer zurückschaut, ist nicht berufen zum Reich Gottes.“, oder „Lasst uns gemeinsam vorwärts gehen.“ Oder auch: „Alles Gewesene ist Vergeben und Vergessen.“ Oder Kurt Schnellenkamps Satz (er hatte mich in der Krankenhaus-Zeit besonders verprügelt und gefoltert): „Egal was ich dir auch alles angetan haben soll, du musst immer wissen, am Ende wollte ich nur dein Bestes!“ Er kam sich bei mir zu entschuldigen, weil er von vielen im Fundo 2003 angesprochen worden ist, ob er sich für seine Verbrechen an mir schon entschuldigt hatte. Und der Satz war das Ergebnis. Diese Menschen sind unfähig Wahrheit zu erkennen und Versagen anzuerkennen.
***Update*** (15. Februar 2021)
Nach der Veröffentlichung dieses Interviews, wandte sich eine ehemalige Mitarbeiterin des Krankenhauses der Colonia Dignidad an Peter Rahl. Sie hatte ihn damals auf der Station in schlechtem Zustand gesehen und anschließend ihrer Kollegin versprechen müssen, dass sie nie darüber sprechen würde. Nun hat sie ihre Erinnerungen doch aufgeschrieben und sie Peter Rahl mit der Bitte um Weiterleitung an diesen Blog geschickt.
Im Folgenden der Kommentar im Wortlaut:
Ich bin Alma Brückmann und teile hier mit, was mir bis heute Schreckliches im Herzen geblieben ist über eine Situation von Peter Rahl, als er noch ein junger Mann war. Damals lebten wir in der Colonia Dignidad in Chile. Ich war als Reinigungsfrau im alten Krankenhaus tätig. Auf der Station lag ein Mann als Patient in Zimmer 11. Dieses Zimmer durfte außer einigen gelernten Krankenschwestern niemand betreten. Einmal wurde ich von der Stationsschwester Ingrid K. beauftragt, vor Zimmer 11 Wache zu stehen, weil sie zu dem „gefährlichen Patienten“ hineingehen wollte. Eine Weile später kam sie heraus und beauftragte mich: „Hole eine Schüssel Wasser, Seife und zwei Handtücher und komm sofort wieder zurück!“ Ich brachte die Sachen. Sie machte die Tür auf und holte mich ins Zimmer, trotz Verbot. Ich war entsetzt. Den jungen Mann kannte ich doch; es war Peter Rahl. Er lag da wie im Koma. Er hatte alle große und kleine Notdurft unter sich gemacht und ich musste helfen, ihn sauber zu machen und umzuziehen. Eigentlich durfte auch ich dieses Zimmer nie betreten, darum verlangte Ingrid K. von mir, dass ich niemals darüber spreche, was ich hier gesehen habe. Später erfuhr ich, das Peter Rahl nicht krank war, sondern – wie wir untereinander sagten –hier „verplommt“ wurde. Auch lange Zeit später, als man ihn schon mal außerhalb des Zimmers sah, benahm er sich wie ein psychisch Kranker, er seiberte dauernd aus dem Mund und lallte vor sich her.
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Weiterführende Links zu dem Thema Colonia Dignidad:
„Zeitzeuge Peter Rahl im Interview über sein Leben nach der Colonia Dignidad“ – hier entlang!
„Jurist Andreas Schüller über den aktuellen Stand im Fall Hartmut Hopp“ – Hier entlang!
“Rechtliche Stellungnahme des ECCHR zum Beschluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf in Sachen Hartmut Hopp/ Colonia Dignidad” – Hier entlang!
“ECCHR-Stellungnahme zu der Rolle von Hartmut W. Hopp innerhalb der Colonia Dignidad” – Hier entlang!
Foto von dem bisherigen Museum der Villa Baviera, Bildrechte: MDN
Kommentar zur Veröffentlichung des Zeitzeugenberichts von Friedhelm Bensch auf diesem Blog
ein Gastbeitrag von Dieter Maier
Täter*in oder Opfer?
Viele Ich-Berichte ehemaliger Bewohner*innen der Colonia Dignidad enthalten bezeichnende Lücken. Sie verweisen auf das kaum zu lösende Problem, wer Opfer und wer Täter*in war. Schäfer hatte dafür gesorgt, dass nahezu jede*r schlug und jede*r geschlagen wurde. Ehemalige Bewohner*innen, die ausschließlich Opfer waren, gab es kaum. Ein früherer Bewohner, der wie kaum ein Anderer zum Opfer der Colonia Dignidad geworden war, ist sich heute sicher, dass die „Colonos“ nicht nur Opfer sondern auch Täter*innen waren. Er selbst, und nicht nur er, bezeichnet sich als beides. Es gab in Schäfers System kaum eine Alternative. Bisher wurden nur wenige Geschichten gesammelt, in denen einstige Colonia-Mitglieder von Momenten des Widerstands berichten, in denen sie sich der Willkür Paul Schäfers widersetzen konnten.
Auch von Zeitzeug*innen verfasste Texte auf diesem Blog enthalten dieses Täter-Opfer-Syndrom. Edeltraud Bohnau berichtet beispielsweise, wie ihr Mann Willi Malessa auf Befehl Schäfers Leichen von ermordeten chilenischen politischen Gefangenen ausgrub. Machte ihn das zum Mittäter? Friedhelm Bensch schreibt in seinem Bericht: „Diese Prügelstrafen konnten jeden treffen. Das nächste Mal wurde Manfred verschlagen… ich war auch bei denen, die zuschlugen. Erst als ich erwachsen, reifer wurde, stellte ich mich nicht mehr in die Reihe der Schläger. Ich fühlte mich bei solchen Auseinandersetzungen so, als würde ich die Strafe selber erleiden.“ Was Bensch schildert, weist ihn ohne Frage als Opfer aus, aber in einer Publikation, die Abgeordneten des Deutschen Bundestags übergeben wurde, wird Bensch ohne weitere Angabe von Gründen als einer der Täter genannt, „die unser Leben zerstörten und unheilbare Wunden in unserer Seele hinterließen“ (Die Opfer fordern Gerechtigkeit (ohne Autor), 3. Aufl. Lindenberg (Druckort) 2017).
Die früheren Bewohner*innen sehen sich heute fast alle als Opfer. Täter waren Schäfer, der schon tot war, und einige wenige enge Gefolgsleute. Dieser Blog möchte dazu beitragen, den dauernden Opfer-Diskurs zu durchbrechen, um differenzierter auf das System der Colonia Dignidad zu blicken. Denn jenes System beruhte auf ebendieser Beteiligung seiner Mitglieder an den Verbrechen. Fast in jedem Fall gibt es einen Opfer- und einen Täteranteil, und es wäre in einer gemeinsamen interdisziplinären Diskussion zu klären, wie und wozu diese zu gewichten wären.
Rückmeldungen zum Bericht von Friedhelm Bensch
Ich habe mich umgehört, um einen Eindruck zu gewinnen, wie der zuletzt auf diesem Blog veröffentlichte Text von Friedhelm Bensch im historischen Bezugsrahmen der Colonia Dignidad zu verstehen sein könnte. Bisher stehen leider erst wenige Zeitzeugenberichte zur öffentlichen Verfügung, um etwas über die Geschichte der Colonia Dignidad zu erfahren. Um in Zukunft einen angemessenen multiperspektivischen Blick auf einzelne Berichte zu ermöglichen, macht das Oral History Projekt der Freien Universität Berlin Hoffnung.
Erste Kommentare zu Benschs Text waren etwa:
Friedhelm Bensch hat Schäfer früh durchschaut. Er wurde deshalb von Schäfer auch immer schlecht angesehen.
Eine frühe Bewohnerin der Colonia Dignidad schrieb:
Jeder hat sich auf seine Weise und mit seinen Mitteln durchgekämpft.
Andere Personen wünschen sich, dass die Äußerungen einzelner ehemaliger Colonia-Bewohner*innen weitere zum Aufschreiben ihrer Erinnerungen motivieren kann. So schrieb mir einer:
Halte es für äußerst wichtig, diesen Link überall hin zu verteilen, besonders an ehemalige Colonos, damit auch seine Niederschrift als Beispiel wirkt und sich andere motivieren lassen gleiches zu tun.
Das Kontrollsystem „Bimmel und Bammel“
Ein Blick auf das perfide System der „Bimmel und Bammel“ innerhalb der Colonia Dignidad eignet sich, um den schmalen Grat des Opfer- und Täterseins zu verdeutlichen. Deshalb möchte ich abschließend noch einmal darauf eingehen. Die kleinen Jungen wurden durch ein System mit dem unscheinbaren Namen „Bimmel und Bammel“ in die Hierarchie der Colonia Dignidad eingebunden. Die Bammel waren ältere Jugendliche oder junge Männer, die den ganzen Tag die jüngeren Bimmel überwachten. Schäfer organisierte sein „Teile-und-Herrsche“, indem er jeweils einen Bammel einem Bimmel zuwies.
Einen Bammel zu haben, war eine Erziehungs- und Strafmaßnahme. Die Bammel durften die Bimmel schlagen, erniedrigen und beschuldigen. Bimmel und Bammel mussten Distanz halten. Wenn sich ein Bimmel dem anderen näher als einen Meter näherte oder sich mehr als zwei Meter entfernte, gab es sofort Schläge. Der Bammel wiederum war an den Bimmel gebunden, denn er durfte sich nur wenige Meter von ihm entfernen. Die Bimmel durften nicht miteinander sprechen, spielen oder gar sich berühren. Es war ein unerträglicher Dauerkonflikt zwischen Nähe und Distanz, der sich regelmäßig in Aggressionen der Bammel gegen die durch unsichtbare Ketten an sie gebundenen Bimmel entlud. Die Bammel gaben die Gewalt weiter, die sie selbst zuvor erlitten hatten. Für Schäfer lag der praktische Sinn dieses Systems darin, dass er tagsüber die Jungen, denen er sexualisierte Gewalt antat, von den anderen isolieren konnte. Sie konnten mit niemanden über ihre sexualisierte Gewalterfahrungen sprechen.
[Hinweis: Der CDPHB macht sich die Beiträge seiner Gastautor*innen nicht zu eigen.]
Friedhelm Bensch wurde 1953 in Deutschland geboren. Als er acht Jahre alt war, wanderte er mit 29 anderen Kindern und 8 Erwachsenen nach Chile aus. Seine eigene Mutter kam erst ein Jahr später nach. In seinem Bericht erzählt Friedhelm Bensch von dem Alltag in der Colonia Dignidad, von der Willkür Paul Schäfers und seinen Unterstützern, sowie den unsäglichen Prügelstrafen und einem Druck, dem er gegen Ende kaum standhalten konnte.
Seit 2007 lebt Friedhelm Bensch mit seiner Frau und seinem Sohn in Nordrhein-Westfalen. Dort beschloss er im Jahr 2012 seine Erinnerungen an das Leben in der Colonia Dignidad aufzuschreiben. Mit dem Wunsch, seine Erinnerungen frei zugänglich zu veröffentlichen, wandte er sich schließlich an Dieter Maier. Dieser schlug diesen Blog als Plattform vor. Der Bericht wird im Wortlaut veröffentlicht und er wurde lediglich geringfügig redigiert.
Die Erinnerungen an vergangene Zeiten sind immer höchst subjektiv und sollten nie alleinstehend als ausschließliche faktenbasierte Quelle gelesen werden. Bei dem Bericht von Friedhelm Bensch handelt sich demnach um ein Beitrag zur Auseinandersetzung mit der Geschichte der Colonia Dignidad. Eine Geschichte, die viele Menschen unterschiedlich erlebt haben.
Klicken Sie einfach auf dieses Bild, um zu dem PDF-Dokument zu gelangen:
(Hinweis: Der CDPHB versteht sich ausschließlich als Plattform; er macht sich den Bericht des Autors weder zu Eigen, noch übernimmt er Verantwortung für die geschilderten Erzählungen.)
Mile Mavroski als Gefangener in der Colonia Dignidad – die Konstruktion eines Feindbildes
– ein Gastbeitrag von Dieter Maier anlässlich des Todes von Mile Mavroski am 10.6.2020
Der Fall des in der Colonia Dignidad gefangenen Chilenen Mile Mavroski ist einzigartig. Mavroski war elf Monate in der deutschen Siedlung „verschwunden“, also seit seiner Verhaftung ohne Lebenszeichen. Von keinem anderen chilenischen politischen Gefangenen ist ein derart langes Verschwundensein und Wiederauftauchen bekannt.
Mavroski wurde am 24.09.1933 in Mazedonien geboren. Er wuchs in einer Bauernfamilie auf, lebte in einfachen Verhältnissen und war Zeit seines Lebens Analphabet. 1955 kam er nach Chile und betrieb in San Carlos das Beerdigungsunternehmen Pompas Fúnebre. Für arme Hinterbliebene machte er die Beerdigungen umsonst. Die ganze Stadt kannte ihn. Er war mit einigen lokalen Polizisten, den Carabineros, befreundet.
Seine erste von 19 Karten in einem in der Siedlung gefundenen Karteikartenarchiv erwähnt vage politische Sympathien und eine russische Migrationsgeschichte.
Karteikarte aus dem in der Colonia Dignidad gefundenen Material
Er wurde am 17.01.1974 verhaftet, nach Chillán gebracht und dort schwer gefoltert. Offenbar hielt ihn der zuständige Militärstaatsanwalt Mario Romero für ein besonders gut getarntes führendes Mitglied der Widerstandsgruppe MIR (Movimiento de Izquierda Revolucionaria) und verurteilte ihn zu einer Haftstrafe von 541 Tagen (Urteil des Kriegsgerichts San Carlos 3-1974. Der Oberste Gerichtshof Chiles hob dieses Urteil am 04.09.2019 auf). Romero ließ ihn in die Colonia Dignidad bringen. Während dieser Haft entstanden die meisten seiner 19 Karteikarten. Auf über 100 weiteren kommt sein Name vor. Auf diesen Karten wird er zum „wichtigen MIR-Mitglied“,- und gleichzeitig „sehr verbunden mit der KP (Kommunistische Partei)“, was sich in der Praxis wegen der Rivalitäten zwischen der MIR und der KP faktisch ausschloss.
Ein führendes regionales Mitglied des MIR, Ricardo Catalán, war am 30.03.1974 in Santiago von der DINA verhaftet und am 17.12.1974 nach Chillán gebracht worden, um am folgenden Tag Mavroski, der zur Vernehmung vorgeladen war, gegenüber gestellt zu werden. Romero notiert: “Wir haben Catalán in Haft, er wurde uns ausgeliehen, denn er ist in Santiago in Haft, aber sie haben ihn uns zum Verhör ausgeliehen“. Catalán stammte aus der Region der Colonia Dignidad, und das Verhör während der „Ausleihe“ drehte sich um mögliche Waffenverstecke dort und den MIR. Catalán sagte wenig Konkretes gegen Mavroski aus; er erwähnt gelegentliche Treffen und Hilfsleistungen und ein Gespräch über die Herstellung von Maschinenpistolen im zweiten Weltkrieg. Der MIR hätte, so die Karte, gerne Maschinenpistolen gehabt, aber Mavroski verstand nichts davon.
Mavroskis Karteikarten zeichnen das Bild einer Verschwörung, die bis zu den Spitzen der UP-Regierung (Unidad Popular) reicht: Ein Hubschrauber, in dem sich José Tohá, der Innenminister Allendes, befand, soll beim Rückflug von San Carlos nach Santiago auf dem Friedhof von San Carlos gelandet sein, um Waffen aus ausgegrabenen Särgen einzuladen.
Das klingt nach Legendenbildung. Särge und Urnen, in denen Waffen versteckt gewesen sein sollen, sind das Ergebnis eines Gerüchts, das zum Konstruktionselement des „bösen Russen“ wurde. „Romero hatte irgendetwas gehört, wollte mehr wissen und schnüffelte den Friedhof aus. Er fand heraus, dass Mavroski manchmal mit nur wenigen Familienangehörigen zu Beisetzungen ging. Der Militärgeistliche „glaubte“ deshalb, in den Urnen seien Waffen. Die Eintragung stammt aus der Zeit, als Mavroski in der Colonia Dignidad in Haft war. Navarrete war ein fortschrittlicher Priester und Freund Mavroskis. Das Agentennetzwerk bespitzelte ihn und hatte offenbar irgendetwas aufgeschnappt. Die Vermutung von den Waffen auf dem Friedhof verfestigt sich durch entsprechende Formulierungen auf späteren Karten zur Tatsache.
Und so geht es weiter. Mavroski wollte angeblich ein Haus neben einem Hotel kaufen. Auf dem Dach des Hotels könnte man einen Heckenschützen postieren, meint der Spitzel „Bü“. „Bü“ bekam eine Bemerkung Mavroskis mit: Wenn die Frau des Hotelbesitzers stürbe, würde er alle Kosten übernehmen. Weiter: In der Bäckerei eines sozialistischen „Marxisten und Freimaurers“ soll Mavroski einem „Dickerchen“ eine Maschinepistole gegeben haben. Einige Karten notieren Mavroskis Mitgliedschaft bei den Freimaurern. Freimaurerei und Marxismus verwandeln sich in den Köpfen des Agentennetzwerks zu einer giftigen Mischung.
Oder: “Ich bin informiert”, sagt eine DINA-Quelle aus San Carlos, dass Mavroski bei einem Sprengstoffanschlag auf den Sendemast der Firma ENTEL in San Carlos mitgewirkt habe.
Der Verhaftete Victor Faúndes sagte mit Datum vom 24.01.1974 unter der Folter aus, dass ein anderer Gefangener früher Militärs und die Familie Romero (fast sicher die Familie Mario Romeros) von San Carlos fotografiert habe. Das passt ins Schema von “Plan Z”, laut dem die Linke alle Rechten und Militärs ermorden wollten, und bedient die Paranoia der Diktatur.
All das verdichtet sich zu einem „Plan Mabrovski“. Mavroski, so die Karteikarten-Version, wollte persönlich die Waffen verteilen und dann zuerst die Extremisten führen, um das Kommissariat der Carabineros in San Carlos anzugreifen, ihnen die Waffen wegnehmen, dann dasselbe mit der Kriminalpolizei (Servicio de Investigaciones) machen und dann das öffentliche Gefängnis von San Carlos stürmen, wo er die politischen Gefangenen befreien und ihnen Waffen geben wollte. Nachdem das erledigt worden wäre, wollte er das Stadtzentrum angreifen und „die wichtigsten Familien und alle diejenigen, die Widerstand leisteten, töten. Das ganze soll als Aktion „schwarze Weihnachten“ (auch „Plan Mabrovski“) geplant worden sein. In Särgen vergrabene Waffen (fünf Kisten mit ja 25 Maschinenpistolen) sollten an Guerilleros ausgehändigt werden. Diese Aktion soll für 1974 geplant gewesen sein, dann wird sie auf 1975 umdatiert, und sie wird von einer lokalen Aktion in San Carlos zu einem landesweiten Putschversuch. Der Plan sei wegen Verhaftungen aufgeschoben worden und taucht dann als „schwarzer September“ für den zweiten Jahrestag des Putsches auf. Die Vorstellung einer „schwarzen Weihnacht“ oder eines „schwarzen Septembers“ hat sich offenbar in den Köpfen des Agentennetzwerks festgesetzt. Es gibt weitere Karteikarten, die auf ihn Bezug nehmen. Dokumente des Staatssicherheitsdientes der DDR greifen das Stichwort auf. Dort heißt es, die Erfindung eines Planes „schwarzer September“ im September 1975 in Santiago sei dazu bestimmt gewesen, das Verbot der Einreise einer UNO-Kommission zu rechtfertigen. (BStU MfS HA II 14032 Bl. 13) Mavroski leugnete beim Verhör diesen Plan.
Die Karteikarten enthalten eine Aussage Mavroskis vom 15.01.1974, also zwei Tage vor seiner Verhaftung (möglicherweise ist dies eine Aussage vor der Kriminalpolizei in San Carlos.) und ein weitere am 22.6.1974. Sie bestätigt nichts von dem, was ihm vorgehalten wird. „Ich hatte noch nicht einmal eine Wasserpistole“, sagte er vor der Kriminalpolizei in San Carlos.
In diesem anfangs rätselhaften Fall war es uns möglich, den Wahrheitsgehalt vor Ort zu überprüfen. Luis Narváez besuchte Mavroski 2015 für ein Interview. Mavroski berichtete von seinen Folterungen. Narváez‘ zweiter Besuch schlug fehl, da Mavroski ihn bat, nach dem Essen wiederzukommen, dann aber bereits im Krankenhaus lag, da er zusammengebrochen war. Im Dezember 2017 besuchten ihn Luis Narváez, Jan Stehle und Dieter Maier. Er war nun 84 Jahre alt und saß, wie jeden Tag, auf einen Stock gelehnt, mit Anzug und Krawatte vor Pompas Fúnebre, wo er zugleich wohnte, und schwatzte mit seinen Freunden. Er bat uns in seine Wohnung. Dieser Besuch, schon für sich ein Erlebnis, zeigt, wie sehr die Konstruktion eines Feindbildes und die Wirklichkeit sich unterschieden. Wir gehen an einem Leichenwagen vorbei in sein Wohnzimmer. An der Wand hängen ein Bild des jugoslawischen Partisanen-Marschalls Tito in ordensgeschmückter Uniform, Fotos von Mavroskis Brüdern (einer ebenfalls in Uniform), ein Ölgemälde seines russischen Großvaters, ein Bajonett aus dem ersten Weltkrieg und Diplome seiner Mitgliedschaft bei den Freimaurern, Großloge 123 „David Benavente“.
Mavroski gibt uns eine unfreiwillige Lektion über die Schwierigkeiten des Erinnerns. Sein Gedächtnis ist schwach, aber er erzählt flüssig aus seinem Leben. Er sagt, er sei mit 14 Jahren zu Titos Partisanenarmee gestoßen, habe dort aber nur Kartoffeln für die Kämpfer geschält. Es geht um „Kriege nach dem zweiten Weltkrieg“. Was damit gemeint ist, bleibt unklar, vielleicht Kämpfe in Titos Jugoslawien; zu Kriegsende war Mavroski jedenfalls erst 13 Jahre alt. Er habe Tito in seinem Haus besucht. Vom Bosporus aus sei er per Zug nach Moskau gereist und 1948 in Berlin gewesen. Zwei Jahre sei er in Italien gewesen, bis ihm „der Papst“ die Ausreise nach Chile ermöglicht habe. Er lebte sechs Jahre in Concepción, wo er im Krankenhaus Allende kennenlernte, und dann in San Carlos.
Seine Haft in der Colonia Dignidad schildert er zunächst als harmlos. Während der elf Monate in einem Keller sei er nicht misshandelt worden, die Augen waren nicht verbunden. Es gab keine Mitgefangenen. Schäfer verhörte ihn zwei Mal. Er wurde auch auf Russisch verhört, sagte er (er sprach kein Russisch, verstand es aber). Obwohl alle Beteiligten Spanisch sprachen, nahmen die Deutschen einen Dolmetscher für Russisch. Offenbar dachten die Verhörer, dass die KP-Leute sich heimlich auf Russisch unterhielten. In Aussagen früherer Colonia-Mitglieder werden Verhöre auf Russisch mehrfach erwähnt. Colonia-Mitglied Heinrich Neufeld, der Russisch konnte, musste als „Gefangener“ im Kartoffelkeller der Siedlung, der als Folter- und Haftort diente, Bürsten binden und „im Käfig wie (ein) Hühnerkäfig bleiben, um Gespräche mitzuhören.“ Dann sagte Mavroski leise zu uns: „Ich will mich nicht mehr an das erinnern, was gewesen ist.“ Und: “Ich glaube nicht an die Justiz.“ Langsam rückt er damit heraus, dass er mit Eintauchen bis kurz vor dem Ersticken (U-Boot-Folter) und Elektroschocks gefoltert wurde („Ja, das kann sein“). Ob er die Augen verbunden hatte? „Seguro“ (deutsch: sicher). Dass er in der Colonia Dignidad war, weiß er, weil er in der Vergangenheit zwei Tote aus dem Krankenhaus übernommen hatte, und Schäfer kannte er von Fotos.
Über die Gründe seiner Freilassung nach elf Monaten kann man nur spekulieren. Hatte er lediglich seine Haftstrafe in der Colonia Dignidad verbüßt? Hatte er Stillschweigen versprochen? Der geistliche Jorge Elias Navarette hatte Unterschriften für seine Freilassung gesammelt. Mavroskis Carabinero-Freunde mochten sich für ihn eingesetzt haben. Laut den Karten hatte sích auch eine Gruppe von Freunden für seine Freilassung eingesetzt. Diese Freunde könnten Freimaurer oder Rotarier gewesen sein, Mavroski gehörte auch zum Rotary-Club.
„Der politische Einfluss der DC, der Sozialisten und der Kommunisten beeinflussten Staatanwalt Romero, bis er ihn freiließ“, schreibt der unermüdliche Colonia-Spitzel „OMH“ (Oscar Muñoz Hildebrandt) auf Mavroskis letzter Karte. „Bü“ beschwerte sich am 22.03.1982: „Es war ein riesiger Fehler, dass Mavroski noch lebt.“. „OMH“ notiert noch 1982 die Autos, die benutzt wurden, als Mavroski eine Tote aus „dem Krankenhaus“ abholte, und er trägt 1985 noch einmal die Geschichte von den Urnen mit den versteckten Waffen vor.
Laut der Erklärung eines anderen früheren Colonia-Bewohners sagte Schäfer: „Er darf nicht lebend hier raus!“ (Erklärung von Willi Malessa im Fall Maino, 2005). Die Colonia Dignidad hatte aber kein Recht, Chilenen zu ermorden. Aber auch bei den Chilenen stand Mavroski auf der Todesliste. Der Heeresoffizier Torrealba wurde nach dem Putsch aus der Pension geholt und war für die Gefangenen in der Garnison Chillán zuständig. „Er geht sehr hart mit den Miristen (MIR-Mitgliedern, D.M.) um“, sagt „Bü“. Aus Mavroskis Aussage vom 20.01.1974 zitiert seine Karte: „Mit diesem Mann (Mavroski, DM.) kann man nichts anderes machen als ihn zu töten.“
Das Agentennetzwerk, das hier handelte, scheint Mavroski als eine Art persönliche Trophäe betrachtet zu haben. Dies würde erklären, warum es auf einer Karte heißt: „Sehr bedauerlicher Weise ist Hauptmann Rivero durch eine Indiskretion über den Ort informiert, an dem sich der Jugoslawe-Russe-Chilene Mile Mabrovski befindet“. Gemeint ist die Colonia Dignidad. Rivero, ein offenbar harter Offizier, sieht das Verhalten der Colonia Dignidad kritisch, er sagt, er hätte aus Mavroski alles innerhalb von fünf Tagen rausgeholt.
Luis Narváez traf 2018 Mavroskis Sohn Mile Mavroski Sepúlveda. Mavroski war gestürzt und bettlägerig. Er wurde rund um die Uhr gepflegt. Der Sohn wusste wenig über die Haft seines Vaters. Der Vater hatte ihm von der Haftzeit erzählt, aber ohne die Folterungen zu erwähnen.
„Don Mile“, so die zugleich liebevolle und respektvolle Anrede, starb am 10.06.2020.
Ein Jahr davor interviewte ihn ein Team des Oral-History-Projekts (CDOH) der Freien Universität Berlin. Zwei Tage nach seinem Tod stellte das Projekt den folgenden Nachruf auf seine Website:
„‚Don Mile Mavroski wurde im Jahr 1933 in Mazedonien geboren und kam 1955 nach Chile. In Concepción lernte er seine Ehefrau Carmen Sepúlveda kennen mit der er zwei Kinder hatte. Die Familie zog nach San Carlos, wo er ein Beerdigungsinstitut gründete. Wiederholt unterstützte er dabei solidarisch auch Familien, die sich eine würdige Beerdigung sonst nicht hätten leisten können. Nach dem Militärputsch wurde Mile Mavroski Mileva verhaftet und beschuldigt, dem MIR anzugehören, ein sowjetischer Spion zu sein und mit Waffen zu handeln. Im Januar 1974 brachten sie ihn aus dem Gefängnis in Chillán in die Colonia Dignidad. Don Mile war dort elf Monate lang gefangen. Damit war er der Gefangene, der die längste Zeit dort festgehalten, verhört und gefoltert wurde. Nach Chiles Rückkehr zur Demokratie sagt er vor der Comisión Nacional sobre Prisión Política y Tortura (Comisión Valech) aus und wurde in deren Aufstellung der politischen und gefolterten Gefangenen aufgenommen.
Die Interviewerin Evelyn Hevia erinnert sich: ‚Ich kam an diesem Morgen zum Interview in Begleitung von Edison und Manuel, den Kollegen des Medienteams und von Luis Narváez, einem Journalisten, der Don Mile seit Jahren kennt. Mit Luis und dem Rechtsanwalt Hernán Fernández hatten wir Don Mile bereits 2016 besucht, damals allerdings im Krankenhaus; inzwischen wohnte er in einer Seniorenresidenz und seine Tochter erzählte uns, dass ihm in der Woche nach unserem Interview die Ehrenbürgerschaft seines Wohnortes San Carlos verliehen werden würde. Denn Don Mile war eine bekannte Persönlichkeit in der Stadt, ein Mann der Solidarität, immer elegant, gut gekleidet und mit der Pfeife zwischen den Lippen oder in den Händen. Am Tag des Interviews wirkte er wie üblich mit einem strahlenden Lächeln, aber auch mit einem gewissen Widerstand dagegen, sich an die schwierigen Momente seines Lebens zu erinnern. Wir nahmen das Interview auf, in den Pausen aßen wir gemeinsam Kuchen und tranken Tee, er erzählte uns von seiner Kindheit in Mazedonien, wo er Schafe und Ziegen hütete, er erzählte uns vom Krieg und zeigte uns die Tätowierung auf seinem Arm, die dazu dienen sollte, im Falle seines Todes bei einem Bombenangriff erkannt zu werden.
Er erzählte uns auch, dass er dank der ’schlechten Wörter‘, die ihm von Freunden und Kollegen beigebracht wurden, die er bei seiner Ankunft im Land traf, gelernt habe, ‚chilenisch zu sprechen‘. Als wir uns an diesem Nachmittag von Don Mile verabschiedeten, gingen wir mit dem Bewusstsein, dass wir eine großartige Lebensgeschichte aufgezeichnet haben, denn trotz der Kürze von Don Miles Bericht bleibt damit das Zeugnis vom Leben eines großen Mannes und eines Überlebenden von so vielen verschiedenen Schlachten erhalten.‘
Es ist uns eine Ehre, durch dieses Projekt eine Aufzeichnung seiner Lebensgeschichte bewahren zu können.“
Das Interview soll 2021 im Oral History-Archiv der FU öffentlich zugänglich sein.
Quelle: Dieser Text besteht zum Teil aus Auszügen eines unveröffentlichten Manuskriptes: Dieter Maier; Luis Narvárez: Die Kartei des Terrors (unveröffentlichtes Manuskript).
Bild aus dem chilenischen Nationalarchiv, Bildrecht: CDPHB
David Bartels ist stellvertretender Leiter des Referats für Grundsatzfragen mit Bezug auf Lateinamerika und die Karibik im Auswärtigen Amt. Im Sommer 2018 kam er von seinem Posten in Washington nach Berlin und ist seither für das Thema Colonia Dignidad im Auswärtigen Amt zuständig. Im Sommer 2020 geht es für Bartels gemäß des Rotationsprinzips auf seinen nächsten Posten nach Riga. Im Interview zieht er Bilanz über die letzten Jahre und erzählt u.a. von der Rolle des Auswärtigen Amtes in der Geschichte der Colonia Dignidad, seiner Arbeit im Ministerium und von den Auswirkungen von COVID-19 auf die Aufarbeitung der Colonia Dignidad heute.
Interview mit David Bartels vom Auswärtigen Amt zum Thema Colonia Dignidad
Meike Dreckmann: Lieber Herr Bartels, für viele Leser*innen ist die Arbeit einer obersten Bundesbehörde wie dem Auswärtigen Amt nur abstrakt vorstellbar. Könnten Sie uns einen kurzen Einblick in Ihren Arbeitsalltag geben? Wie müssen wir uns Ihre Zuständigkeit für das Thema Colonia Dignidad vorstellen?
David Bartels, Auswärtiges Amt
David Bartels: Ich bin stellvertretender Leiter des Referats für Grundsatzfragen mit Bezug auf Lateinamerika und die Karibik sowie direkt zuständig für die bilateralen Beziehungen zu Argentinien und Chile. Daher kommt auch meine Zuständigkeit für die Colonia Dignidad. In meinem Arbeitsalltag beschäftige ich mich viel mit Berichten und Analysen aus den Staaten, für die ich zuständig bin. Ich stehe in Kontakt zu den Botschaften Chiles und Argentiniens und bereite z.B. Gesprächsunterlagen und Sachstände für hochrangige Kontakte vor. Der Schwerpunkt wechselt ständig. Es gibt Zeiten, da dominiert das Thema Colonia Dignidad deutlich. Und auch hier gibt es viele Unterbereiche. Die Arbeit rund um die Gemeinsame Kommission von Bundestag und Bundesregierung hat viel Zeit in Anspruch genommen, als das Hilfskonzept erstellt wurde. Zuletzt gab es mehr für mich zu tun bei der bilateralen Zusammenarbeit mit der chilenischen Regierung, z.B. zur Frage der Errichtung einer Dokumentations- und Gedenkstätte für die Opfer der Colonia Dignidad.
MD: Wann sind Sie persönlich erstmals mit dem Thema Colonia Dignidad in Berührung gekommen?
DB: Privat als Kind oder Jugendlicher. Da war das für mich einfach eine schreckliche, aber auch irgendwie schwer vorstellbare Geschichte aus einem fernen Land. Im Amt dann erst wieder im Sommer 2018, als ich meinen jetzigen Posten übernahm. Je mehr ich mich in die Thematik einarbeitete, desto furchtbarer wurde das Bild dessen, was dort geschehen ist.
MD: Welche Rolle hat das Auswärtige Amt in der Geschichte der Colonia Dignidad aus Ihrer Sicht gespielt?
DB: Es sind schwere Fehler gemacht worden, gar keine Frage. Ich habe mir viele Akten dazu durchgelesen, um zu verstehen, was in den Köpfen der Kolleg*innen damals an der Deutschen Botschaft oder auch in der Zentrale in Bonn vor sich ging. Und da habe ich gemerkt, dass es eine große Bandbreite gibt. Manches ist für mich unerklärlich. Bei anderen Akten sieht man aber auch, dass da Beamte mit sich selbst gerungen haben. Und dann gab es auch eine Zeit in den 1980er-Jahren, als das Auswärtige Amt unter dem damaligen Minister Genscher wirklich alles versuchte, um Licht in das Dunkel rund um die Colonia Dignidad zu bekommen. Das blieb erfolglos, denn der Diktator Pinochet wollte natürlich nicht zulassen, dass dann alle Gräueltaten bekannt würden. Alles in allem würde ich sagen: Man muss wirklich den Fall des einzelnen Beamten sehen, der da gehandelt hat. Aber unterm Strich wurden eben auch gravierende Fehler gemacht, so dass es da ganz sicher zumindest eine moralische Mitverantwortung des Auswärtigen Amtes gab.
MD: Im April 2016 hat Frank-Walter Steinmeier, damals noch als Außenminister, über die Verantwortung an den in der Colonia verübten Verbrechen gesagt, dass seitens des Auswärtigen Amtes „eindeutig zu wenig für den Schutz ihrer Landsleute in dieser Kolonie getan“ wurde. Was hat die Rede von Steinmeier damals rückblickend für Sie/Ihre Arbeit verändert?
DB: Ich war im April 2016 noch in Washington auf Posten, da habe ich das nur am Rande mitbekommen. Diese Rede bleibt aber bis heute für unsere Arbeit ganz wichtig. Wenn es dieses Bekenntnis von „ganz oben“ nicht gegeben hätte, hätten wir als Beamte uns gegenüber den Opfern zu dieser Frage schwer positionieren und allenfalls auf unsere persönliche Meinung verweisen können.
MD: Haben Sie den Eindruck, dass im Auswärtigen Amt aus den Fehlern im Umgang mit der Colonia Dignidad gelernt werden kann? Wurde das Thema wie angekündigt in den Lehrplan für angehende Diplomat*innen aufgenommen?
DB: Das glaube ich ganz sicher. Man sieht das vielleicht außen nicht so, aber das Thema Colonia Dignidad hat im Amt sehr viele Leute, bis an die Spitze des Amtes, beschäftigt. So etwas behält man im Gedächtnis. In einer vergleichbaren Lage würde man sich daran erinnern und sich sagen: Wir müssen um jeden Preis verhindern, dass sich so etwas wiederholt. Die Auseinandersetzung mit der Colonia Dignidad und dem Verhalten des Auswärtigen Amts damals ist heute in der Tat fester Bestandteil der amtsinternen Ausbildung. Es gibt dazu z.B. in der Diplomatenakademie in Tegel Veranstaltungen, teils im Rahmen der Attaché-Ausbildung, teils auch laufbahnübergreifend, zu denen auch Personen eingeladen werden, die dem Thema auf unterschiedliche Weise verbunden sind.
MD: Haben Sie selbst auch Reisen nach Chile unternommen?
DB: Ich konnte im November 2019 nach Chile reisen und war auch mit einer Kollegin aus der Botschaft in der Villa Baviera. Mir war das vorher von Kolleg*innen, die schon dagewesen waren, als ein sehr berührendes Erlebnis beschrieben worden. Und das stimmte wirklich. Da waren diese Folterstätten und die vielen Berichte von Misshandlungen, Demütigungen und Angst. Und dann tritt man vor die Tür und hat diese wunderschöne Landschaft vor Augen. Es war sehr beklemmend, aber auch sehr ergreifend, mit den Menschen einmal direkt zu sprechen, über die ich sonst nur ganz abstrakt in Akten und Berichten gelesen hatte.
MD: Mit welchen „Opfergruppen“ haben Sie dort gesprochen und wie ist die Auswahl zustande gekommen?
DB: Wir hatten über die Botschaft angeboten, über das Hilfskonzept zu informieren. Ich wollte dafür werben, dem Konzept eine Chance zu geben und mit uns zusammenzuarbeiten, ungeachtet aller – verständlichen – Vorbehalte und Kritikpunkte. Dazu gab es einen Termin außerhalb der Villa Baviera, am Folgetag einen innerhalb, wobei beide offen für sämtliche potenziellen Antragsteller*innen waren. Eine Familie haben wir noch separat getroffen, weil sie es terminlich anders nicht einrichten konnte. Uns war wichtig, dass sich keine Gruppierung bevorzugt oder benachteiligt fühlen sollte. In Deutschland gab es eine ähnliche, ebenfalls gut besuchte Veranstaltung in Hannover während eines vom Auswärtigen Amt geförderten Treffens eines Unterstützungsverbandes für Colonia Dignidad-Opfer.
MD: Und haben Sie auch mit chilenischen Opfergruppen gesprochen? Also etwa den Überlebenden von Folter, den Angehörigen von in der Colonia Verschwundenen, oder denjenigen Chilenen, die als Kinder noch in den 1990er-Jahren sexualisierte Gewalt durch Paul Schäfer erlitten?
DB: Ja, in Chile waren einige – allerdings wenige – Chilen*innen dabei, die in der Colonia Dignidad missbraucht worden waren, ohne dort gelebt zu haben; und auch Zwangsadoptierte. Außerdem gab es per E-Mail danach Kontakt mit einigen, die Fragen zum Hilfskonzept hatten.
MD: Viele Menschen beschreiben, dass sie die Arbeit zum Thema Colonia Dignidad auch persönlich immer wieder herausfordernd erleben. Gab es auch Momente, die Sie persönlich frustriert haben?
DB: Ja, ganz klar. In der Gemeinsamen Kommission haben Abgeordnete und Ressorts wirklich alles versucht, um das Hilfskonzept so auszugestalten, dass die Betroffenen es auch würden annehmen können. Und dann gab es aber Momente, wo wir einfach rechtlich an Grenzen stießen. Schlimmer aber waren die persönlichen Berichte, die einen wirklich über den Dienst hinaus verfolgen. Es ist ja ein Unterschied, ob man etwa in Berichten abstrakt über Familientrennungen liest oder dann von einem Menschen hört, der als Kleinkind von seiner Mutter getrennt wurde und sie lebend nicht mehr wiedergesehen hat. Oder von älteren Männern hört, wie sie als kleine Jungs immer und immer wieder missbraucht wurden. Ich kann nicht ansatzweise ahnen, was die Menschen, die das alles haben durchmachen müssen, auch seelisch darunter zu leiden haben mussten und immer noch müssen.
MD: Und gibt es etwas, dass Sie mit Blick auf das Thema positiv stimmt?
DB: Ich habe das Gefühl, dass das Hilfskonzept vielen Betroffenen wirklich etwas bringt. Ganz klar: Es gibt viel Kritik und Verbitterung, und das muss man respektieren. Aber ich habe das Gefühl, dass viele doch als eine Art Abschluss empfinden, was nun geschieht: dass der Staat, besonders das Auswärtige Amt, seine moralische Mitverantwortung öffentlich eingestanden hat; dass er Menschen zu Ihnen schickt, denen sie ihre Leidensgeschichte berichten können, wenn sie das wollen und dazu in der Lage sind; dass mit den Zahlungen wenigstens eine Geste erfolgt, die über Worte hinaus anerkennt, was diese Menschen haben durchleiden müssen. Ich hoffe einfach, dass möglichst viele Ex-„Colonos“ auch dadurch ein bisschen Genugtuung und Frieden finden. Wir müssen Ihnen aber weiterhin zeigen, dass das Thema Colonia Dignidad damit nicht für uns erledigt ist, z.B. über die Errichtung der Dokumentations- und Gedenkstätte.
MD: Die Entscheidung darüber, dass nun doch Hilfszahlungen an einige Opfer der Colonia Dignidad gezahlt werden, ist nicht gleich gefallen. Im Gegenteil, es war ein langer Aushandlungsprozess. Wie ist es aus Ihrer Sicht letztendlich doch dazu gekommen? Können Sie uns einen Einblick in Ihre Perspektive auf den Prozess geben?
DB: Auch hier muss ich darauf verweisen, dass ich erst Mitte 2018 ins Referat stieß. Da war bereits die Entscheidung gefallen, Hilfszahlungen zu leisten. Es war vorher lange Zeit unklar, auf welcher rechtlichen Grundlage Zahlungen erfolgen könnten. Bei aller moralischen Mitverantwortung des Auswärtigen Amtes: Hier handelte es sich ja um Verbrechen, die nicht der deutsche Staat, sondern deutsche Privatpersonen verübt hatten, noch dazu im Ausland und ohne eine realistische Möglichkeit – auch wenn manche das anders sehen –, das alles von Deutschland aus zu stoppen. Das musste erst einmal rechtlich möglich gemacht werden.
MD: Vor einigen Wochen wurden tatsächlich die ersten Hilfsgelder an einige Opfer der Colonia Dignidad ausgezahlt. Wie sind Sie bei der Verteilung vorgegangen?
DB: Der Auszahlungsprozess wird derzeit so zügig wie möglich fortgesetzt. Beauftragt damit ist die Internationale Organisation für Migration (IOM). Sie führt Gespräche mit Betroffenen. Dann wird geprüft, ob wir etwa belastbare und ernsthafte Erkenntnisse haben, dass es sich bei der Person vielleicht nicht um ein „Opfer“ handeln könnte. Ansonsten können die Gelder ausgezahlt werden.
MD: Wie ist dieser Geldbetrag über bis zu 10.000 € zustande gekommen?
DB: Da hat sich die Gemeinsame Kommission an anderen Regelungen für Opfer verschiedener Verbrechen orientiert, wie ich schon erklärt habe. Es ist natürlich allen klar ist, dass kein Geld der Welt das erlittene Leid der Betroffenen aufwiegen kann. Aber es handelt sich um eine Hilfsleistung, die gleichzeitig eine Geste der Anerkennung des Leids sein soll.
MD: Welche Auswirkung hat die weltweite Ausbreitung von COVID-19 auf die Auszahlungen der Hilfsgelder an die Opfer der Colonia Dignidad?
DB: Würden wir weitermachen wie bisher, würde das Verfahren wohl ins Stocken geraten. Die persönlichen Gespräche zwischen IOM und Betroffenen sind ja ganz wichtig. Aber mit den jetzigen Reisebeschränkungen und angesichts der Tatsache, dass viele Ex-„Colonos“ alters- oder gesundheitsbedingt Risikogruppen angehören, sind persönliche Besuche kaum noch möglich. Deshalb freue ich mich, dass die Gemeinsame Kommission zugestimmt hat, dass solche Gespräche jetzt auch telefonisch ermöglicht werden, wobei persönliche Besuche dann später nachgeholt werden sollen. Entscheiden müssen das die Betroffenen selbst.
MD: Welche Hilfsleistungen hat das Auswärtige Amt neben dem Geldbetrag festgelegt?
DB: Da ist vor allem noch der Fonds „Pflege und Alter“. Wir hatten in der Vergangenheit schon pflegebedürftige Menschen in der Villa Baviera unterstützt. In Deutschland greifen zumindest die funktionierenden Sozial- und Gesundheitssysteme für Betroffene. Der Fonds eröffnet jetzt die Möglichkeit, vor allem denjenigen Ex-„Colonos“, die in Chile außerhalb der Villa Baviera leben, auch eine menschenwürdige Pflege zukommen zu lassen, indem z.B. Zahlungen direkt an Pflegeeinrichtungen geleistet werden können. Nicht unbedingt „Hilfsleistungen“, aber ebenfalls wichtige Projekte sind die geplante Dokumentations- und Gedenkstätte, das laufende Projekt „Oral History“ des Lateinamerika-Instituts der FU Berlin oder auch verschiedene Dialogseminare, die das Auswärtige Amt fördert.
MD: Wo sieht sich das Auswärtige Amt hingegen nicht in der Verantwortung?
DB: Das Auswärtige Amt ist vor allem nicht für die Verbrechen selbst, die in der Colonia Dignidad verübt worden sind, verantwortlich. Ich verstehe die Verbitterung gegenüber dem Amt bei vielen Opfern sehr gut. Aber ich habe auch Äußerungen erlebt, die in die Richtung gingen, dass die Botschaft oder jedenfalls die Bundesregierung damals in Bonn das Schäfer-Regime einfach hätten beenden können, wenn man nur gewollt hätte. Das halte ich wirklich für ausgeschlossen, zumal das Auswärtige Amt ja in den 1980er-Jahren, wie schon gesagt, dann tatsächlich alles versucht hatte, um die Strukturen der Colonia Dignidad aufzubrechen und den „Colonos“ zu helfen; leider vergebens.
MD: In der heutigen Villa Baviera leben inzwischen viele Familien. Diejenigen, die Kinder bekommen konnten, fühlen sich heute mit der Kindererziehung oft überfordert. Bei wem können sie sich Hilfe holen? Hat jemand einen Blick auf die dritte Generation, die gerade mit ihren traumatisierten Eltern in Chile heranwächst?
DB: Das Auswärtige Amt bietet über die Botschaft psychologische Unterstützung an, z.B. werden Therapien bezahlt – für einzelne Personen, aber auch für Familien. Aber man muss da realistisch sein: Weder das Amt noch die Botschaft können in jeder Lebenslage zur Hilfestellung bereit stehen. Dafür haben wir weder die Expertise, noch die Mittel. Das heißt nicht, dass wir solche Probleme nicht ernst nehmen würden. Wir müssen prüfen, ob und was da geleistet werden könnte.
MD: Sie kennen die Einzelheiten der Colonia Dignidad gut. Sie wissen sicherlich, dass es zahlreiche chilenische Zeugen gibt, die aussagen, dass sie von dem damaligen Arzt der Gruppe, Hartmut Hopp, als Kinder mit Psychopharmaka ruhiggestellt wurden, bevor sie sexualisierter Gewalt durch Schäfer ausgesetzt wurden. Diese Zeugen wurden nie in Deutschland gehört. Trotz aller Vorwürfe verteidigen einige ehemalige Colonia-Anhänger*innen den Arzt bis heute. Andere halten es für schlicht unerträglich, dass der Mann juristisch in Deutschland nie belangt wurde. Können Sie die Entscheidung des Oberlandesgerichts nachvollziehen?
DB: Ich kann nur sagen: Natürlich habe ich eine persönliche Meinung dazu. Aber für uns als Bundesregierung gilt, dass wir uns in die Arbeit und Entscheidungen der Justiz nicht einmischen können und dürfen. Und das ist in einem demokratischen Rechtsstaat auch grundsätzlich richtig so, auch, wenn es im Einzelfall manchmal sehr bitter sein kann, dann schweigen zu müssen.
MD: Geht das Auswärtige Amt noch Hinweisen nach dem Vermögen nach, welches Paul Schäfer angehäuft und versteckt haben soll?
DB: Ja, aber das ist ein sehr schwieriges Unterfangen – wie übrigens eigentlich alles, was mit Vermögensanteilen, Eigentumsverhältnissen usw. rund um die ehemalige Colonia Dignidad oder die heutige Villa Baviera zu tun hat. Vereinfacht gesagt: Immer, wenn man meint, etwas durchschaut zu haben, tuen sich neue Untiefen und Verästelungen auf. Dazu kommen manchmal abenteuerlich anmutende Gerüchte und Verdächtigungen. Mein Eindruck ist, dass wir noch sehr lange damit zu tun haben werden. Zumal es in der Regel ja gerade nicht um in Deutschland geparkte Vermögenswerte geht, die wir mit deutschem Recht aufklären könnten.
MD: Es ist üblich für Mitarbeitende des Auswärtigen Amtes alle paar Jahre ihren Zuständigkeitsbereich nach dem Rotationsprinzip zu wechseln. Ein solcher Wechsel steht auch Ihnen bald bevor. Wenn Sie heute hier ein Resümee ziehen müssten, wie würde dies mit Blick auf die Aufarbeitung der Colonia Dignidad ausfallen?
DB: Stimmt, im Sommer geht es für mich an die Botschaft nach Riga. Ich muss sagen, das Thema Colonia Dignidad hat mich viel stärker berührt als irgendetwas sonst, womit ich im Auswärtigen Amt je zu tun gehabt hätte. Ich glaube, das geht allen so, die sich damit ausführlicher beschäftigen. Aber so schrecklich das Thema an sich war und ist, kann ich rückblickend auch manches Positive sehen: Das Hilfskonzept wird umgesetzt und kann Opfern der Colonia Dignidad wirklich helfen. Und in der Gemeinsamen Kommission war ich sehr beeindruckt davon, wie nachdrücklich und leidenschaftlich Abgeordnete und Regierungsvertreter*innen, immer stärker gemeinsam, zusammengearbeitet haben, um das bestmögliche Konzept auf die Beine zu stellen. Ich hoffe einfach, dass die Hilfe weiterhin angenommen wird und möglichst viele Opfer der Colonia Dignidad damit auch ein Stück weit Frieden finden können.
Peter Rahl bei Renovierungsarbeiten im neuen Haus in Gronau, Copyright: Peter Rahl/CDPHB
Peter Rahl verbrachte 32 Jahre seines Lebens in der Colonia Dignidad in Chile. Inzwischen lebt er mit seiner siebenköpfigen Familie im nordrhein-westfälischen Gronau. In diesem Interview erzählt er aus seinem Leben nach der Colonia Dignidad, von den Herausforderungen in der neuen Heimat, von Unterstützer*innen, den Hilfsgeldern aus den Mitteln des Deutschen Bundestages und seinen Wünschen für die weitere Aufarbeitung der Geschichte.
Meike Dreckmann-Nielen im Gespräch mit Peter Rahl über sein Leben nach der Colonia Dignidad
Meike Dreckmann-Nielen: Herr Rahl, Sie leben inzwischen mit Ihrer Familie in Gronau. Könnten Sie für die Leser*innen kurz erklären, wann Sie in die Colonia Dignidad kamen, wie lange Sie dort gelebt haben und wann und warum Sie sich entschieden haben, die Villa Baviera zu verlassen?
Peter Rahl: Im Oktober 1973, im Alter von 17 Jahren, kam ich in die Colonia Dignidad. Ich wurde von meiner Mutter hingeschickt, um dem Wehrdienst in Deutschland zu entgehen. Nach 32 Jahren – im Jahr 2005 –, vier Jahre nach unserer Hochzeit, hatten wir die Möglichkeit mit unseren drei dort geborenen Töchtern die Colonia Dignidad für immer zu verlassen und nach Deutschland zu gehen. Der Hauptgrund war die „Schäfer-Treue“ der Komplizen Paul Schäfers, die inzwischen das Sagen in der Colonia Dignidad fest in ihren Händen hielten. Sie verteufelten jede Aufarbeitung der Vergangenheit strikt; sie logen genauso weiter, wie sie es unter Schäfer taten. Sie begünstigten ihre Kinder (einst Schäfers Sprinter) und verhalfen ihnen zu Posten, Geld und Macht in der Colonia Dignidad. Sie herrschten wie Füchse, die versuchten ihr Fell zu wechseln, nicht aber ihre Gesinnung.
MDN: Warum sind Sie nach Gronau gekommen?
PR: Ich hatte 16 Jahre als Kind in Gronau gelebt und meine Schulzeit hier absolviert. Außerdem lebten mein Vater und weitere Verwandte hier. Ingesamt einfach viele Menschen, die sich über Jahrzehnte für meine Befreiung aus der Sklaverei eingesetzt hatten.
MDN: Wie waren die ersten Jahre in Deutschland für Sie?
PR: Meine Frau und ich hatten uns nach der Ankunft in Deutschland die Frage gestellt: Sollen wir uns in die Arme des deutschen Sozialstaates fallen lassen? Oder mit allem Willen eine eigene unabhängige Existenz aufbauen? Wir entschieden uns für eine eigene Existenz, auch als Vorbild für unsere Kinder. Wir machten uns klar, dass wir in Chile zwei entscheidende Dinge gelernt hatten: arbeiten und verzichten! Auf dieser Basis können wir es schaffen, hatten wir beschlossen.
MDN: Was geschah daraufhin?
PR: Mit 50 stieg ich also ins deutsche Berufsleben ein, bekam eine Anstellung in der Baufirma einer ehemaligen Mitschülerin von damals hier in Gronau. Ich war als Montagearbeiter deutschlandweit unterwegs und schaffte es, unsere mittlerweile siebenköpfige Familie ohne staatliche Hilfe zu versorgen. Wir bekamen einen Kredit, um eine Bauruine zu erwerben. Wir haben sie in jahrelanger Feierabend-Arbeit renoviert und zu unserem Zuhause gemacht. Die Zeit war nicht nur körperlich sehr hart, weil wir bis spät in die Nacht am Haus bauten. Die Woche über von der jungen Familie getrennt zu sein und die heranwachsenden Kinder nur am Wochenende sehen zu können – das war auch sehr schwer. Wir lebten 5 Jahre auf einer Baustelle. Jahrelang hatte meine Frau nicht einmal warmes Wasser in der Küche, und das mit den Kleinen. Es war eine sehr harte Zeit, die wir aber nie bereut haben.
MDN: Ist die Vergangenheit von Ihrer Frau und Ihnen im familiären Alltag Thema?
PR: Nein – wir können nicht nach vorne marschieren und dauernd zurückschauen. Die Vergangenheit hat uns nichts mehr zu sagen, denn aus der Vergangenheit schöpfen wir keine Kraft. Sie hat uns unwiderruflich geprägt, dauerhaft geformt, seelisch und körperlich geschädigt und verkrüppelt. Sie hat als Vergangenheit ihren Platz in der vollendeten Vergangenheit.
MDN: Sie und Ihre Frau gehören zu den ersten ehemaligen Colonia-Anhänger*innen, die Hilfszahlungen aus den Mitteln des Deutschen Bundestages erhalten haben. Wie kam es Ihres Erachtens dazu, dass es nun doch Unterstützung für die Betroffenen gab?
PR: Es ist das unermüdliche Mahnen einiger verantwortungsvoller Politiker*innen, die ihr Gewissen nicht totgeschwiegen haben und die sich entschlossen, ihre Augen und Ohren nicht vor der Wahrheit zu verschließen. In Vertretung möchte ich Renate Künast (MdB, Bündnis 90/Die Grünen) und Michael Brand (MdB, CDU) danken für ihr eisernes Durchhaltevermögen. Sie haben den Deutschen Bundestag wachgerüttelt. Sie haben den gepeinigten Opfern und von den deutschen Behörden ignorierten Flehenden im Bundestag und in der Öffentlichkeit Gesicht und Namen gegeben. Meine Frau und ich danken ihnen aus tiefstem Herzen.
MDN: Bisher haben Sie 7000€ erhalten und potenziell können Sie weitere 3000€ beantragen. Lindert dieser Geldbetrag Ihre finanzielle Not?
PR: Nein, das ist aber auch nicht sein geplanter Zweck. Eine siebenköpfige Familie mit fünf schulpflichtigen Töchtern kann durch solch einen Geldbetrag kein anderes Leben führen oder den Kindern eine bessere Ausbildung ermöglichen. Die beiden Ältesten machen gerade ihren Führerschein: Damit sind 5000€ weg! Der Betrag ermöglicht es uns, dieses Jahr weniger Schulden zu machen.
MDN: Gibt es noch etwas, dass Sie sich für die weitere Aufarbeitung der Geschichte der Colonia Dignidad wünschen?
PR: Oh ja! Ich wünsche mir, dass die wenigen Menschen, die bis heute durch den Bann des Schweigens eine befreiende Wahrheitsaufarbeitung blockieren, endlich ihren Selbstschutz aufgeben und um der Wahrheit Willen reden, egal ob aus Krefeld oder aus Chile.
MDN: Gibt es noch etwas, dass Ihnen am Herzen liegt? Hier haben Sie Raum dafür.
PR: Ich möchte den Menschen hier in Ämtern, auf Behörden, in Gemeinden, in Schulen, auf Arbeitsstellen und im gesamten persönlichen Umfeld herzlich danken für die Unterstützung, die seelische Erbauung, die Spenden an Kleidung, Möbel und Nahrung, die Hilfestellungen im Zurechtfinden in dieser für uns neuen Gesellschafts- und Sozialordnung. Dafür möchte ich mich bedanken. Ihr habt uns unermesslich mehr „Reichtum“ geschenkt, als es sich je in einer Geldsumme erfassen ließe. Herzlichen Dank!
MDN: Vielen Dank, Herr Rahl!
PR: Gerne.
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Zum Interview mit Renate Künast über ihre Arbeit hier entlang.
Das Interview mit Elke Gryglewski über die Planung einer Gedenkstätte in der ehemaligen Colonia Dignidad finden Sie hier.