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Politische Häftlinge in der Colonia Dignidad – der Fall Mile Mavroski

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Politische Häftlinge in der Colonia Dignidad – der Fall Mile Mavroski

Mile Mavroski als Gefangener in der Colonia Dignidad – die Konstruktion eines Feindbildes

– ein Gastbeitrag von Dieter Maier anlässlich des Todes von Mile Mavroski am 10.6.2020

Der Fall des in der Colonia Dignidad gefangenen Chilenen Mile Mavroski ist einzigartig. Mavroski war elf Monate in der deutschen Siedlung „verschwunden“, also seit seiner Verhaftung ohne Lebenszeichen. Von keinem anderen chilenischen politischen Gefangenen ist ein derart langes Verschwundensein und Wiederauftauchen bekannt.

Mavroski wurde am 24.09.1933 in Mazedonien geboren. Er wuchs in einer Bauernfamilie auf, lebte in einfachen Verhältnissen und war Zeit seines Lebens Analphabet. 1955 kam er nach Chile und betrieb in San Carlos das Beerdigungsunternehmen Pompas Fúnebre. Für arme Hinterbliebene machte er die Beerdigungen umsonst. Die ganze Stadt kannte ihn. Er war mit einigen lokalen Polizisten, den Carabineros, befreundet.

Seine erste von 19 Karten in einem in der Siedlung gefundenen Karteikartenarchiv erwähnt vage politische Sympathien und eine russische Migrationsgeschichte.

Karteikarte aus dem in der Colonia Dignidad gefundenen Material

Er wurde am 17.01.1974 verhaftet, nach Chillán gebracht und dort schwer gefoltert. Offenbar hielt ihn der zuständige Militärstaatsanwalt Mario Romero für ein besonders gut getarntes führendes Mitglied der Widerstandsgruppe MIR (Movimiento de Izquierda Revolucionaria) und verurteilte ihn zu einer Haftstrafe von 541 Tagen (Urteil des Kriegsgerichts San Carlos 3-1974. Der Oberste Gerichtshof Chiles hob dieses Urteil am 04.09.2019 auf). Romero ließ ihn in die Colonia Dignidad bringen. Während dieser Haft entstanden die meisten seiner 19 Karteikarten. Auf über 100 weiteren kommt sein Name vor. Auf diesen Karten wird er zum „wichtigen MIR-Mitglied“,- und gleichzeitig „sehr verbunden mit der KP (Kommunistische Partei)“, was sich in der Praxis wegen der Rivalitäten zwischen der MIR und der KP faktisch ausschloss.

Ein führendes regionales Mitglied des MIR, Ricardo Catalán, war am 30.03.1974 in Santiago von der DINA verhaftet und am 17.12.1974 nach Chillán gebracht worden, um am folgenden Tag Mavroski, der zur Vernehmung vorgeladen war, gegenüber gestellt zu werden. Romero notiert: “Wir haben Catalán in Haft, er wurde uns ausgeliehen, denn er ist in Santiago in Haft, aber sie haben ihn uns zum Verhör ausgeliehen“. Catalán stammte aus der Region der Colonia Dignidad, und das Verhör während der „Ausleihe“ drehte sich um mögliche Waffenverstecke dort und den MIR. Catalán sagte wenig Konkretes gegen Mavroski aus; er erwähnt gelegentliche Treffen und Hilfsleistungen und ein Gespräch über die Herstellung von Maschinenpistolen im zweiten Weltkrieg. Der MIR hätte, so die Karte, gerne Maschinenpistolen gehabt, aber Mavroski verstand nichts davon.

Mavroskis Karteikarten zeichnen das Bild einer Verschwörung, die bis zu den Spitzen der UP-Regierung (Unidad Popular) reicht: Ein Hubschrauber, in dem sich José Tohá, der Innenminister Allendes, befand, soll beim Rückflug von San Carlos nach Santiago auf dem Friedhof von San Carlos gelandet sein, um Waffen aus ausgegrabenen Särgen einzuladen.

Das klingt nach Legendenbildung. Särge und Urnen, in denen Waffen versteckt gewesen sein sollen, sind das Ergebnis eines Gerüchts, das zum Konstruktionselement des „bösen Russen“ wurde. „Romero hatte irgendetwas gehört, wollte mehr wissen und schnüffelte den Friedhof aus. Er fand heraus, dass Mavroski manchmal mit nur wenigen Familienangehörigen zu Beisetzungen ging. Der Militärgeistliche „glaubte“ deshalb, in den Urnen seien Waffen. Die Eintragung stammt aus der Zeit, als Mavroski in der Colonia Dignidad in Haft war. Navarrete war ein fortschrittlicher Priester und Freund Mavroskis. Das Agentennetzwerk bespitzelte ihn und hatte offenbar irgendetwas aufgeschnappt. Die Vermutung von den Waffen auf dem Friedhof verfestigt sich durch entsprechende Formulierungen auf späteren Karten zur Tatsache.

Und so geht es weiter. Mavroski wollte angeblich ein Haus neben einem Hotel kaufen. Auf dem Dach des Hotels könnte man einen Heckenschützen postieren, meint der Spitzel „Bü“. „Bü“ bekam eine Bemerkung Mavroskis mit: Wenn die Frau des Hotelbesitzers stürbe, würde er alle Kosten übernehmen. Weiter: In der Bäckerei eines sozialistischen „Marxisten und Freimaurers“ soll Mavroski einem „Dickerchen“ eine Maschinepistole gegeben haben. Einige Karten notieren Mavroskis Mitgliedschaft bei den Freimaurern. Freimaurerei und Marxismus verwandeln sich in den Köpfen des Agentennetzwerks zu einer giftigen Mischung.

Oder: “Ich bin informiert”, sagt eine DINA-Quelle aus San Carlos, dass Mavroski bei einem Sprengstoffanschlag auf den Sendemast der Firma ENTEL in San Carlos mitgewirkt habe.

Der Verhaftete Victor Faúndes sagte mit Datum vom 24.01.1974 unter der Folter aus, dass ein anderer Gefangener früher Militärs und die Familie Romero (fast sicher die Familie Mario Romeros) von San Carlos fotografiert habe. Das passt ins Schema von “Plan Z”, laut dem die Linke alle Rechten und Militärs ermorden wollten, und bedient die Paranoia der Diktatur.

All das verdichtet sich zu einem „Plan Mabrovski“. Mavroski, so die Karteikarten-Version, wollte persönlich die Waffen verteilen und dann zuerst die Extremisten führen, um das Kommissariat der Carabineros in San Carlos anzugreifen, ihnen die Waffen wegnehmen, dann dasselbe mit der Kriminalpolizei (Servicio de Investigaciones) machen und dann das öffentliche Gefängnis von San Carlos stürmen, wo er die politischen Gefangenen befreien und ihnen Waffen geben wollte. Nachdem das erledigt worden wäre, wollte er das Stadtzentrum angreifen und „die wichtigsten Familien und alle diejenigen, die Widerstand leisteten, töten. Das ganze soll als Aktion „schwarze Weihnachten“ (auch „Plan Mabrovski“) geplant worden sein. In Särgen vergrabene Waffen (fünf Kisten mit ja 25 Maschinenpistolen) sollten an Guerilleros ausgehändigt werden. Diese Aktion soll für 1974 geplant gewesen sein, dann wird sie auf 1975 umdatiert, und sie wird von einer lokalen Aktion in San Carlos zu einem landesweiten Putschversuch. Der Plan sei wegen Verhaftungen aufgeschoben worden und taucht dann als „schwarzer September“ für den zweiten Jahrestag des Putsches auf. Die Vorstellung einer „schwarzen Weihnacht“ oder eines „schwarzen Septembers“ hat sich offenbar in den Köpfen des Agentennetzwerks festgesetzt. Es gibt weitere Karteikarten, die auf ihn Bezug nehmen. Dokumente des Staatssicherheitsdientes der DDR greifen das Stichwort auf. Dort heißt es, die Erfindung eines Planes „schwarzer September“ im September 1975 in Santiago sei dazu bestimmt gewesen, das Verbot der Einreise einer UNO-Kommission zu rechtfertigen. (BStU MfS HA II 14032 Bl. 13) Mavroski leugnete beim Verhör diesen Plan.

Die Karteikarten enthalten eine Aussage Mavroskis vom 15.01.1974, also zwei Tage vor seiner Verhaftung (möglicherweise ist dies eine Aussage vor der Kriminalpolizei in San Carlos.) und ein weitere am 22.6.1974. Sie bestätigt nichts von dem, was ihm vorgehalten wird. „Ich hatte noch nicht einmal eine Wasserpistole“, sagte er vor der Kriminalpolizei in San Carlos.

In diesem anfangs rätselhaften Fall war es uns möglich, den Wahrheitsgehalt vor Ort zu überprüfen. Luis Narváez besuchte Mavroski 2015 für ein Interview. Mavroski berichtete von seinen Folterungen. Narváez‘ zweiter Besuch schlug fehl, da Mavroski ihn bat, nach dem Essen wiederzukommen, dann aber bereits im Krankenhaus lag, da er zusammengebrochen war. Im Dezember 2017 besuchten ihn Luis Narváez, Jan Stehle und Dieter Maier. Er war nun 84 Jahre alt und saß, wie jeden Tag, auf einen Stock gelehnt, mit Anzug und Krawatte vor Pompas Fúnebre, wo er zugleich wohnte, und schwatzte mit seinen Freunden. Er bat uns in seine Wohnung. Dieser Besuch, schon für sich ein Erlebnis, zeigt, wie sehr die Konstruktion eines Feindbildes und die Wirklichkeit sich unterschieden. Wir gehen an einem Leichenwagen vorbei in sein Wohnzimmer. An der Wand hängen ein Bild des jugoslawischen Partisanen-Marschalls Tito in ordensgeschmückter Uniform, Fotos von Mavroskis Brüdern (einer ebenfalls in Uniform), ein Ölgemälde seines russischen Großvaters, ein Bajonett aus dem ersten Weltkrieg und Diplome seiner Mitgliedschaft bei den Freimaurern, Großloge 123 „David Benavente“.

Mavroski gibt uns eine unfreiwillige Lektion über die Schwierigkeiten des Erinnerns. Sein Gedächtnis ist schwach, aber er erzählt flüssig aus seinem Leben. Er sagt, er sei mit 14 Jahren zu Titos Partisanenarmee gestoßen, habe dort aber nur Kartoffeln für die Kämpfer geschält. Es geht um „Kriege nach dem zweiten Weltkrieg“. Was damit gemeint ist, bleibt unklar, vielleicht Kämpfe in Titos Jugoslawien; zu Kriegsende war Mavroski jedenfalls erst 13 Jahre alt. Er habe Tito in seinem Haus besucht. Vom Bosporus aus sei er per Zug nach Moskau gereist und 1948 in Berlin gewesen. Zwei Jahre sei er in Italien gewesen, bis ihm „der Papst“ die Ausreise nach Chile ermöglicht habe. Er lebte sechs Jahre in Concepción, wo er im Krankenhaus Allende kennenlernte, und dann in San Carlos.

Seine Haft in der Colonia Dignidad schildert er zunächst als harmlos. Während der elf Monate in einem Keller sei er nicht misshandelt worden, die Augen waren nicht verbunden. Es gab keine Mitgefangenen. Schäfer verhörte ihn zwei Mal. Er wurde auch auf Russisch verhört, sagte er (er sprach kein Russisch, verstand es aber). Obwohl alle Beteiligten Spanisch sprachen, nahmen die Deutschen einen Dolmetscher für Russisch. Offenbar dachten die Verhörer, dass die KP-Leute sich heimlich auf Russisch unterhielten. In Aussagen früherer Colonia-Mitglieder werden Verhöre auf Russisch mehrfach erwähnt. Colonia-Mitglied Heinrich Neufeld, der Russisch konnte, musste als „Gefangener“ im Kartoffelkeller der Siedlung, der als Folter- und Haftort diente, Bürsten binden und „im Käfig wie (ein) Hühnerkäfig bleiben, um Gespräche mitzuhören.“ Dann sagte Mavroski leise zu uns: „Ich will mich nicht mehr an das erinnern, was gewesen ist.“ Und: “Ich glaube nicht an die Justiz.“ Langsam rückt er damit heraus, dass er mit Eintauchen bis kurz vor dem Ersticken (U-Boot-Folter) und Elektroschocks gefoltert wurde („Ja, das kann sein“). Ob er die Augen verbunden hatte? „Seguro“ (deutsch: sicher). Dass er in der Colonia Dignidad war, weiß er, weil er in der Vergangenheit zwei Tote aus dem Krankenhaus übernommen hatte, und Schäfer kannte er von Fotos.

Über die Gründe seiner Freilassung nach elf Monaten kann man nur spekulieren. Hatte er lediglich seine Haftstrafe in der Colonia Dignidad verbüßt? Hatte er Stillschweigen versprochen? Der geistliche Jorge Elias Navarette hatte Unterschriften für seine Freilassung gesammelt. Mavroskis Carabinero-Freunde mochten sich für ihn eingesetzt haben. Laut den Karten hatte sích auch eine Gruppe von Freunden für seine Freilassung eingesetzt. Diese Freunde könnten Freimaurer oder Rotarier gewesen sein, Mavroski gehörte auch zum Rotary-Club.

„Der politische Einfluss der DC, der Sozialisten und der Kommunisten beeinflussten Staatanwalt Romero, bis er ihn freiließ“, schreibt der unermüdliche Colonia-Spitzel „OMH“ (Oscar Muñoz Hildebrandt) auf Mavroskis letzter Karte. „Bü“ beschwerte sich am 22.03.1982: „Es war ein riesiger Fehler, dass Mavroski noch lebt.“. „OMH“ notiert noch 1982 die Autos, die benutzt wurden, als Mavroski eine Tote aus „dem Krankenhaus“ abholte, und er trägt 1985 noch einmal die Geschichte von den Urnen mit den versteckten Waffen vor.

Laut der Erklärung eines anderen früheren Colonia-Bewohners sagte Schäfer: „Er darf nicht lebend hier raus!“ (Erklärung von Willi Malessa im Fall Maino, 2005). Die Colonia Dignidad hatte aber kein Recht, Chilenen zu ermorden. Aber auch bei den Chilenen stand Mavroski auf der Todesliste. Der Heeresoffizier Torrealba wurde nach dem Putsch aus der Pension geholt und war für die Gefangenen in der Garnison Chillán zuständig. „Er geht sehr hart mit den Miristen (MIR-Mitgliedern, D.M.) um“, sagt „Bü“. Aus Mavroskis Aussage vom 20.01.1974 zitiert seine Karte: „Mit diesem Mann (Mavroski, DM.) kann man nichts anderes machen als ihn zu töten.“

Das Agentennetzwerk, das hier handelte, scheint Mavroski als eine Art persönliche Trophäe betrachtet zu haben. Dies würde erklären, warum es auf einer Karte heißt: „Sehr bedauerlicher Weise ist Hauptmann Rivero durch eine Indiskretion über den Ort informiert, an dem sich der Jugoslawe-Russe-Chilene Mile Mabrovski befindet“. Gemeint ist die Colonia Dignidad. Rivero, ein offenbar harter Offizier, sieht das Verhalten der Colonia Dignidad kritisch, er sagt, er hätte aus Mavroski alles innerhalb von fünf Tagen rausgeholt.

Luis Narváez traf 2018 Mavroskis Sohn Mile Mavroski Sepúlveda. Mavroski war gestürzt und bettlägerig. Er wurde rund um die Uhr gepflegt. Der Sohn wusste wenig über die Haft seines Vaters. Der Vater hatte ihm von der Haftzeit erzählt, aber ohne die Folterungen zu erwähnen.

„Don Mile“, so die zugleich liebevolle und respektvolle Anrede, starb am 10.06.2020.

Ein Jahr davor interviewte ihn ein Team des Oral-History-Projekts (CDOH) der Freien Universität Berlin. Zwei Tage nach seinem Tod stellte das Projekt den folgenden Nachruf auf seine Website:

„‚Don Mile Mavroski wurde im Jahr 1933 in Mazedonien geboren und kam 1955 nach Chile. In Concepción lernte er seine Ehefrau Carmen Sepúlveda kennen mit der er zwei Kinder hatte. Die Familie zog nach San Carlos, wo er ein Beerdigungsinstitut gründete. Wiederholt unterstützte er dabei solidarisch auch Familien, die sich eine würdige Beerdigung sonst nicht hätten leisten können. Nach dem Militärputsch wurde Mile Mavroski Mileva verhaftet und beschuldigt, dem MIR anzugehören, ein sowjetischer Spion zu sein und mit Waffen zu handeln. Im Januar 1974 brachten sie ihn aus dem Gefängnis in Chillán in die Colonia Dignidad. Don Mile war dort elf Monate lang gefangen. Damit war er der Gefangene, der die längste Zeit dort festgehalten, verhört und gefoltert wurde. Nach Chiles Rückkehr zur Demokratie sagt er vor der Comisión Nacional sobre Prisión Política y Tortura (Comisión Valech) aus und wurde in deren Aufstellung der politischen und gefolterten Gefangenen aufgenommen.

Die Interviewerin Evelyn Hevia erinnert sich: ‚Ich kam an diesem Morgen zum Interview in Begleitung von Edison und Manuel, den Kollegen des Medienteams und von Luis Narváez, einem Journalisten, der Don Mile seit Jahren kennt. Mit Luis und dem Rechtsanwalt Hernán Fernández hatten wir Don Mile bereits 2016 besucht, damals allerdings im Krankenhaus; inzwischen wohnte er in einer Seniorenresidenz und seine Tochter erzählte uns, dass ihm in der Woche nach unserem Interview die Ehrenbürgerschaft seines Wohnortes San Carlos verliehen werden würde. Denn Don Mile war eine bekannte Persönlichkeit in der Stadt, ein Mann der Solidarität, immer elegant, gut gekleidet und mit der Pfeife zwischen den Lippen oder in den Händen. Am Tag des Interviews wirkte er wie üblich mit einem strahlenden Lächeln, aber auch mit einem gewissen Widerstand dagegen, sich an die schwierigen Momente seines Lebens zu erinnern. Wir nahmen das Interview auf, in den Pausen aßen wir gemeinsam Kuchen und tranken Tee, er erzählte uns von seiner Kindheit in Mazedonien, wo er Schafe und Ziegen hütete, er erzählte uns vom Krieg und zeigte uns die Tätowierung auf seinem Arm, die dazu dienen sollte, im Falle seines Todes bei einem Bombenangriff erkannt zu werden.

Er erzählte uns auch, dass er dank der ’schlechten Wörter‘, die ihm von Freunden und Kollegen beigebracht wurden, die er bei seiner Ankunft im Land traf, gelernt habe, ‚chilenisch zu sprechen‘. Als wir uns an diesem Nachmittag von Don Mile verabschiedeten, gingen wir mit dem Bewusstsein, dass wir eine großartige Lebensgeschichte aufgezeichnet haben, denn trotz der Kürze von Don Miles Bericht bleibt damit das Zeugnis vom Leben eines großen Mannes und eines Überlebenden von so vielen verschiedenen Schlachten erhalten.‘

Es ist uns eine Ehre, durch dieses Projekt eine Aufzeichnung seiner Lebensgeschichte bewahren zu können.“

Das Interview soll 2021 im Oral History-Archiv der FU öffentlich zugänglich sein.

 

Quelle: Dieser Text besteht zum Teil aus Auszügen eines unveröffentlichten Manuskriptes: Dieter Maier; Luis Narvárez: Die Kartei des Terrors (unveröffentlichtes Manuskript).

Forschungseinblicke/Interviews

Zwischen Fiktion und Realität: „Dignity“ und Colonia Dignidad

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Zwischen Fiktion und Realität: „Dignity“ und Colonia Dignidad

Marcel Rodríguez spielt Leo Ramírez (Quelle: SHP)

Am 19. Dezember 2019 startet das Medienunternehmen ProSiebenSat.1 auf seiner Streaming-Plattform Joyn mit einer kostenpflichtigen Premium-Version. Bekannt wurde der neue Streaming-Dienst vor allem mit der kostenlosen Ausstrahlung von beliebten Serien wie „Jerks“ mit Fahri Yardim und Christian Ulmen oder zuletzt „Check Check“ mit Klaas Heufer-Umlauf in den Hauptrollen. Die kostenpflichtige Premium-Version von Joyn wird in Kürze mit der chilenisch-deutschen Serie „Dignity“ eingeläutet.

Der Titel der Serie spielt auf den zynisch anmutenden Namen Colonia Dignidad (deutsch: Kolonie der Würde) an, den die deutsche Sekten-Gemeinde im Süden Chiles ab 1961 trug bis sie sich im Jahr 1988 in Villa Baviera (deutsch: Bayerisches Dorf) umbenannte. „Dignity“ ist ein chilenisch-deutsches Gemeinschaftsprojekt und wird von der Firma Invercine Wood mit Sitz in Santiago de Chile und der StoryHouse Productions mit Sitz in Berlin produziert.

Ich habe den deutschen Drehbuchautoren und Co-Produzenten Andreas Gutzeit und den Protagonisten der Serie, Marcel Rodríguez (Leo Ramírez), für ein Gespräch über das neue Serien-Projekt in den Büroräumen von StoryHouse Productions in Berlin Mitte besucht. Aus dem Forschungsbereich der Public History kommend, haben mich vor allem der Ansatz der fiktionalen Thriller-Serie in ihrem historischen Bezugsrahmen und die Serie als geschichtskulturelles Produkt interessiert. Bevor wir ins Gespräch über die neue Serie kamen, konnte ich mir im Konferenzraum die Pilotfolge der neuen Serie „Dignity“ anschauen.

Antonia Zegers spielt Pamela, die zusammen mit Leo ermittelt. (Quelle: SHP)

Das Verhältnis von historischen Fakten und fiktionaler Serie

Die Pilotfolge reißt viele zentrale Themen der komplexen Geschichte der Colonia Dignidad an. Dabei betont Andreas Gutzeit in unserem Gespräch immer wieder, dass es sich bei „Dignity“ weder um eine historisch exakte Darstellung der Geschichte, noch um eine Form von Doku-Fiction handelt. Alle Charaktere bis auf Paul Schäfer (Götz Otto) seien fiktional und die Serie nicht mehr und nicht weniger als ein Thriller. Auf die Frage, ob Charaktere wie der Protagonist Leo Ramírez (Marcel Rodríguez) oder die Figur des Bernhard Hausmann (Devid Striesow) auf der Grundlage realer Personen geschrieben worden seien, erklärt Gutzeit:

„Das sind alles Composit-Characters, die zusammengesetzt sind. Also zum Beispiel bei Marcels Figur Leo ist natürlich [der chilenische Rechtsanwalt, Anm. MD] Hernán Fernández eine Möglichkeit. Der hat aber nicht in Deutschland studiert und der hat auch keine deutsche Frau. Also alles, was wir aber für die Fiktion brauchen.“

Auch wenn die einzelnen Figuren als zusammengesetzte Charaktere ausschließlich fiktional verstanden werden sollen, so werden doch bereits in der ersten Folge zahlreiche Themen verhandelt oder angedeutet, die historisch belegt sind und leider nicht fiktionaler sondern tatsächlicher Bestandteil der Colonia Dignidad waren. Dazu zählen unter anderem die brutale Herrschaft Paul Schäfers und seiner treuen Führungsriege, die sexualisierte Gewalt an den Kindern, die strikte Trennung der Geschlechter in separate Gruppen, die zwangsweise Verabreichung von Psychopharmaka an die Mitglieder und die Rolle der Colonia Dignidad als Folterort des chilenischen Geheimdienstes DINA (Dirección de Inteligencia Nacional) während der chilenischen Militärdiktatur. Gleich zu Beginn von „Dignity“ lässt sich erahnen, dass in den folgenden Episoden viel Historisches thematisiert werden wird. Ein Thriller also, der ein historisches Thema behandelt, jedoch keinen Anspruch auf historische Korrektheit erhebt. Die Unterscheidung zwischen Fiktion und Realität dürfte nicht allen Zuschauer*innen leicht fallen. Das weiß auch Produzent Andreas Gutzeit. Er ist der Überzeugung, dass „Dignity“ auch deshalb eine „außergewöhnliche Serie“ sei, weil sie weniger auf die Darstellung historischer Fakten, sondern vielmehr auf das Ausloten einer „emotionalen Wahrheit“ setze. Es bleibt abzuwarten, welche „emotionale Wahrheit“ die Zuschauer*innen erwartet. Deutlich wird jedenfalls, dass emotional aufgeladenene Themen wie die Beziehung zwischen zwei Brüdern und das Verarbeiten sexueller Gewalterfahrungen beim Erwachsenwerden verhandelt werden sollen.

Auch der Dreh am Originalschauplatz in Chile schafft eine Nähe zur historischen Colonia Dignidad. Die Geschichte der achtteiligen Thriller-Serie spielt in den 1990er-Jahren, also nach dem Ende der Militärdiktatur in Chile. Zuschauer*innen begleiten den Protagonisten Leo Ramírez bei seinen Ermittlungen gegen den Colonia-Leiter Paul Schäfer. Recht schnell wird deutlich, dass es dem jungen Bundesanwalt aber auch um die eigene Familiengeschichte geht. Seine Kollegin Pamela (Antonia Zegers) fragt schon am Ende der Pilotfolge: „Bist du in der Colonia Dignidad aufgewachsen?“

Dreharbeiten zu dem Thriller „Dignity“ am historischen Ort 

Die Serie „Dignity“ wurde in der heutigen Villa Baviera, der ehemaligen Colonia Dignidad gedreht. Diese liegt etwa 400 km südlich der chilenischen Hauptstadt Santiago de Chile. Der Ort ist heute ein touristisch ausgerichtetes Feriendomizil mit Hotel und bayerischem Restaurantkonzept. Außerdem werden dort Hochzeiten und verschiedene Feste zu unterschiedlichen Feiertagen ausgerichtet. Viele der einst etwa 300 Mitglieder der Colonia Dignidad sind inzwischen verstorben oder haben die Gemeinschaft verlassen. Sie leben heute größtenteils in Deutschland oder in Chile außerhalb der Villa Baviera. Noch um die 100 Menschen wohnen gegenwärtig in der Villa Baviera. Die Schauspieler*innen von „Dignity“ übernachteten etwa drei Wochen lang im dortigen Hotel Villa Baviera und aßen im örtlichen Restaurant. Die Nähe zu dem historischen Ort und den Bewohner*innen habe dafür gesorgt, dass sich die Schauspieler*innen dem historischen System Colonia Dignidad auf einer sehr emotionalen Ebene nähern konnten. Viele der Bewohner*innen der heutigen Villa Baviera hatten sich bereiterklärt, als Zeitzeug*innen von ihren persönlichen Erfahrungen in der Colonia Dignidad zu berichten. Das habe den Schauspieler*innen sehr geholfen, um sich in ihre Rollen einzufühlen und die Materie besser verstehen zu können, erklärt Marcel Rodriguez. Er führt aus:

„Also auf uns Schauspieler*innen sind die Bewohner*innen sehr offen und warmherzig zugegangen. Auf mich hat es sogar den Eindruck gemacht, als gäbe es geradezu den Drang, mit uns über die Vergangenheit zu sprechen. Darüber zu reden, was sie Schlimmes erlebt haben. Sie haben zum Beispiel recht schnell auch über die Prügel gesprochen, die sie selbst gegeben oder bekommen haben. Insgesamt wollten sie auch wissen, wen wir spielen, wie wir uns die Umstände vorstellen und wie sie uns dabei helfen können, die Rollen vielleicht noch besser spielen zu können.“ 

Neben diesen Gesprächen mit ehemaligen Mitgliedern der Colonia Dignidad habe er sich vor allem mit verfügbaren Dokumentationen über das Thema informiert. Auch die Broschüre, die Dieter Maier und Jürgen Karwelat 1977 für Amnesty International Deutschland über die Colonia Dignidad verfasst hatten, half ihm bei der historischen Sensibilisierung für die Rolle als Leo Ramírez. Die intensive Konfrontation mit den düsteren Geschichten der Colonia sei aber nicht spurlos an dem 35-jährigen Schauspieler vorbeigegangen. Marcel Rodríguez erinnert sich an einen emotionalen Tiefpunkt, den er an einem Tag auf dem Weg zum Dreh in der Villa Baviera erlebt habe:

„Das war schon gegen Ende. Ich glaube, da waren nur noch zwei Drehwochen übrig und da hatte ich irgendwie mal so einen Moment. Ich habe einen komischen Ekel in mir verspürt. Mich ständig mit den Verbrechen der Colonia zu beschäftigen, ständig darüber nachdenken, das wurde einfach zu viel. Ich wollte alles irgendwie abschütteln und das ging aber nicht. Ich musste weinen und bin richtig kurz zusammengebrochen. Das war sonderbar. Das wurde mir dann zu viel. Du denkst drüber nach, denkst über die Rolle nach. Du denkst über die Leute nach, denkst über die Kinder nach, die das erlebt haben oder überhaupt diese Ungerechtigkeit, die dort stattgefunden hat. […] Das ist einfach alles sehr anstrengend gewesen und dann gab es irgendwann einen Moment, in dem alles kurz rausgekommen ist.“ 

So wie Marcel Rodriguez sei es eigentlich allen Schauspieler*innen in gewissen Momenten ergangen, fügt Andreas Gutzeit hinzu:

„Also das war das gleiche Thema für alle anderen deutschen Schauspieler, die dort waren. Also das was Marcel jetzt sagt, würden Devid Striesow, Götz Otto und Jenny Ulrich, Martina Klier und Nils Rovira-Muñoz auch sagen. Das Thema hat sie schon sehr persönlich berührt.“

Rückblickend hält Marcel Rodríguez diesen emotionalen Tiefpunkt sogar für notwendig:

„Ich glaube, wenn man die ganze Zeit diese Sachen spielt, sich damit beschäftigt und die ganze Zeit nur gute Laune hat, dann ist das auch irgendwie ein bisschen komisch. Dann hat man vielleicht etwas nicht kapiert, was da stattgefunden hat.“

Vielleicht sind diese Momente der emotionalen Überlastung gemeint, wenn Produzent Gutzeit von „emotionaler Wahrheit“ spricht. Mit diesen Gefühlen sind die Schauspieler*innen nicht allein. Immer wieder beschreiben Journalist*innen, Wissenschaftler*innen, Politiker*innen und andere mit dem Thema befasste Menschen ähnliche Erfahrungen. Dieter Maier verwendet in seinen Büchern den Begriff „Colonitis“, um die emotionale Nähe zu beschreiben, die solche Überlastungs- oder Verwicklungszustände herbeiführen kann. Als Ursache für die „Colonitis“ sieht Maier die intensiven Begegnungen mit Menschen, die bis heute unter massiven Traumata leiden. Die Auseinandersetzung mit diesen Traumata und die persönliche Nähe zu den Menschen, erzeuge bei vielen ein Gefühl von Betroffenheit, das sich auf unterschiedliche Art und Weise zeige. Viele identifizieren sich mit den Betroffenen und entwickeln das Bedürfnis zu Akteur*innen zu werden. Manche verspüren eine übermannende Traurigkeit und andere sind einfach überfordert. Emotional unbeeindruckt bleibt kaum jemand. Inwieweit Emotionen in der Auseinandersetzung mit historischen Themen hilfreich sind, da sie die Geschichte greifbarer machen oder ob sie im Sinne einer Emotionalisierung hinderlich sind, da durch eine übermäßige Identifikation ein nötiger Abstand verloren gehen kann, darüber wird auch in der Public History gestritten.

 

Der totgeglaubte Bruder Klaus (Nils Rovira-Muñoz) von Leo (Quelle: SHP)

Verhältnis von gesellschaftlichem Bewusstsein und ökonomischem Erfolg der Serie

Gutzeit und Rodriguez habe viel der Gedanke umgetrieben, ob es in Deutschland ausreichend gesellschaftliches Bewusstsein über die Geschichte der Colonia Dignidad gebe. Für den ökonomischen Erfolg einer Serie sei es wichtig, ob die Zuschauer*innen bereits etwas über die Geschichte wissen. Denn vor allem der Wiedererkennungswert sorge für die Bereitschaft sich mit der Thematik weiter auseinanderzusetzen. Auf die Frage, woher die beiden selbst erstmals von der Geschichte der Colonia Dignidad erfahren hatten, erzählt Rodriguez, er selbst sei erst durch den Spielfilm „Colonia Dignidad. Es gibt kein Zurück“ von Florian Gallenberger auf das Thema aufmerksam geworden. So wie ihm, gehe es damit auch vielen in seinem privaten Umfeld. Andreas Gutzeit hingegen habe den Verlauf der Geschichte der Colonia Dignidad über die Jahrzehnte im SPIEGEL aufmerksam verfolgt. Dies sei einfach eine Generationen-Frage schätzen Gutzeit und Rodriguez die unterschiedliche Wahrnehmung der Geschichte der Colonia Dignidad ein.

Auch der Gallenberger-Film mit Emma Watson und Daniel Brühl in den Hauptrollen zeigt bei Weitem mehr Fiktion als historische Fakten und dennoch hat er zahlreiche Menschen zu aktiver Auseinandersetzung mit der Colonia inspiriert. Der heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nannte diesen Film während seiner Amtszeit als Bundesaußenminister im Jahr 2016 einen „künstlerischen Anstoß“ für die Auseinandersetzung des Auswärtigen Amtes mit der eigenen Verantwortung in der Geschichte der Colonia Dignidad. Er veranlasste die Verkürzung der Sperrfrist für den noch gesperrten Teil der Akten im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes. Dieser Bestand ist heute für alle Interessierten zugänglich. Auch auf nicht-politischer Ebene diente der Film als Anstoß für Lesungen, Vorträge, Medienberichte und Podiumsdiskussionen. So haben etwa kürzlich Mitglieder des Allgemeinen Studierendenausschuss der Universität Hannover (AstA) durch den Spielfilm für das Thema Colonia Dignidad sensibilisiert worden. Aus anfänglichen Recherchen wurde eine zweiwöchige Veranstaltungsreihe, die am 4. Dezember 2019 mit einer Podiumsdiskussion ihren Abschluss fand. Trotz der Fiktionalisierung des historischen Themas hat der Spielfilm Einfluss genommen auf eine geschichtskulturelle Auseinandersetzung mit der Geschichte der Colonia Dignidad.

Geschichtskulturelle Auseinandersetzungen im Spannungsfeld zwischen Aufarbeitung und Kampf um Deutungshoheit

In der Villa Baviera herrscht schon seit Jahren Hochbetrieb: Wissenschaftler*innen, Journalist*innen, Filmemacher*innen und privat Interessierte geben sich beim Ein- und Ausgehen die sprichwörtliche Klinke in die Hand. Die meisten kommen mit dem Ziel, einen Blick in die authentische Vergangenheit der ehemaligen Colonia Dignidad zu werfen. Sie wollen den Ort, der Schauplatz von grausamer Gewalt geworden ist, sehen und fühlen. Mehr noch: Sie wollen die Menschen sehen, die all das erlitten oder verursacht haben, wovon sie bisher nur gehört oder gelesen haben. In der Public History hat sich der Begriff „Dark Tourism“ etabliert, wenn es um die Reisen an Orte mit solch düsterer Vergangenheit geht und die Anziehungskraft, die diese Orte auf viele Menschen ausübt. Einige Bewohner*innen der Villa Baviera haben im letzten Jahrzehnt bereitwillig als Zeitzeug*innen Auskunft gegeben. Sie haben ihre Geschichten in zahlreichen Interviews geteilt. Diese Bereitschaft zum Erzählen der eigenen Lebensgeschichten ist meist auch verbunden mit Wünschen und Forderungen. Sie wünschen sich Sichtbarkeit der erlittenen grausamen Schicksale. Manche wünschen sich auch die Aufklärung noch ungeklärter Verbrechen. Vor allem aber fordern die betroffenen Menschen finanzielle Entschädigung für jahrzehntelang erlittenes Unrecht. Viele wünschen sich einen Ausweg aus den prekären Lebensverhältnissen. Erst kürzlich wurden vom Deutschen Bundestag einmalige Hilfszahlungen in Höhe von 10.000 € pro Person beschlossen, die an deutsche Opfer der Colonia Dignidad gezahlt werden sollen.

Neben denjenigen, die bis heute auf dem Gelände der Villa Baviera leben, gibt es noch weitere betroffene Menschen, die bis heute unter den Folgen des Gewalt-Regimes der Colonia leiden. Dazu zählen ehemalige Mitglieder der Gruppe, die inzwischen außerhalb der Villa in Chile leben oder das Land verlassen haben und heute zum Beispiel in Deutschland oder Österreich wohnen. Auch die chilenischen Opfer der Colonia Dignidad leiden bis heute und fordern vor allem die Aufklärung der Verbrechen: Während der Militärdiktatur entführte der chilenische Geheimdienst ihre Familienangehörigen, folterte, ermordete und vergrub sie in Massengräbern auf dem Gelände der Colonia Dignidad. Die Suche nach den Spuren der Ehemänner, Brüder, Schwestern oder Söhne begleitet sie bis heute. Auch die jungen chilenischen Männer, die in den 1990er-Jahren als Kinder Opfer von sexualisierter Gewalt durch Paul Schäfer wurden, wünschen sich weitere Aufklärung und Gerechtigkeit. Über die mangelnde juristische Aufarbeitung hat die Journalistin Ute Löhning zuletzt mehrfach berichtet. Neben der juristischen, ist die erinnerungskulturelle Aufarbeitung gefordert. Die Gedenkstättenexpert*innen Dr. Elke Gryglewski und Dr. Jens-Christian Wagner wurden zusammen mit zwei chilenischen Kolleg*innen mit einem Gedenkstättenkonzept beauftragt, das auf dem Gelände der heutigen Villa Baviera zukünftig umgesetzt werden soll.

Wenn es der Serie „Dignity“ gelingen sollte, größere internationale Reichweite zu erzielen und weitere Menschen auf diesen Teil der deutsch-chilenischen Geschichte aufmerksam zu machen, könnte sie einen Beitrag zum Aufarbeitungsprozess leisten. Auch wenn Gutzeit betont, dass dies nicht das Ziel der Serie sei, so kann sie diesbezüglich dennoch eine Chance bedeuten, wie am Beispiel des Gallenberger-Films gezeigt wurde. Dafür wäre es allerdings nötig, dass die Zuschauer*innen den emotionalen Zugang nutzen, um weiter zu recherchieren und konkrete Fragen an die Geschichte zu stellen. Ob dies gelingt, wird sich nach dem Serienstart von „Dignity“ 19. Dezember 2019 zeigen.

(Der Artikel basiert auf einem Interview, das am 13. November 2019 in den Büroräumen von StoryHouse Productions geführt wurde.)