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Peter Rahl über seine Erinnerungen an Colonia Dignidad-Arzt Hartmut Hopp

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Peter Rahl über seine Erinnerungen an Colonia Dignidad-Arzt Hartmut Hopp

Die juristische Strafverfolgung von Täter*innen der einstigen Colonia Dignidad bedeutet für den Heilungsprozess vieler Opfer mehr als nur Gerechtigkeit vor dem Gesetz. Sie ist ein Teil rückwirkender Wahrheitsfindung in einer von Lügen geprägten Vergangenheit. Zeitzeuge Peter Rahl hat in der Colonia Dignidad schwere Menschenrechtsverbrechen überlebt. Er fühlt sich inzwischen bereit, auch über die dunkelsten seiner Erfahrungen zu berichten, um die Aufarbeitung voranzubringen. Im folgenden Gesprächsausschnitt gibt er einen Einblick in diese Leidensgeschichte, die in Anbetracht jüngster Entscheidungen deutscher Justizbehörden im Fall Hartmut Hopp nicht aufzuhören scheint. Peter Rahl erzählt auch von einer Entschuldigung, die der einstige Colonia-Arzt ihm bis heute schuldig geblieben ist.

Gespräch mit Zeitzeuge Peter Rahl über die Unfähigkeit „Wahrheit zu erkennen und Versagen anzuerkennen“

Meike Dreckmann-Nielen: Woran erinnern Sie sich, wenn Sie an Hartmut Hopp denken?

Peter Rahl: Nachdem ich zweieinhalb Jahre im Krankenhaus Villa Baviera in Einzelhaft festgehalten wurde (die Geschehnisse würden ein Buch füllen) kam Hopp im April 1985 in das dortige Isolierzimmer und sagte zu mir: „Wir müssen jetzt mal herausfinden, woran du wirklich leidest und eine Lösung suchen. Deshalb möchte ich dich mitnehmen nach Deutschland, um dort eine medizinische Untersuchung durchzuführen, die hier nicht möglich ist.“ Eine Woche später nahm er mich mit nach Santiago de Chile und ab ging es im Flieger nach Deutschland.

MDN: Wohin genau?

PR: Nach Siegburg, wo die „Private Sociale Mission“ ja noch ein gemietetes Haus hatte. Von dort fuhren wir in die Psychiatrische Klinik Bonn, um am Venusberg mit einem Psychiater namens Professor H. zu sprechen. Mit Elektroden übersätem Kopf kam ich dort zur Untersuchung in die Röhre. Saß danach im Wartezimmer vor dem Sprechzimmer des Professors und hörte das Gespräch zwischen Hartmut Hopp und dem Arzt mit. Hopps Frau war auch dabei. Sie werteten die vielen gefalteten Papierausdrücke der Röhre aus.

MDN: Und was kam dabei heraus?

PR: Schlussendlich sagte der Professor zu Hartmut Hopp: „Für Ihre Vermutungen gibt es keinen Hinweis. Ihr Patient ist vollkommen gesund.“ Und zu der Sekretärin: „Holen sie den Herrn Rahl doch mal herein.“

MDN: Was geschah, als Sie dann in das Zimmer gebeten wurden?

PR: Nachdem er mich begrüßte, sagte er sofort: „Ich kann Ihnen Ihre Angst nehmen. Sie sind gesund. Es liegen keinerlei Schäden oder Beeinträchtigungen vor.“ Da dachte ich mir damals: Meine Angst? Ich wusste doch, dass ich gesund bin. So hatte Hopp das also eingefädelt! „Vielleicht gibt es traumatische Belastungen aus der Kindheit“, sagte der Professor dann noch, „das müsste man in einer anderen Zusammensetzung erkunden. Aber ich kann ihnen versichern, Sie sind gesund.“ Und zu Hopp gewandt, meinte er schließlich: „Dr. Hopp, setzen Sie innerhalb von drei Tagen alle Medikamente ab und ich möchte Herrn Rahl in 14 Tagen noch einmal sehen.“

MDN: Hatte Hopp denn damit erreicht, was er mit diesem Klinikbesuch beabsichtigte?

PR: Das von Schäfer gewünschte Attest über mich, welches allen belegen sollte, dass ich, Peter Rahl, ein Geisteskranker wäre, konnte Hopp zumindest nicht mit nach Chile bringen.

MDN: Ich verstehe noch nicht ganz, was dieser ganze Aufwand bezwecken sollte.

PR: Dazu müssen Sie wissen, dass ich vor meiner Krankenhauseinlieferung Schäfer schriftlich mitgeteilt hatte, dass der sexuelle Übergriff auf mich 3 Tage nach meiner Ankunft aus Deutschland im Oktober 1973 eine Sünde ist – seine Sünde an mir. Und, dass ich eine Erklärung von ihm erwartete.

MDN: Was passierte im Anschluss an diesen Brief an Paul Schäfer?

PR: Daraufhin kam ich ins Krankenhaus und wurde über Jahre mit Elektroschocks und stärksten Medikamenten gequält. Ich lag bis zu 20 Tagen im Koma. Das Krankenhauspersonal, insbesondere Frau Dr. Gisela Seewald, hat mir dies im Nachhinein bestätigt. Mehrere Jahre später, bei einer Dokumentenvernichtungsaktion im Jahr 1999, entdeckte ich im Archiv von Dr. Gerd Seewald einen großen Umschlag mit meinem Namen drauf. Den habe ich weggeschmuggelt. Unter anderem war dort eine Kopie der Unterlagen drin, die Hartmut Hopp damals vor unserem Flug nach Deutschland per Post an den Professor in der Bonner Klinik geschickt hatte.

MDN: Und was stand in der Kopie dieser Unterlagen?

PR: Alleine 11 Seiten „Berichte“ über perverse Auffälligkeiten, sexuelle Gelüste, meine vermeintlich triebhafte Spionage über die Privatsphäre der Ehepaare und so weiter. Alle krankhaften Aktivitäten, die Paul Schäfer selbst und seine Komplizen seit Jahrzehnten lebten, wurden mir damit aufgestempelt. Das war Wahnsinn! Mit Zeugen und Uhrzeiten gelogen und erfunden – ganze 11 Seiten lang. Nie war ich dem Wunsch nach Sterben näher als in der Stunde, in der ich diesen verlogenen Bericht, von Hartmut Hopp unterschrieben, gelesen habe.

MDN: Haben Sie Hartmut Hopp selbst jemals damit konfrontieren können?

PR: Ich nicht, meine Frau Karin hatte das nach unserer Hochzeit in Chile versucht.

MDN: Und auf welche Reaktion ist sie gestoßen?

PR: Die üblichen Ausreden: „Ich musste gehorchen.“, „Ich habe nur den Auftrag ausgeführt.“, „Ich habe vieles nicht gewusst; damals hab ich das Krankenhaus noch nicht geleitet.“ und so weiter.

MDN: Hat er sich irgendwann im privaten Rahmen bei Ihnen entschuldigt?

PR: Nein, nie ein Wort der Entschuldigung. Stattdessen Sprüche wie: „Wer zurückschaut, ist nicht berufen zum Reich Gottes.“, oder „Lasst uns gemeinsam vorwärts gehen.“ Oder auch: „Alles Gewesene ist Vergeben und Vergessen.“ Oder Kurt Schnellenkamps Satz (er hatte mich in der Krankenhaus-Zeit besonders verprügelt und gefoltert): „Egal was ich dir auch alles angetan haben soll, du musst immer wissen, am Ende wollte ich nur dein Bestes!“ Er kam sich bei mir zu entschuldigen, weil er von vielen im Fundo 2003 angesprochen worden ist, ob er sich für seine Verbrechen an mir schon entschuldigt hatte. Und der Satz war das Ergebnis. Diese Menschen sind unfähig Wahrheit zu erkennen und Versagen anzuerkennen.

 

***Update*** (15. Februar 2021)

Nach der Veröffentlichung dieses Interviews, wandte sich eine ehemalige Mitarbeiterin des Krankenhauses der Colonia Dignidad an Peter Rahl. Sie hatte ihn damals auf der Station in schlechtem Zustand gesehen und anschließend ihrer Kollegin versprechen müssen, dass sie nie darüber sprechen würde. Nun hat sie ihre Erinnerungen doch aufgeschrieben und sie Peter Rahl mit der Bitte um Weiterleitung an diesen Blog geschickt.

Im Folgenden der Kommentar im Wortlaut:

Ich bin Alma Brückmann und teile hier mit, was mir bis heute Schreckliches im Herzen geblieben ist über eine Situation von Peter Rahl, als er noch ein junger Mann war. Damals lebten wir in der Colonia Dignidad in Chile. Ich war als Reinigungsfrau im alten Krankenhaus tätig. Auf der Station lag ein Mann als Patient in Zimmer 11. Dieses Zimmer durfte außer einigen gelernten Krankenschwestern niemand betreten. Einmal wurde ich von  der Stationsschwester Ingrid K. beauftragt, vor Zimmer 11 Wache zu stehen, weil sie zu dem „gefährlichen Patienten“ hineingehen wollte. Eine Weile später kam sie heraus und beauftragte mich: „Hole eine Schüssel Wasser, Seife und zwei Handtücher und komm sofort wieder zurück!“ Ich brachte die Sachen. Sie machte die Tür auf und holte mich ins Zimmer, trotz Verbot. Ich war entsetzt. Den jungen Mann kannte ich doch; es war Peter Rahl. Er lag da wie im Koma. Er hatte alle große und kleine Notdurft unter sich gemacht und ich musste helfen, ihn sauber zu machen und umzuziehen. Eigentlich durfte auch ich dieses Zimmer nie betreten, darum verlangte Ingrid K. von mir, dass ich niemals darüber spreche, was ich hier gesehen habe. Später erfuhr ich, das Peter Rahl nicht krank war, sondern – wie wir untereinander sagten –hier „verplommt“ wurde. Auch lange Zeit später, als man ihn schon mal außerhalb des Zimmers sah, benahm er sich wie ein psychisch Kranker, er seiberte dauernd aus dem Mund und lallte vor sich her.

 

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Weiterführende Links zu dem Thema Colonia Dignidad:

  • „Zeitzeuge Peter Rahl im Interview über sein Leben nach der Colonia Dignidad“ – hier entlang!
  • „Jurist Andreas Schüller über den aktuellen Stand im Fall Hartmut Hopp“ – Hier entlang!

  • “Rechtliche Stellungnahme des ECCHR zum Beschluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf in Sachen Hartmut Hopp/ Colonia Dignidad” – Hier entlang!
  • “ECCHR-Stellungnahme zu der Rolle von Hartmut W. Hopp innerhalb der Colonia Dignidad” – Hier entlang!

Gastbeiträge

Dieter Maier über das „Täter-Opfer-Syndrom“ in der Colonia Dignidad

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Dieter Maier über das „Täter-Opfer-Syndrom“ in der Colonia Dignidad

Foto von dem bisherigen Museum der Villa Baviera, Bildrechte: MDN

Kommentar zur Veröffentlichung des Zeitzeugenberichts von Friedhelm Bensch auf diesem Blog

ein Gastbeitrag von Dieter Maier 

Täter*in oder Opfer?

Viele Ich-Berichte ehemaliger Bewohner*innen der Colonia Dignidad enthalten bezeichnende Lücken. Sie verweisen auf das kaum zu lösende Problem, wer Opfer und wer Täter*in war. Schäfer hatte dafür gesorgt, dass nahezu jede*r schlug und jede*r geschlagen wurde. Ehemalige Bewohner*innen, die ausschließlich Opfer waren, gab es kaum. Ein früherer Bewohner, der wie kaum ein Anderer zum Opfer der Colonia Dignidad geworden war, ist sich heute sicher, dass die „Colonos“ nicht nur Opfer sondern auch Täter*innen waren. Er selbst, und nicht nur er, bezeichnet sich als beides. Es gab in Schäfers System kaum eine Alternative. Bisher wurden nur wenige Geschichten gesammelt, in denen einstige Colonia-Mitglieder von Momenten des Widerstands berichten, in denen sie sich der Willkür Paul Schäfers widersetzen konnten.

Auch von Zeitzeug*innen verfasste Texte auf diesem Blog enthalten dieses Täter-Opfer-Syndrom. Edeltraud Bohnau berichtet beispielsweise, wie ihr Mann Willi Malessa auf Befehl Schäfers Leichen von ermordeten chilenischen politischen Gefangenen ausgrub. Machte ihn das zum Mittäter? Friedhelm Bensch schreibt in seinem Bericht: „Diese Prügelstrafen konnten jeden treffen. Das nächste Mal wurde Manfred verschlagen…  ich war auch bei denen, die zuschlugen. Erst als ich erwachsen, reifer wurde, stellte ich mich nicht mehr in die Reihe der Schläger. Ich fühlte mich bei solchen Auseinandersetzungen so, als würde ich die Strafe selber erleiden.“ Was Bensch schildert, weist ihn ohne Frage als Opfer aus, aber in einer Publikation, die Abgeordneten des Deutschen Bundestags übergeben wurde, wird Bensch ohne weitere Angabe von Gründen als einer der Täter genannt, „die unser Leben zerstörten und unheilbare Wunden in unserer Seele hinterließen“ (Die Opfer fordern Gerechtigkeit (ohne Autor), 3. Aufl. Lindenberg (Druckort) 2017).

Die früheren Bewohner*innen sehen sich heute fast alle als Opfer. Täter waren Schäfer, der schon tot war, und einige wenige enge Gefolgsleute. Dieser Blog möchte dazu beitragen, den dauernden Opfer-Diskurs zu durchbrechen, um differenzierter auf das System der Colonia Dignidad zu blicken. Denn jenes System beruhte auf ebendieser Beteiligung seiner Mitglieder an den Verbrechen. Fast in jedem Fall gibt es einen Opfer- und einen Täteranteil, und es wäre in einer gemeinsamen interdisziplinären Diskussion zu klären, wie und wozu diese zu gewichten wären.

Rückmeldungen zum Bericht von Friedhelm Bensch

Ich habe mich umgehört, um einen Eindruck zu gewinnen, wie der zuletzt auf diesem Blog veröffentlichte Text von Friedhelm Bensch im historischen Bezugsrahmen der Colonia Dignidad zu verstehen sein könnte. Bisher stehen leider erst wenige Zeitzeugenberichte zur öffentlichen Verfügung, um etwas über die Geschichte der Colonia Dignidad zu erfahren. Um in Zukunft einen angemessenen multiperspektivischen Blick auf einzelne Berichte zu ermöglichen, macht das Oral History Projekt der Freien Universität Berlin Hoffnung.

Erste Kommentare zu Benschs Text waren etwa:

Friedhelm Bensch hat Schäfer früh durchschaut. Er wurde deshalb von Schäfer auch immer schlecht angesehen.

Eine frühe Bewohnerin der Colonia Dignidad schrieb:

Jeder hat sich auf seine Weise und mit seinen Mitteln durchgekämpft.

Andere Personen wünschen sich, dass die Äußerungen einzelner ehemaliger Colonia-Bewohner*innen weitere zum Aufschreiben ihrer Erinnerungen motivieren kann. So schrieb mir einer:

Halte es für äußerst wichtig, diesen Link überall hin zu verteilen, besonders an ehemalige Colonos, damit auch seine Niederschrift als Beispiel wirkt und sich andere motivieren lassen gleiches zu tun.

Das Kontrollsystem „Bimmel und Bammel“

Ein Blick auf das perfide System der „Bimmel und Bammel“ innerhalb der Colonia Dignidad eignet sich, um den schmalen Grat des Opfer- und Täterseins zu verdeutlichen. Deshalb möchte ich abschließend noch einmal darauf eingehen. Die kleinen Jungen wurden durch ein System mit dem unscheinbaren Namen „Bimmel und Bammel“ in die Hierarchie der Colonia Dignidad eingebunden. Die Bammel waren ältere Jugendliche oder junge Männer, die den ganzen Tag die jüngeren Bimmel überwachten. Schäfer organisierte sein „Teile-und-Herrsche“, indem er jeweils einen Bammel einem Bimmel zuwies.

Einen Bammel zu haben, war eine Erziehungs- und Strafmaßnahme. Die Bammel durften die Bimmel schlagen, erniedrigen und beschuldigen. Bimmel und Bammel mussten Distanz halten. Wenn sich ein Bimmel dem anderen näher als einen Meter näherte oder sich mehr als zwei Meter entfernte, gab es sofort Schläge. Der Bammel wiederum war an den Bimmel gebunden, denn er durfte sich nur wenige Meter von ihm entfernen. Die Bimmel durften nicht miteinander sprechen, spielen oder gar sich berühren. Es war ein unerträglicher Dauerkonflikt zwischen Nähe und Distanz, der sich regelmäßig in Aggressionen der Bammel gegen die durch unsichtbare Ketten an sie gebundenen Bimmel entlud. Die Bammel gaben die Gewalt weiter, die sie selbst zuvor erlitten hatten. Für Schäfer lag der praktische Sinn dieses Systems darin, dass er tagsüber die Jungen, denen er sexualisierte Gewalt antat, von den anderen isolieren konnte. Sie konnten mit niemanden über ihre sexualisierte Gewalterfahrungen sprechen.

 

[Hinweis: Der CDPHB macht sich die Beiträge seiner Gastautor*innen nicht zu eigen.] 

Zeitzeugenberichte

Bericht über das Leben in der Colonia Dignidad von Friedhelm Bensch

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Bericht über das Leben in der Colonia Dignidad von Friedhelm Bensch

Über den Bericht des Zeitzeugen Friedhelm Bensch

Friedhelm Bensch wurde 1953 in Deutschland geboren. Als er acht Jahre alt war, wanderte er mit 29 anderen Kindern und 8 Erwachsenen nach Chile aus. Seine eigene Mutter kam erst ein Jahr später nach. In seinem Bericht erzählt Friedhelm Bensch von dem Alltag in der Colonia Dignidad, von der Willkür Paul Schäfers und seinen Unterstützern, sowie den unsäglichen Prügelstrafen und einem Druck, dem er gegen Ende kaum standhalten konnte.

Seit 2007 lebt Friedhelm Bensch mit seiner Frau und seinem Sohn in Nordrhein-Westfalen. Dort beschloss er im Jahr 2012 seine Erinnerungen an das Leben in der Colonia Dignidad aufzuschreiben. Mit dem Wunsch, seine Erinnerungen frei zugänglich zu veröffentlichen, wandte er sich schließlich an Dieter Maier. Dieser schlug diesen Blog als Plattform vor. Der Bericht wird im Wortlaut veröffentlicht und er wurde lediglich geringfügig redigiert.

Die Erinnerungen an vergangene Zeiten sind immer höchst subjektiv und sollten nie alleinstehend als ausschließliche faktenbasierte Quelle gelesen werden. Bei dem Bericht von Friedhelm Bensch handelt sich demnach um ein Beitrag zur Auseinandersetzung mit der Geschichte der Colonia Dignidad. Eine Geschichte, die viele Menschen unterschiedlich erlebt haben.

 

Klicken Sie einfach auf dieses Bild, um zu dem PDF-Dokument zu gelangen:

 

(Hinweis: Der CDPHB versteht sich ausschließlich als Plattform; er macht sich den Bericht des Autors weder zu Eigen, noch übernimmt er Verantwortung für die geschilderten Erzählungen.)

 

Interviews/Zeitzeugenberichte

Zeitzeuge Peter Rahl im Interview über sein Leben nach der Colonia Dignidad

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Zeitzeuge Peter Rahl im Interview über sein Leben nach der Colonia Dignidad

Peter Rahl bei Renovierungsarbeiten im neuen Haus in Gronau, Copyright: Peter Rahl/CDPHB

Peter Rahl verbrachte 32 Jahre seines Lebens in der Colonia Dignidad in Chile. Inzwischen lebt er mit seiner siebenköpfigen Familie im nordrhein-westfälischen Gronau. In diesem Interview erzählt er aus seinem Leben nach der Colonia Dignidad, von den Herausforderungen in der neuen Heimat, von Unterstützer*innen, den Hilfsgeldern aus den Mitteln des Deutschen Bundestages und seinen Wünschen für die weitere Aufarbeitung der Geschichte.

Meike Dreckmann-Nielen im Gespräch mit Peter Rahl über sein Leben nach der Colonia Dignidad 

Meike Dreckmann-Nielen: Herr Rahl, Sie leben inzwischen mit Ihrer Familie in Gronau. Könnten Sie für die Leser*innen kurz erklären, wann Sie in die Colonia Dignidad kamen, wie lange Sie dort gelebt haben und wann und warum Sie sich entschieden haben, die Villa Baviera zu verlassen?

Peter Rahl: Im Oktober 1973, im Alter von 17 Jahren, kam ich in die Colonia Dignidad. Ich wurde von meiner Mutter hingeschickt, um dem Wehrdienst in Deutschland zu entgehen. Nach 32 Jahren – im Jahr 2005 –, vier Jahre nach unserer Hochzeit, hatten wir die Möglichkeit mit unseren drei dort geborenen Töchtern die Colonia Dignidad für immer zu verlassen und nach Deutschland zu gehen. Der Hauptgrund war die „Schäfer-Treue“ der Komplizen Paul Schäfers, die inzwischen das Sagen in der Colonia Dignidad fest in ihren Händen hielten. Sie verteufelten jede Aufarbeitung der Vergangenheit strikt; sie logen genauso weiter, wie sie es unter Schäfer taten. Sie begünstigten ihre Kinder (einst Schäfers Sprinter) und verhalfen ihnen zu Posten, Geld und Macht in der Colonia Dignidad. Sie herrschten wie Füchse, die versuchten ihr Fell zu wechseln, nicht aber ihre Gesinnung.

MDN: Warum sind Sie nach Gronau gekommen?

PR: Ich hatte 16 Jahre als Kind in Gronau gelebt und meine Schulzeit hier absolviert. Außerdem lebten mein Vater und weitere Verwandte hier. Ingesamt einfach viele Menschen, die sich über Jahrzehnte für meine Befreiung aus der Sklaverei eingesetzt hatten.

MDN: Wie waren die ersten Jahre in Deutschland für Sie?

PR: Meine Frau und ich hatten uns nach der Ankunft in Deutschland die Frage gestellt: Sollen wir uns in die Arme des deutschen Sozialstaates fallen lassen? Oder mit allem Willen eine eigene unabhängige Existenz aufbauen? Wir entschieden uns für eine eigene Existenz, auch als Vorbild für unsere Kinder. Wir machten uns klar, dass wir in Chile zwei entscheidende Dinge gelernt hatten: arbeiten und verzichten! Auf dieser Basis können wir es schaffen, hatten wir beschlossen.

MDN: Was geschah daraufhin?

PR: Mit 50 stieg ich also ins deutsche Berufsleben ein, bekam eine Anstellung in der Baufirma einer ehemaligen Mitschülerin von damals hier in Gronau. Ich war als Montagearbeiter deutschlandweit unterwegs und schaffte es, unsere mittlerweile siebenköpfige Familie ohne staatliche Hilfe zu versorgen. Wir bekamen einen Kredit, um eine Bauruine zu erwerben. Wir haben sie in jahrelanger Feierabend-Arbeit renoviert und zu unserem Zuhause gemacht. Die Zeit war nicht nur körperlich sehr hart, weil wir bis spät in die Nacht am Haus bauten. Die Woche über von der jungen Familie getrennt zu sein und die heranwachsenden Kinder nur am Wochenende sehen zu können – das war auch sehr schwer. Wir lebten 5 Jahre auf einer Baustelle. Jahrelang hatte meine Frau nicht einmal warmes Wasser in der Küche, und das mit den Kleinen. Es war eine sehr harte Zeit, die wir aber nie bereut haben.

MDN: Ist die Vergangenheit von Ihrer Frau und Ihnen im familiären Alltag Thema?

PR: Nein – wir können nicht nach vorne marschieren und dauernd zurückschauen. Die Vergangenheit hat uns nichts mehr zu sagen, denn aus der Vergangenheit schöpfen wir keine Kraft. Sie hat uns unwiderruflich geprägt, dauerhaft geformt, seelisch und körperlich geschädigt und verkrüppelt. Sie hat als Vergangenheit ihren Platz in der vollendeten Vergangenheit.

MDN: Sie und Ihre Frau gehören zu den ersten ehemaligen Colonia-Anhänger*innen, die Hilfszahlungen aus den Mitteln des Deutschen Bundestages erhalten haben. Wie kam es Ihres Erachtens dazu, dass es nun doch Unterstützung für die Betroffenen gab?

PR: Es ist das unermüdliche Mahnen einiger verantwortungsvoller Politiker*innen, die ihr Gewissen nicht totgeschwiegen haben und die sich entschlossen, ihre Augen und Ohren nicht vor der Wahrheit zu verschließen. In Vertretung möchte ich Renate Künast (MdB, Bündnis 90/Die Grünen) und Michael Brand (MdB, CDU) danken für ihr eisernes Durchhaltevermögen. Sie haben den Deutschen Bundestag wachgerüttelt. Sie haben den gepeinigten Opfern und von den deutschen Behörden ignorierten Flehenden im Bundestag und in der Öffentlichkeit Gesicht und Namen gegeben. Meine Frau und ich danken ihnen aus tiefstem Herzen.

MDN: Bisher haben Sie 7000€ erhalten und potenziell können Sie weitere 3000€ beantragen. Lindert dieser Geldbetrag Ihre finanzielle Not?

PR: Nein, das ist aber auch nicht sein geplanter Zweck. Eine siebenköpfige Familie mit fünf schulpflichtigen Töchtern kann durch solch einen Geldbetrag kein anderes Leben führen oder den Kindern eine bessere Ausbildung ermöglichen. Die beiden Ältesten machen gerade ihren Führerschein: Damit sind 5000€ weg! Der Betrag ermöglicht es uns, dieses Jahr weniger Schulden zu machen.

MDN: Gibt es noch etwas, dass Sie sich für die weitere Aufarbeitung der Geschichte der Colonia Dignidad wünschen?

PR: Oh ja! Ich wünsche mir, dass die wenigen Menschen, die bis heute durch den Bann des Schweigens eine befreiende Wahrheitsaufarbeitung blockieren, endlich ihren Selbstschutz aufgeben und um der Wahrheit Willen reden, egal ob aus Krefeld oder aus Chile.

MDN: Gibt es noch etwas, dass Ihnen am Herzen liegt? Hier haben Sie Raum dafür.

PR: Ich möchte den Menschen hier in Ämtern, auf Behörden, in Gemeinden, in Schulen, auf Arbeitsstellen und im gesamten persönlichen Umfeld herzlich danken für die Unterstützung, die seelische Erbauung, die Spenden an Kleidung, Möbel und Nahrung, die Hilfestellungen im Zurechtfinden in dieser für uns neuen Gesellschafts- und Sozialordnung. Dafür möchte ich mich bedanken. Ihr habt uns unermesslich mehr „Reichtum“ geschenkt, als es sich je in einer Geldsumme erfassen ließe. Herzlichen Dank!

MDN: Vielen Dank, Herr Rahl!

PR: Gerne.


Mehr zum Thema (Auswahl): 

Zum Interview mit Renate Künast über ihre Arbeit hier entlang

Das Interview mit Elke Gryglewski über die Planung einer Gedenkstätte in der ehemaligen Colonia Dignidad finden Sie hier

 

Akteur*innen & Projekte/Forschungseinblicke/Interviews

„Songs of Repression“ – neue Doku über das Leben nach der Colonia Dignidad

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„Songs of Repression“ – neue Doku über das Leben nach der Colonia Dignidad

Ein Bewohner vor einer Sauna in der ehemaligen Colonia Dignidad

Im März 2020 feierte der Dokumentarfilm „Songs of Repression“ von den Filmemacher*innen Marianne Hougen-Moraga und Estephan Wagner Premiere auf dem diesjährigen Internationalen Dokumentarfilmfestival Kopenhagen (CPH:DOX). Dort gewann er gleich zwei Preise: einen für den besten dänischen Film (Politiken:Dok:Award) und den Hauptpreis des Festivals, den DOX:Award. Ende dieser Woche läuft er auch (online) beim DOK.fest in München an.

Inzwischen hat es zahlreiche dokumentarische und journalistische Filmprojekte zum Thema Colonia Dignidad gegeben. „Songs of Repression“ nähert sich der Thematik aus einem besonderen Blickwinkel: Er nimmt die Erinnerungen der bis heute in der ehemaligen Colonia Dignidad lebenden Menschen in den Blick. Er schaut sich an, wie die Menschen ihrer Vergangenheit in der Colonia Dignidad rückblickend Sinn verleihen. Dabei bemüht er sich nicht darum, eine detaillierte Chronik der historischen Ereignisse zu zeigen. Er nimmt vielmehr die individuellen Bewältigungsstrategien in den Fokus. Die Geschichten der Sprechenden erzählen von unterschiedlich erfolgreichen Strategien: von Verdrängung, Verleugnung, Reue, Schuld, über Trauer, Überforderung; hin zu kleinen Freuden, Hoffnung und Sehnsucht.

Drei Männer in der Villa Baviera beim Musizieren, Foto: Wagner & Hougen-Moraga

Musik durchzieht den Film als zentrales Motiv wie ein roter Faden. Deshalb auch der Titel „Songs of Repression“, welchen die Filmemacher*innen für den 90-minütigen Film gewählt haben. Die Rolle der Musik habe die Filmemacher*innen besonders beschäftigt, weil sie als etwas „eigentlich schönes und freies“ in der Colonia Dignidad auch zu einem Werkzeug der Repression verwandelt worden sei.

Die Berliner Professorin für Musiktherapie, Susanne Bauer, war nach der Festnahme Paul Schäfers Teil eines Psychotherapeut*innen-Teams, welches die Menschen der Colonia Dignidad psychotherapeutisch betreute. In einem Aufsatz zur Rolle von Musik in der Colonia schreibt sie:

Sie [die Musik, Anm. MD] war in vielen Fällen ein Mittel zur Unterdrückung, Demütigung und Beschämung, gleichzeitig aber auch ein Gegenmittel zu so mancher malignen Intention von Sektenführer Schäfer. In und mit ihr konnte man gute Gefühle spüren, die nicht einfach zunichte gemacht oder weggenommen werden konnten. (1)

Bis heute polarisiert das Thema Musik in der ehemaligen Colonia Dignidad. Während einige bis heute Freude an Chor-Gesang haben, musizieren manche lieber alleine und wieder andere schließen kategorisch für sich aus, jemals wieder singen zu wollen. Was manche rückblickend als gemeinschaftsstiftend empfanden, wirkt bei anderen schon bei dem Gedanken daran retraumatisierend. Zu schmerzhaft die Repressionen, die sie in Chor oder Orchester erleben mussten. Wieder anderen ist die Musik ein Rückzugsort, an den sie sich zurückziehen, um ihre Vergangenheit für einen Moment ruhen zu lassen. „Songs of Repression“ gibt all diesen Empfindungen Raum und lässt sie dennoch nie alleine stehen. Denn jede Geschichte einer Person ist nur einen präzisen Schnitt von einer anderen Perspektive entfernt.

Was der Film leider nicht berücksichtigt, ist die Bedeutung von klassischer Musik für chilenische Oppositionelle, die während der Militärdiktatur zu Stücken von Tschaikowsky oder Mozart in der Colonia Dignidad gefoltert worden sind. Eine Geheimdiensttechnik, die den „Schwanensee“ oder „Eine kleine Nachtmusik“ in zynische Waffen gegen Menschen verwandelte.

Chor singt auf dem Friedhof der Villa Baviera, Foto: Wagner & Hougen-Moraga

Insgesamt ist ein beeindruckend aufmerksamer und sensibler Dokumentarfilm entstanden, dem es gelingt, vielschichtige Facetten von Erinnerungen an ein totalitäres System einzufangen. Ein Film mit viel Empathie für die traumatischen Erfahrungen Einzelner, aber vor allem mit einem kritischen und differenzierten Blick auf die komplexen Zusammenhänge der konfliktbehafteten Erinnerungskultur in der heutigen Villa Baviera. Spannend ist dabei, dass ihm das nahezu ausschließlich mit den Erinnerungen von Zeitzeug*innen gelingt. Während andere Produktionen manchmal versuchen, die Moral mit dem Vorschlaghammer einzubläuen und damit Gefahr laufen, den Blick für die Komplexität des Themas zu verlieren, gelingt es dieser Produktion viel subtiler, sich an den Kern erinnerungskultureller Aushandlungsprozesse heranzutasten.

Estephan Wagner und Marianne Hougen-Moraga

Die beiden Regisseur*innen Marianne Hougen-Moraga und Estephan Wagner sind ein Paar und leben heute in Kopenhagen. Sie ist Dänin-Chilenin und er Deutsch-Chilene. Das Thema Colonia Dignidad beschäftigt sie nicht erst seit dem gemeinsamen Filmprojekt „Songs of Repression“. Beide begegneten der Colonia Dignidad bereits im Kindes- und Jugendalter. Allerdings aus zwei gegensätzlichen Perspektiven, die vielen Chile*innen bekannt vorkommen dürften. Wagner kannte die Gruppe um Schäfer von dem Familienrestaurant „Casino Familar“, welches die Colonia in der chilenischen Stadt Bulnes betrieb. (2) Auf dem Weg in den Urlaub nach Südchile wählte seine Familie das Restaurant der deutschen Siedler*innen, weil ihnen das deutsche Essen schmeckte und ihnen der Ort gefiel. Seine Familie verteidigte die Gruppe und ihr Vorzeige-Image gegen Anfeindungen und Vorwürfe. Hougen-Moragas Familie hingegen kannte früh die Gerüchte von dem Folterlager, welches der chilenische Geheimdienst DINA in der Colonia Dignidad eingerichtet hatte. Sie wusste, dass in der Colonia Dignidad im Auftrag der Militärdiktatur Augusto Pinochets gefoltert und gemordet wurde. Sie wuchs bei ihrer Mutter im dänischen Exil auf und kannte die Warnungen vor der Gruppe um Paul Schäfer.

Als die beiden Filmemacher*innen sich in ihren 30ern kennenlernten, hatten sie längst begonnen, die Geschichten über die Colonia Dignidad weiter zu hinterfragen. Beiden war klar: Sie wollten sich von einem Schwarz-Weiß-Bild ihrer Kindheit und Jugend lösen und die komplexen Facetten in den Blick nehmen, welche die Geschichte der Colonia Dignidad mit sich bringt. Insgesamt besuchten sie die heutige Villa Baviera und ihre Bewohner*innen über einen Zeitraum von dreieinhalb Jahren in regelmäßigen Abständen. Gemeinsam mit ihren Kindern zogen sie für sechs Monate in die nähergelegene Stadt Chillán. Sie ließen die Menschen sprechen und luden sie ein, ihre Sichtweisen auf die eigene Vergangenheit zu teilen. Dabei hatten sie das Ziel vor Augen, die Menschen zu verstehen und die Logik der historischen Sinngebungen zu begreifen.

Auf die Frage, wie Hougen-Moraga und Wagner ihre Interviewpartner*innen ausgewählt haben, hebt Wagner im Gespräch mit diesem Blog hervor:

Wir machen keine Interviews. Wir haben uns mit den Menschen unterhalten. Das ist für uns ein riesiger Unterschied. Denn das Wort Interview beinhaltet ein Machtgefälle zwischen Interviewendem und Interviewten. Wir haben oft und auch sehr lange mit den Menschen gesprochen. Auch ohne Kamera. Wir haben auch einen ganzen Monat die Kamera gar nicht rausgeholt. Viele sind selbst auf uns zugekommen, sobald sie Vertrauen gefasst hatten.

Hougen-Moraga und Wagner fanden unterschiedliche Bewältigungsstrategien für den Umgang mit eigenen Traumata vor:

We found that behind the attempt to create a paradise for themselves and for tourists, people living there have very different strategies for dealing with their traumas: from staying silent about the past and choosing only to remember the bright moments, to a desire to open up while being unable to vocalize their pain.

Zwei ältere einstige Colonia-Anhängerinnen auf der Pflegestation der Villa Baviera, Foto: Wagner & Hougen-Moraga

Die Frage danach, wer eigentlich Opfer des Systems und wer Täter*in war, gelangt dabei in den Hintergrund. Diese Entscheidung der Filmemacher*innen hätte in Anbetracht der mangelnden Aufarbeitung der Verbrechen problematisch ausgehen können. Ist sie aber nicht – ganz im Gegenteil: Die Zuschauerin spürt in jedem Moment die Verwicklungen der gezeigten Personen und ihre individuellen Aushandlungen mit der eigenen oft schmerzhaften und auch schuldaufgeladenen Vergangenheit. Bauchbinden mit Namen, Rolle und Verantwortung im historischen System Colonia Dignidad sind in diesem Film gar nicht nötig, während sie in anderen Doku-Formaten dringender vermisst wurden. „Songs of Repression“ braucht sie nicht, weil der Film nicht auf eine Kategorisierung in Schuld und Unschuld abzielt. Ein geschichtskultureller Drahtseilakt, bei dem die Filmemacher*innen die vielfältigen Bewältigungsstrategien der Betroffenen offenlegen, ohne die Sprechenden vorzuführen.

Eine weitere Besonderheit an diesem feinfühligen Dokumentarfilm ist, dass Wagner und Hougen-Moraga sich von den so genannten Talking Heads, sprechenden Köpfen, entfernt haben. Sie geben ihren Gesprächen mit den Betroffenen einen Kontext. Die Zuschauerin erhält einen Einblick in die Sekunden, manchmal Minuten vor dem offiziellen Beginn. Das verleiht den Aufnahmen eine Authentizität, wie sie Talking Heads und dramatische Erzähl-Stimmen nicht schaffen können. „Songs of Repression“ braucht auch keine dramatisierende Hintergrundmusik oder eine*n Sprecher*in, die das Unbeschreibliche weiter zuspitzt. Der Schmerz der Vergangenheit und die Bewältigungsstrategien sind derart spürbar, dass keine speziellen Effekte nötig sind. Einzig präzise Schnitte, die den Perspektivwechsel dann vornehmen, wenn er dramaturgisch nötig ist, um ein komplexeres Bild von den Menschen in der ehemaligen Colonia Dignidad zu zeichnen. Die filmische Inszenierung gelingt, weil viele Nuancen eingefangen wurden und die Menschen für sich selbst sprechen dürfen.

Bewohner der Villa Baviera, Foto: Wagner & Hougen-Moraga

Dieser souveräne Umgang mit einem erinnerungskulturellen Minenfeld liegt vielleicht auch in der Erfahrung mit problematischen Vergangenheiten begründet, auf die das Team der beiden Regisseur*innen Hougen-Moraga und Wagner zurückgreifen kann. Denn die Produzent*innen Joshua Oppenheimer und Signe Bryge Sørensen haben Erfahrung mit konfliktbehafteten Erinnerungskulturen und ihren vielschichtigen Ausprägungen. Sie wagten mit dem Dokumentarfilm „The Act of Killing“ (2012) eine umstrittene Annäherung an die Täter-Perspektive auf die Massaker in Indonesien 1965–1966.

Dokumentarfilm-Fans und Interessierte an der Geschichte der Colonia Dignidad sehen einen Film, der Ambivalenzen hervorhebt anstatt zu moralisieren. Aber auch ohne Geschehenes zu beschönigen. Der Film ist auf Augenhöhe mit den Betroffenen produziert worden. Und die Beziehung zwischen Filmemacher*innen und Dargestellten endete nicht mit seiner Fertigstellung. Denn Hougen-Moraga und Wagner flogen mit dem fertigen Film zunächst nach Chile, um ihn in der ehemaligen Colonia Dignidad vor der Premiere vorzuführen. Das hatten sie versprochen. Im Gespräch mit diesem Blog heben sie hervor:

Wir möchten weiterhin an dem Thema bleiben. Wir haben viel Kontakt zu den Menschen und wir haben Freundschaften geschlossen. Das ist uns ganz wichtig. Unser Interesse hört nicht auf, weil wir aufgehört haben zu drehen. Deshalb sind wir auch dorthin gefahren, um den Film zu zeigen. Das hat etwas mit Respekt zutun. Wir arbeiten auf eine Art und Weise, wo wir nichts verbergen wollen. Die Offenheit, und ich glaube, dass man das auch im Film merkt, ist uns ganz wichtig.

Was wie eine Kleinigkeit daherkommt, bedeutet den Menschen vor Ort eine Menge. Denn Vertrauen fällt den meisten bis heute nicht leicht. Und zuletzt war es für die Betroffenen häufig schwierig die Filme, Serien und Dokus, an denen sie häufig mitgewirkt haben, überhaupt zu sehen.

Vielversprechend wäre es auch, wenn Hougen-Moraga und Wagner einen zweiten Teil drehen würden – dieses Mal auch mit Perspektiven von außerhalb der Villa Baviera. Zum Beispiel mit explizitem Fokus auf die Erinnerungen der Familienangehörigen von in der Colonia Dignidad Verschwundenen. Oder auch mit Blick auf die Erfahrungen der chilenischen Jungen, die noch in den 1990er-Jahren im so genannten „Intensivinternat“ der Villa Baviera zu Opfern sexualisierter Gewalt durch Paul Schäfer geworden sind. Die politische, juristische, künstlerische und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Colonia Dignidad ist längst nicht abgeschlossen.

„Songs of Repression“ kann ab sofort online beim DOKfest München angesehen werden.

 


Regie: Estephan Wagner & Marianne Hougen-Moraga

Produktion: Signe Bryge Sørensen & Heidi Elise Christensen

Produktionsleitung: Joshua Oppenheimer

Filmlänge: 90 Minuten

Sprachen: Deutsch und Spanisch, englische Untertitel


 

(1) Das Casino Familiar besteht bis heute und wird von der gegenwärtigen Villa Baviera geführt.

(2) Susanne Bauer, Über die Bedeutung und den Einfluss von Musik auf Menschen in extremen Lebenssituationen am Beispiel der Sekte ‚Colonia Dignidad‘ in Chile, in: Stephan Grätzel und Jann E. Schlimme (Hg.), psycho-logik, Jahrbuch für Psychotherapie, Philosophie und Kultur, Freiburg/München 2013, S. 217.