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Online Veranstaltungsreihe zur Colonia Dignidad im November 2020

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Online Veranstaltungsreihe zur Colonia Dignidad im November 2020

Veranstaltungsreihe des AStA Hannover: “Colonia Dignidad – Aufarbeitung eines deutschen Verbrechens in Chile”

Die Arbeitsgruppe Kritische Bildung des AStA der Universität Hannover beschäftigt sich Ende November 2020 erneut mit dem Thema Colonia Dignidad. Dieses Mal steht das Thema Aufarbeitung im Fokus der Veranstaltungsreihe. Aufgrund der COVID19-Pandemie wurde das Veranstaltungsformat dahingehend angepasst, dass alle Veranstaltungen Online stattfinden können. Interessierte finden die Veranstaltungsreihe zur Aufarbeitung der Colonia Dignidad  auf der Facebook-Seite des AStA Hannover unter diesem Link.


DIENSTAG, 24. NOVEMBER 2020 UM 19:00 UTC+01

Colonia Dignidad – zum strukturellen Versagen politischer und juristischer Aufarbeitung

Die Geschichte der Colonia Dignidad von ihren Vorläufern in den 1950er Jahren bis heute ist auch eine Geschichte von unterlassenen staatlichen Verpflichtungen, die dort begangenen Verbrechen zu verhindern und aufzuarbeiten: auf juristischer und politischer Ebene, in Deutschland und in Chile.
Manche Akteur*innen unterstützten die Colonia Dignidad willentlich. Andere ließen sich von ihrer unermüdlichen Lobbyarbeit beeindrucken und schenkten Opferschilderungen keinen Glauben. Oft schoben Behörden die Verantwortung jeweils anderen zu, so dass sich in Chile der Spruch durchsetzte „La Colonia siempre gana“, auf deutsch: „Die Kolonie gewinnt immer“. Nur in wenigen historischen Phasen gelang es ein Stück weit, gegen die Sekte vorzugehen. Bis zur Festnahme von Paul Schäfer 2005 wurden jedoch weiter Verbrechen begangen.
Die Aufklärung und Aufarbeitung verlaufen seitdem prekär: Täter*innen der Colonia Dignidad wurden kaum bestraft. Deutschland ist zum „sicheren Hafen“ für ehemalige Mitglieder der Führungsriege geworden, die von der chilenischen Justiz gesucht oder wie im Fall des leitenden Sektenarztes Hartmut Hopp bereits verurteilt wurden. Hierzulande fehlt gegen sie, laut NRW-Justiz, ein „hinreichender Tatverdacht“.
Viele Taten, wie das „Verschwindenlassen“ von dutzenden politischen Aktivist*innen während der Pinochet-Diktatur sind weiterhin unaufgeklärt. Das von der Führung der Colonia Dignidad Ende der 1980er Jahre entworfene Firmengeflecht besteht noch immer und das jahrzehntelang durch Verbrechen angehäufte Vermögen ist nicht aufgeklärt. Auf dem Gelände der ehemaligen Colonia Dignidad wird die Vergangenheit bislang kaum thematisiert. Bemühungen um Errichtung einer von der deutschen und der chilenischen Regierung getragenen Gedenkstätte verlaufen seit Jahren zäh. Warum tragen beide Staaten so wenig zu einer umfassenden Aufarbeitung bei? Welches sind heute die entscheidenden Auseinandersetzungen? Wo gibt es Chancen auf Aufklärung?
Jan Stehle ist Mitarbeiter des Forschungs- und Dokumentationszentrums Chile-Lateinamerika in Berlin. Er hat an der FU Berlin zum Umgang bundesdeutscher Justiz und Außenpolitik mit dem Fall Colonia Dignidad promoviert und engagiert sich seit Jahren für die juristische und politische Aufarbeitung der CD-Verbrechen.
Ute Löhning ist Print- und Hörfunk-Journalistin und regelmäßig in Lateinamerika, vor allem in Chile unterwegs. Sie berichtet unter anderem zu sozialen Bewegungen, Erinnerungspolitik und Straflosigkeit.
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DONNERSTAG, 26. NOVEMBER 2020 UM 19:00 UTC+01

Colonia Dignidad – zur Errichtung einer Gedenkstätte in einem erinnerungskulturell umkämpften Feld

Vortrag und Diskussion mit Dr. Elke Gryglewski und Meike Dreckmann-Nielen
Die Geschichte der Colonia Dignidad gilt als erinnerungskulturell umkämpftes Feld, denn der einstige Ort zahlreicher Verbrechen wurde von seinen Bewohner*innen über die Jahre in ein touristisch gestaltetes Freizeitdorf mit Hotellerie und Gastronomie umgebaut. Während die einen dies als Neuerfindung an einem schrecklichen Ort erleben, kritisieren andere diese Nutzung als Opferverhöhnung. Dies ist nur eines von vielen konfliktbehafteten Themen in der Geschichte der Colonia Dignidad.
Meike Dreckmann-Nielen wird in ihrem Vortrag einen Einblick in diesen Konflikt um Deutungshoheit und damit in ihr laufendes Forschungsprojekt geben. Sie promoviert am Arbeitsbereich Public History der Freien Universität Berlin zu erinnerungskulturellen Dynamiken in der ehemaligen Colonia Dignidad.
Mit den praktischen Planungen rund um den Prozess der Errichtung des Dokumentationszentrums und einer Gedenkstätte befasst sich Dr. Elke Gryglewski als Mitglied einer bilateralen Expertenkommission, die von den Regierungen Chiles und Deutschland eingesetzt wurde.
Dr. Elke Gryglewski ist kommissarische Direktorin der Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz in Berlin und seit 2014 mit dem Prozess der Planung von Dokumentationszentrum und Gedenkstätte auf dem Gelände der ehemaligen Colonia Dignidad betraut. In ihrem Vortrag wird sie aus ihrer konkreten Arbeit in diesem Planungsprozess berichten und damit ganz praktisch Einblick in einen in hohem Maße komplexen Prozess geben.
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MONTAG, 30. NOVEMBER 2020 UM 19:00 UTC+01

Colonia Dignidad und die Pinochet-Diktatur: eine Repressionsallianz offenbart ihr Innenleben

Der harte Kern einer Diktatur kann noch lange nachwirken, wenn diese selbst formal abgetreten ist. In Chile wirken sich die Machtkonstellationen, die Wirtschaftsstrukturen und Denkweisen der 1990 abgetretenen Pinochetdiktatur bis heute aus. Auch die repressiven Methoden erstarken wieder, wenn die Bevölkerung mit der alten, von der Diktatur übernommenen Politik bricht. Die von der Pandemie unterbrochenen emanzipatorischen Kämpfe im heutigen Chile haben eine autoritäre Reaktion des Staates hervorgerufen.
2005 fand die Polizei auf dem Gelände der deutschen Siedlung Colonia Dignidad ein Archiv, das die Methoden und Denkweisen der Geheimdienste und ihrer zivilgesellschaftlichen HelferInnen dokumentiert. Unsere Referenten Luis Narváez und Dieter Maier haben einen großen Teil davon in einer zweisprachigen Datenbank erschlossen (www.fichas-chile.com, User: visita. Password/codigo: fulano) und ein noch unveröffentlichtes Buch darüber geschrieben. Im Rahmen dieses Vortrags werden sie die wichtigsten Ergebnisse vorstellen. Der Chilene Erick Zott, ein ehemaliger politischer Gefangener in der Colonia Dignidad, wird von seinen Erfahrungen mit dem Repressionsapparat berichten.
Dr. Dieter Maier (Frankfurt am Main) ist Autor mehrerer Bücher über die Colonia Dignidad.
Luis Narváez (Buenos Aires) ist chilenischer Journalist.
Erick Zott (Wien) war politischer Gefangener in Chile.

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Gastbeiträge

Politische Häftlinge in der Colonia Dignidad – der Fall Mile Mavroski

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Politische Häftlinge in der Colonia Dignidad – der Fall Mile Mavroski

Mile Mavroski als Gefangener in der Colonia Dignidad – die Konstruktion eines Feindbildes

– ein Gastbeitrag von Dieter Maier anlässlich des Todes von Mile Mavroski am 10.6.2020

Der Fall des in der Colonia Dignidad gefangenen Chilenen Mile Mavroski ist einzigartig. Mavroski war elf Monate in der deutschen Siedlung „verschwunden“, also seit seiner Verhaftung ohne Lebenszeichen. Von keinem anderen chilenischen politischen Gefangenen ist ein derart langes Verschwundensein und Wiederauftauchen bekannt.

Mavroski wurde am 24.09.1933 in Mazedonien geboren. Er wuchs in einer Bauernfamilie auf, lebte in einfachen Verhältnissen und war Zeit seines Lebens Analphabet. 1955 kam er nach Chile und betrieb in San Carlos das Beerdigungsunternehmen Pompas Fúnebre. Für arme Hinterbliebene machte er die Beerdigungen umsonst. Die ganze Stadt kannte ihn. Er war mit einigen lokalen Polizisten, den Carabineros, befreundet.

Seine erste von 19 Karten in einem in der Siedlung gefundenen Karteikartenarchiv erwähnt vage politische Sympathien und eine russische Migrationsgeschichte.

Karteikarte aus dem in der Colonia Dignidad gefundenen Material

Er wurde am 17.01.1974 verhaftet, nach Chillán gebracht und dort schwer gefoltert. Offenbar hielt ihn der zuständige Militärstaatsanwalt Mario Romero für ein besonders gut getarntes führendes Mitglied der Widerstandsgruppe MIR (Movimiento de Izquierda Revolucionaria) und verurteilte ihn zu einer Haftstrafe von 541 Tagen (Urteil des Kriegsgerichts San Carlos 3-1974. Der Oberste Gerichtshof Chiles hob dieses Urteil am 04.09.2019 auf). Romero ließ ihn in die Colonia Dignidad bringen. Während dieser Haft entstanden die meisten seiner 19 Karteikarten. Auf über 100 weiteren kommt sein Name vor. Auf diesen Karten wird er zum „wichtigen MIR-Mitglied“,- und gleichzeitig „sehr verbunden mit der KP (Kommunistische Partei)“, was sich in der Praxis wegen der Rivalitäten zwischen der MIR und der KP faktisch ausschloss.

Ein führendes regionales Mitglied des MIR, Ricardo Catalán, war am 30.03.1974 in Santiago von der DINA verhaftet und am 17.12.1974 nach Chillán gebracht worden, um am folgenden Tag Mavroski, der zur Vernehmung vorgeladen war, gegenüber gestellt zu werden. Romero notiert: “Wir haben Catalán in Haft, er wurde uns ausgeliehen, denn er ist in Santiago in Haft, aber sie haben ihn uns zum Verhör ausgeliehen“. Catalán stammte aus der Region der Colonia Dignidad, und das Verhör während der „Ausleihe“ drehte sich um mögliche Waffenverstecke dort und den MIR. Catalán sagte wenig Konkretes gegen Mavroski aus; er erwähnt gelegentliche Treffen und Hilfsleistungen und ein Gespräch über die Herstellung von Maschinenpistolen im zweiten Weltkrieg. Der MIR hätte, so die Karte, gerne Maschinenpistolen gehabt, aber Mavroski verstand nichts davon.

Mavroskis Karteikarten zeichnen das Bild einer Verschwörung, die bis zu den Spitzen der UP-Regierung (Unidad Popular) reicht: Ein Hubschrauber, in dem sich José Tohá, der Innenminister Allendes, befand, soll beim Rückflug von San Carlos nach Santiago auf dem Friedhof von San Carlos gelandet sein, um Waffen aus ausgegrabenen Särgen einzuladen.

Das klingt nach Legendenbildung. Särge und Urnen, in denen Waffen versteckt gewesen sein sollen, sind das Ergebnis eines Gerüchts, das zum Konstruktionselement des „bösen Russen“ wurde. „Romero hatte irgendetwas gehört, wollte mehr wissen und schnüffelte den Friedhof aus. Er fand heraus, dass Mavroski manchmal mit nur wenigen Familienangehörigen zu Beisetzungen ging. Der Militärgeistliche „glaubte“ deshalb, in den Urnen seien Waffen. Die Eintragung stammt aus der Zeit, als Mavroski in der Colonia Dignidad in Haft war. Navarrete war ein fortschrittlicher Priester und Freund Mavroskis. Das Agentennetzwerk bespitzelte ihn und hatte offenbar irgendetwas aufgeschnappt. Die Vermutung von den Waffen auf dem Friedhof verfestigt sich durch entsprechende Formulierungen auf späteren Karten zur Tatsache.

Und so geht es weiter. Mavroski wollte angeblich ein Haus neben einem Hotel kaufen. Auf dem Dach des Hotels könnte man einen Heckenschützen postieren, meint der Spitzel „Bü“. „Bü“ bekam eine Bemerkung Mavroskis mit: Wenn die Frau des Hotelbesitzers stürbe, würde er alle Kosten übernehmen. Weiter: In der Bäckerei eines sozialistischen „Marxisten und Freimaurers“ soll Mavroski einem „Dickerchen“ eine Maschinepistole gegeben haben. Einige Karten notieren Mavroskis Mitgliedschaft bei den Freimaurern. Freimaurerei und Marxismus verwandeln sich in den Köpfen des Agentennetzwerks zu einer giftigen Mischung.

Oder: “Ich bin informiert”, sagt eine DINA-Quelle aus San Carlos, dass Mavroski bei einem Sprengstoffanschlag auf den Sendemast der Firma ENTEL in San Carlos mitgewirkt habe.

Der Verhaftete Victor Faúndes sagte mit Datum vom 24.01.1974 unter der Folter aus, dass ein anderer Gefangener früher Militärs und die Familie Romero (fast sicher die Familie Mario Romeros) von San Carlos fotografiert habe. Das passt ins Schema von “Plan Z”, laut dem die Linke alle Rechten und Militärs ermorden wollten, und bedient die Paranoia der Diktatur.

All das verdichtet sich zu einem „Plan Mabrovski“. Mavroski, so die Karteikarten-Version, wollte persönlich die Waffen verteilen und dann zuerst die Extremisten führen, um das Kommissariat der Carabineros in San Carlos anzugreifen, ihnen die Waffen wegnehmen, dann dasselbe mit der Kriminalpolizei (Servicio de Investigaciones) machen und dann das öffentliche Gefängnis von San Carlos stürmen, wo er die politischen Gefangenen befreien und ihnen Waffen geben wollte. Nachdem das erledigt worden wäre, wollte er das Stadtzentrum angreifen und „die wichtigsten Familien und alle diejenigen, die Widerstand leisteten, töten. Das ganze soll als Aktion „schwarze Weihnachten“ (auch „Plan Mabrovski“) geplant worden sein. In Särgen vergrabene Waffen (fünf Kisten mit ja 25 Maschinenpistolen) sollten an Guerilleros ausgehändigt werden. Diese Aktion soll für 1974 geplant gewesen sein, dann wird sie auf 1975 umdatiert, und sie wird von einer lokalen Aktion in San Carlos zu einem landesweiten Putschversuch. Der Plan sei wegen Verhaftungen aufgeschoben worden und taucht dann als „schwarzer September“ für den zweiten Jahrestag des Putsches auf. Die Vorstellung einer „schwarzen Weihnacht“ oder eines “schwarzen Septembers“ hat sich offenbar in den Köpfen des Agentennetzwerks festgesetzt. Es gibt weitere Karteikarten, die auf ihn Bezug nehmen. Dokumente des Staatssicherheitsdientes der DDR greifen das Stichwort auf. Dort heißt es, die Erfindung eines Planes „schwarzer September“ im September 1975 in Santiago sei dazu bestimmt gewesen, das Verbot der Einreise einer UNO-Kommission zu rechtfertigen. (BStU MfS HA II 14032 Bl. 13) Mavroski leugnete beim Verhör diesen Plan.

Die Karteikarten enthalten eine Aussage Mavroskis vom 15.01.1974, also zwei Tage vor seiner Verhaftung (möglicherweise ist dies eine Aussage vor der Kriminalpolizei in San Carlos.) und ein weitere am 22.6.1974. Sie bestätigt nichts von dem, was ihm vorgehalten wird. „Ich hatte noch nicht einmal eine Wasserpistole“, sagte er vor der Kriminalpolizei in San Carlos.

In diesem anfangs rätselhaften Fall war es uns möglich, den Wahrheitsgehalt vor Ort zu überprüfen. Luis Narváez besuchte Mavroski 2015 für ein Interview. Mavroski berichtete von seinen Folterungen. Narváez’ zweiter Besuch schlug fehl, da Mavroski ihn bat, nach dem Essen wiederzukommen, dann aber bereits im Krankenhaus lag, da er zusammengebrochen war. Im Dezember 2017 besuchten ihn Luis Narváez, Jan Stehle und Dieter Maier. Er war nun 84 Jahre alt und saß, wie jeden Tag, auf einen Stock gelehnt, mit Anzug und Krawatte vor Pompas Fúnebre, wo er zugleich wohnte, und schwatzte mit seinen Freunden. Er bat uns in seine Wohnung. Dieser Besuch, schon für sich ein Erlebnis, zeigt, wie sehr die Konstruktion eines Feindbildes und die Wirklichkeit sich unterschieden. Wir gehen an einem Leichenwagen vorbei in sein Wohnzimmer. An der Wand hängen ein Bild des jugoslawischen Partisanen-Marschalls Tito in ordensgeschmückter Uniform, Fotos von Mavroskis Brüdern (einer ebenfalls in Uniform), ein Ölgemälde seines russischen Großvaters, ein Bajonett aus dem ersten Weltkrieg und Diplome seiner Mitgliedschaft bei den Freimaurern, Großloge 123 „David Benavente“.

Mavroski gibt uns eine unfreiwillige Lektion über die Schwierigkeiten des Erinnerns. Sein Gedächtnis ist schwach, aber er erzählt flüssig aus seinem Leben. Er sagt, er sei mit 14 Jahren zu Titos Partisanenarmee gestoßen, habe dort aber nur Kartoffeln für die Kämpfer geschält. Es geht um „Kriege nach dem zweiten Weltkrieg“. Was damit gemeint ist, bleibt unklar, vielleicht Kämpfe in Titos Jugoslawien; zu Kriegsende war Mavroski jedenfalls erst 13 Jahre alt. Er habe Tito in seinem Haus besucht. Vom Bosporus aus sei er per Zug nach Moskau gereist und 1948 in Berlin gewesen. Zwei Jahre sei er in Italien gewesen, bis ihm „der Papst“ die Ausreise nach Chile ermöglicht habe. Er lebte sechs Jahre in Concepción, wo er im Krankenhaus Allende kennenlernte, und dann in San Carlos.

Seine Haft in der Colonia Dignidad schildert er zunächst als harmlos. Während der elf Monate in einem Keller sei er nicht misshandelt worden, die Augen waren nicht verbunden. Es gab keine Mitgefangenen. Schäfer verhörte ihn zwei Mal. Er wurde auch auf Russisch verhört, sagte er (er sprach kein Russisch, verstand es aber). Obwohl alle Beteiligten Spanisch sprachen, nahmen die Deutschen einen Dolmetscher für Russisch. Offenbar dachten die Verhörer, dass die KP-Leute sich heimlich auf Russisch unterhielten. In Aussagen früherer Colonia-Mitglieder werden Verhöre auf Russisch mehrfach erwähnt. Colonia-Mitglied Heinrich Neufeld, der Russisch konnte, musste als „Gefangener“ im Kartoffelkeller der Siedlung, der als Folter- und Haftort diente, Bürsten binden und „im Käfig wie (ein) Hühnerkäfig bleiben, um Gespräche mitzuhören.“ Dann sagte Mavroski leise zu uns: „Ich will mich nicht mehr an das erinnern, was gewesen ist.“ Und: “Ich glaube nicht an die Justiz.“ Langsam rückt er damit heraus, dass er mit Eintauchen bis kurz vor dem Ersticken (U-Boot-Folter) und Elektroschocks gefoltert wurde („Ja, das kann sein“). Ob er die Augen verbunden hatte? „Seguro“ (deutsch: sicher). Dass er in der Colonia Dignidad war, weiß er, weil er in der Vergangenheit zwei Tote aus dem Krankenhaus übernommen hatte, und Schäfer kannte er von Fotos.

Über die Gründe seiner Freilassung nach elf Monaten kann man nur spekulieren. Hatte er lediglich seine Haftstrafe in der Colonia Dignidad verbüßt? Hatte er Stillschweigen versprochen? Der geistliche Jorge Elias Navarette hatte Unterschriften für seine Freilassung gesammelt. Mavroskis Carabinero-Freunde mochten sich für ihn eingesetzt haben. Laut den Karten hatte sích auch eine Gruppe von Freunden für seine Freilassung eingesetzt. Diese Freunde könnten Freimaurer oder Rotarier gewesen sein, Mavroski gehörte auch zum Rotary-Club.

„Der politische Einfluss der DC, der Sozialisten und der Kommunisten beeinflussten Staatanwalt Romero, bis er ihn freiließ“, schreibt der unermüdliche Colonia-Spitzel „OMH“ (Oscar Muñoz Hildebrandt) auf Mavroskis letzter Karte. „Bü“ beschwerte sich am 22.03.1982: „Es war ein riesiger Fehler, dass Mavroski noch lebt.“. „OMH“ notiert noch 1982 die Autos, die benutzt wurden, als Mavroski eine Tote aus „dem Krankenhaus“ abholte, und er trägt 1985 noch einmal die Geschichte von den Urnen mit den versteckten Waffen vor.

Laut der Erklärung eines anderen früheren Colonia-Bewohners sagte Schäfer: „Er darf nicht lebend hier raus!“ (Erklärung von Willi Malessa im Fall Maino, 2005). Die Colonia Dignidad hatte aber kein Recht, Chilenen zu ermorden. Aber auch bei den Chilenen stand Mavroski auf der Todesliste. Der Heeresoffizier Torrealba wurde nach dem Putsch aus der Pension geholt und war für die Gefangenen in der Garnison Chillán zuständig. „Er geht sehr hart mit den Miristen (MIR-Mitgliedern, D.M.) um”, sagt „Bü“. Aus Mavroskis Aussage vom 20.01.1974 zitiert seine Karte: „Mit diesem Mann (Mavroski, DM.) kann man nichts anderes machen als ihn zu töten.“

Das Agentennetzwerk, das hier handelte, scheint Mavroski als eine Art persönliche Trophäe betrachtet zu haben. Dies würde erklären, warum es auf einer Karte heißt: „Sehr bedauerlicher Weise ist Hauptmann Rivero durch eine Indiskretion über den Ort informiert, an dem sich der Jugoslawe-Russe-Chilene Mile Mabrovski befindet“. Gemeint ist die Colonia Dignidad. Rivero, ein offenbar harter Offizier, sieht das Verhalten der Colonia Dignidad kritisch, er sagt, er hätte aus Mavroski alles innerhalb von fünf Tagen rausgeholt.

Luis Narváez traf 2018 Mavroskis Sohn Mile Mavroski Sepúlveda. Mavroski war gestürzt und bettlägerig. Er wurde rund um die Uhr gepflegt. Der Sohn wusste wenig über die Haft seines Vaters. Der Vater hatte ihm von der Haftzeit erzählt, aber ohne die Folterungen zu erwähnen.

„Don Mile“, so die zugleich liebevolle und respektvolle Anrede, starb am 10.06.2020.

Ein Jahr davor interviewte ihn ein Team des Oral-History-Projekts (CDOH) der Freien Universität Berlin. Zwei Tage nach seinem Tod stellte das Projekt den folgenden Nachruf auf seine Website:

“‘Don Mile Mavroski wurde im Jahr 1933 in Mazedonien geboren und kam 1955 nach Chile. In Concepción lernte er seine Ehefrau Carmen Sepúlveda kennen mit der er zwei Kinder hatte. Die Familie zog nach San Carlos, wo er ein Beerdigungsinstitut gründete. Wiederholt unterstützte er dabei solidarisch auch Familien, die sich eine würdige Beerdigung sonst nicht hätten leisten können. Nach dem Militärputsch wurde Mile Mavroski Mileva verhaftet und beschuldigt, dem MIR anzugehören, ein sowjetischer Spion zu sein und mit Waffen zu handeln. Im Januar 1974 brachten sie ihn aus dem Gefängnis in Chillán in die Colonia Dignidad. Don Mile war dort elf Monate lang gefangen. Damit war er der Gefangene, der die längste Zeit dort festgehalten, verhört und gefoltert wurde. Nach Chiles Rückkehr zur Demokratie sagt er vor der Comisión Nacional sobre Prisión Política y Tortura (Comisión Valech) aus und wurde in deren Aufstellung der politischen und gefolterten Gefangenen aufgenommen.

Die Interviewerin Evelyn Hevia erinnert sich: ‘Ich kam an diesem Morgen zum Interview in Begleitung von Edison und Manuel, den Kollegen des Medienteams und von Luis Narváez, einem Journalisten, der Don Mile seit Jahren kennt. Mit Luis und dem Rechtsanwalt Hernán Fernández hatten wir Don Mile bereits 2016 besucht, damals allerdings im Krankenhaus; inzwischen wohnte er in einer Seniorenresidenz und seine Tochter erzählte uns, dass ihm in der Woche nach unserem Interview die Ehrenbürgerschaft seines Wohnortes San Carlos verliehen werden würde. Denn Don Mile war eine bekannte Persönlichkeit in der Stadt, ein Mann der Solidarität, immer elegant, gut gekleidet und mit der Pfeife zwischen den Lippen oder in den Händen. Am Tag des Interviews wirkte er wie üblich mit einem strahlenden Lächeln, aber auch mit einem gewissen Widerstand dagegen, sich an die schwierigen Momente seines Lebens zu erinnern. Wir nahmen das Interview auf, in den Pausen aßen wir gemeinsam Kuchen und tranken Tee, er erzählte uns von seiner Kindheit in Mazedonien, wo er Schafe und Ziegen hütete, er erzählte uns vom Krieg und zeigte uns die Tätowierung auf seinem Arm, die dazu dienen sollte, im Falle seines Todes bei einem Bombenangriff erkannt zu werden.

Er erzählte uns auch, dass er dank der ‘schlechten Wörter’, die ihm von Freunden und Kollegen beigebracht wurden, die er bei seiner Ankunft im Land traf, gelernt habe, ‘chilenisch zu sprechen’. Als wir uns an diesem Nachmittag von Don Mile verabschiedeten, gingen wir mit dem Bewusstsein, dass wir eine großartige Lebensgeschichte aufgezeichnet haben, denn trotz der Kürze von Don Miles Bericht bleibt damit das Zeugnis vom Leben eines großen Mannes und eines Überlebenden von so vielen verschiedenen Schlachten erhalten.’

Es ist uns eine Ehre, durch dieses Projekt eine Aufzeichnung seiner Lebensgeschichte bewahren zu können.”

Das Interview soll 2021 im Oral History-Archiv der FU öffentlich zugänglich sein.

 

Quelle: Dieser Text besteht zum Teil aus Auszügen eines unveröffentlichten Manuskriptes: Dieter Maier; Luis Narvárez: Die Kartei des Terrors (unveröffentlichtes Manuskript).