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Die Broschüre von Amnesty International über die Colonia Dignidad von 1977

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Die Broschüre von Amnesty International über die Colonia Dignidad von 1977

Zur Broschüre „Colonia Dignidad – deutsches Mustergut in Chile – ein Folterlager der DINA“

Im März 1977 publizierte die bundesdeutsche Sektion von Amnesty International (ai) eine Broschüre mit dem Titel „Colonia Dignidad – deutsches Mustergut in Chile – ein Folterlager der DINA*“. Zeitgleich veröffentlichte die Zeitschrift der STERN einen Artikel über die Colonia Dignidad. Die Autoren der Amnesty-Broschüre waren Jürgen Karwelat und die Chile-Koordinationsgruppe von Amnesty International (deutsche Sektion), darunter Dieter Maier. In dieser Schrift wurden zum ersten Mal die Folterberichte der chilenischen politischen Gefangenen Erick Zott, Luis Peebles und Adriana Bórquez wiedergegeben. Die Publikation schlug entsprechend große Wellen und ist für die Geschichte der Colonia Dignidad von großer Bedeutung. Im folgenden Interview berichtet Dieter Maier von den Umständen dieser Veröffentlichung und gibt einen Einblick in seine persönlichen Erfahrungen zu der Zeit. Weil die Broschüre heute nicht mehr zu erwerben ist, hat Dieter Maier außerdem eine Kopie zum Download bereitgestellt.

Meike Dreckmann-Nielen: Wie kam es zu der Publikation der berühmten Amnesty-Broschüre?

Dieter Maier: Amnesty International hatte über einen Exilchilenen von der Foltersiedlung erfahren, die der Organisation bis dahin unbekannt war. Die ai-Gruppe lud Zott und Peebles getrennt ein, nahm ihre Aussagen auf, und lud sie dann gemeinsam ein. Parallel recherchierte Jürgen Karwelat zur Entstehung der Sekte in Chile.

MDN: Was geschah dann?

DM: Das Presseecho auf die ai-Publikation war unerwartet groß. Die Sekte brauchte sechs Wochen, ehe sie darauf reagierte. Offenbar gingen Colonia Dignidad und Diktatur davon aus, dass ai noch mehr wusste, und sondierten erst einmal die Lage. Die Pinochet-Diktatur nahm ai als Teil einer Chile-Solidaritätsbewegung wahr, die damals in vielen Ländern Einfluss auf die staatliche Politik hatte. Die von einem Geheimdienstler Jahrzehnte später in einem Gespräch mit Carlos Liberona kolportierte Version, ai sei eine Art Regierung gewesen, war aber schon damals, als ai auf dem Höhepunkt seines Ansehens stand, falsch. Die Menschenrechtsorganisation hatte ihre spezifischen Schwachpunkte. Ihr internationales Sekretariat in London, das aus Unachtsamkeit den Entwurf der Broschüre nicht gelesen hatte, war von Anfang an strikt gegen die Initiative der deutschen Sektion, von der sie aus der Presse erfuhr.

MDN: Was bedeutete das dann?

DM: DINA-Chef Manuel Contreras, der überall seine Spitzel hatte, wusste das. Er kannte auch bald die tatsächlichen Kräfteverhältnisse: „Mitarbeiter der Regierung Pinochets in Frankfurt informierten uns, dass es eine Gruppe von nicht mehr als drei Personen ist, die die Kampagne begann, und dass sie mit einer wenig bedeutsamen Unterstützung der SPD rechnen“ (Heller 1993 S. 156). Zwar ist die Angabe von drei Personen untertrieben, aber die Wirkung der Broschüre lag nicht in ihrer politischen Rückendeckung, sondern darin, dass sie unbeabsichtigt das geheimste aller geheimen Folterlager der DINA aufgedeckt und eine Verbindung zwischen der Pinochet-Diktatur und Deutschland nachgewiesen hatte.

Zum Download der Broschüre als PDF hier entlang:

Broschüre Colonia Dignidad – ein Folterlager der DINA 19 77

MDN: Und was unternahm die Colonia Dignidad?

DM: Nach hektischen Sondierungen in Santiago ging die Colonia Dignidad presserechtlich gegen ai vor. Wegen der kurzen Verjährungsfristen des Presserechts drängte die Zeit. Der für Staatsschutz zuständige Frankfurter Staatsanwalt Klein konstruierte eine Unterbrechungshandlung. Er wollte dazu das Frankfurter ai-Büro durchsuchen lassen, das aber zu diesem Zeitpunkt nicht besetzt war. Er vernahm mich und begründete in dieser Vernehmung seine Zuständigkeit damit, die ai-Broschüre habe die BRD angegriffen. Es ging dabei um einen knappen Satz zum Deutschlandbezug der Colonia Dignidad. Die „Private Sociale Mission“ erkundigte sich zu ai über den Waffenhändler Gerhard Mertins und den Frankfurter Rechtsanwalt und unentwegten Nazi-Verteidiger Dr. Steinacker zu Klein.

MDN: Wie ging es dann weiter?

DM: Die deutsche Colonia-Niederlassung „Private Sociale Mission“ erwirkte schließlich eine einstweilige Verfügung gegen ai und klagte im Hauptsacheverfahren vor dem Landgericht Bonn stellvertretend für die Colonia Dignidad gegen ai wegen Verleumdung. Hans Jürgen Blanck, studierter Jurist und Colonia Dignidad-Mitglied, übernahm die Prozessführung. Obwohl Steinacker auf ihn einen „korrekten, rechtsdenkenden Eindruck“ machte, überließ er dem unverdächtigen CDU-Rechtsanwalt Felix Busse die Rechtsvertretung. Dem waren die Barzahlungen aus dem Aktenkoffer und die Ausflüchte der Colonia-Leute nicht geheuer und er legte sein Mandat nieder. Die Colonia sagte über ihn, ihm habe „Flexibilität gefehlt“; er war also nicht bereit, die Lügen des Folterlagers mitzutragen.

MDN: Und wer hat den Prozess schließlich gewonnen?

DM: Amnesty International gewann den Bonner Prozess nach 20 Jahren, blieb aber auf den Kosten sitzen, denn die Klägerin Private Sociale Mission gab es zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Da die Klägerin weggefallen war, konnten die Bonner Richter den Prozess ohne inhaltliche Bewertung der Zeugenvernehmungen und Protokolle von Ortsterminen beenden. Ein inhaltlich begründetes Urteil zu einem früheren Zeitpunkt hätte Rückwirkungen auf die Verfahren in Chile gehabt und womöglich Schäfers Herrschaft verkürzt. Die lange Prozessdauer wurde mehrfach von deutschen Behörden und Politikern als willkommenes Argument benutzt, sich nicht in ein „schwebendes Verfahren“ einmischen zu können. In einer Akte des Auswärtigen Amtes (AA) heißt es, das AA solle „weiterhin Zurückhaltung üben“ und sich „jedweder Stellungnahme zu den Vorwürfen strikt enthalten“. Eine handschriftliche Notiz am Schluss dieses Textes lautet: „Wir haben ein objektives Interesse an der Aufklärung der Vorwürfe, können diese Aufklärung aber keinesfalls selbst vornehmen. Wir sollten uns auch nicht in die Auseinandersetzung zwischen der Colonia Dignidad einerseits und Amnesty International andererseits hineinziehen lassen.“ Die Unterschrift „Ge“ stammt offenbar vom damaligen Staatssekretär Dr. Gehloff. Die Lesart von der gebotenen Zurückhaltung bestand für viele Jahre fort.

Zum Download der Broschüre als PDF hier entlang:

Broschüre Colonia Dignidad – ein Folterlager der DINA 19 77

MDN: Wie würdest du die Bedeutung der Broschüre resümieren?

DM: Die Broschüre „Colonia Dignidad – deutsches Mustergut in Chile – ein Folterlager der DINA“ enthält nur einen Bruchteil dessen, was heute über die Siedlung bekannt ist. Immerhin dokumentiert sie fehlerlos zwei zentrale Punkte: Die Misshandlungen an Chilen*innen und Deutschen. Mit ihr begann die Auseinandersetzung mit diesem Thema, die bis heute nicht abgeschlossen ist. Die Broschüre beweist, dass gut recherchierte Dokumentionen die Sache der Menschenrechte nutzen können. Das Leiden vieler deutscher Sektenmitglieder und der (zwangs)adoptierten und sexuell missbrauchten Chilenen konnte ai nicht lindern. Spätestens aber seit 1977 konnte niemand mehr sagen, sie oder er habe von nichts gewusst.

*Die DINA war Pinochets 1974 gegründeter Geheimdienst

 

Literatur:

  • Friedrich Paul Heller(=Dieter Maier), Colonia Dignidad. Von der Psychosekte zum Folterlager, Schmetterlingverlag, Stuttgart, 1993, (2. Auflage) 2016.
  • Dieter Maier, Colonia Dignidad. Auf den Spuren eines deutschen Verbrechens in Chile, Stuttgart, Schmetterlingverlag (2. aktualisierte Aufl.) 2017.

 

Veranstaltungen

Online Veranstaltungsreihe zur Colonia Dignidad im November 2020

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Online Veranstaltungsreihe zur Colonia Dignidad im November 2020

Veranstaltungsreihe des AStA Hannover: „Colonia Dignidad – Aufarbeitung eines deutschen Verbrechens in Chile“

Die Arbeitsgruppe Kritische Bildung des AStA der Universität Hannover beschäftigt sich Ende November 2020 erneut mit dem Thema Colonia Dignidad. Dieses Mal steht das Thema Aufarbeitung im Fokus der Veranstaltungsreihe. Aufgrund der COVID19-Pandemie wurde das Veranstaltungsformat dahingehend angepasst, dass alle Veranstaltungen Online stattfinden können. Interessierte finden die Veranstaltungsreihe zur Aufarbeitung der Colonia Dignidad  auf der Facebook-Seite des AStA Hannover unter diesem Link.


DIENSTAG, 24. NOVEMBER 2020 UM 19:00 UTC+01

Colonia Dignidad – zum strukturellen Versagen politischer und juristischer Aufarbeitung

Die Geschichte der Colonia Dignidad von ihren Vorläufern in den 1950er Jahren bis heute ist auch eine Geschichte von unterlassenen staatlichen Verpflichtungen, die dort begangenen Verbrechen zu verhindern und aufzuarbeiten: auf juristischer und politischer Ebene, in Deutschland und in Chile.
Manche Akteur*innen unterstützten die Colonia Dignidad willentlich. Andere ließen sich von ihrer unermüdlichen Lobbyarbeit beeindrucken und schenkten Opferschilderungen keinen Glauben. Oft schoben Behörden die Verantwortung jeweils anderen zu, so dass sich in Chile der Spruch durchsetzte „La Colonia siempre gana“, auf deutsch: „Die Kolonie gewinnt immer“. Nur in wenigen historischen Phasen gelang es ein Stück weit, gegen die Sekte vorzugehen. Bis zur Festnahme von Paul Schäfer 2005 wurden jedoch weiter Verbrechen begangen.
Die Aufklärung und Aufarbeitung verlaufen seitdem prekär: Täter*innen der Colonia Dignidad wurden kaum bestraft. Deutschland ist zum „sicheren Hafen“ für ehemalige Mitglieder der Führungsriege geworden, die von der chilenischen Justiz gesucht oder wie im Fall des leitenden Sektenarztes Hartmut Hopp bereits verurteilt wurden. Hierzulande fehlt gegen sie, laut NRW-Justiz, ein „hinreichender Tatverdacht“.
Viele Taten, wie das „Verschwindenlassen“ von dutzenden politischen Aktivist*innen während der Pinochet-Diktatur sind weiterhin unaufgeklärt. Das von der Führung der Colonia Dignidad Ende der 1980er Jahre entworfene Firmengeflecht besteht noch immer und das jahrzehntelang durch Verbrechen angehäufte Vermögen ist nicht aufgeklärt. Auf dem Gelände der ehemaligen Colonia Dignidad wird die Vergangenheit bislang kaum thematisiert. Bemühungen um Errichtung einer von der deutschen und der chilenischen Regierung getragenen Gedenkstätte verlaufen seit Jahren zäh. Warum tragen beide Staaten so wenig zu einer umfassenden Aufarbeitung bei? Welches sind heute die entscheidenden Auseinandersetzungen? Wo gibt es Chancen auf Aufklärung?
Jan Stehle ist Mitarbeiter des Forschungs- und Dokumentationszentrums Chile-Lateinamerika in Berlin. Er hat an der FU Berlin zum Umgang bundesdeutscher Justiz und Außenpolitik mit dem Fall Colonia Dignidad promoviert und engagiert sich seit Jahren für die juristische und politische Aufarbeitung der CD-Verbrechen.
Ute Löhning ist Print- und Hörfunk-Journalistin und regelmäßig in Lateinamerika, vor allem in Chile unterwegs. Sie berichtet unter anderem zu sozialen Bewegungen, Erinnerungspolitik und Straflosigkeit.
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DONNERSTAG, 26. NOVEMBER 2020 UM 19:00 UTC+01

Colonia Dignidad – zur Errichtung einer Gedenkstätte in einem erinnerungskulturell umkämpften Feld

Vortrag und Diskussion mit Dr. Elke Gryglewski und Meike Dreckmann-Nielen
Die Geschichte der Colonia Dignidad gilt als erinnerungskulturell umkämpftes Feld, denn der einstige Ort zahlreicher Verbrechen wurde von seinen Bewohner*innen über die Jahre in ein touristisch gestaltetes Freizeitdorf mit Hotellerie und Gastronomie umgebaut. Während die einen dies als Neuerfindung an einem schrecklichen Ort erleben, kritisieren andere diese Nutzung als Opferverhöhnung. Dies ist nur eines von vielen konfliktbehafteten Themen in der Geschichte der Colonia Dignidad.
Meike Dreckmann-Nielen wird in ihrem Vortrag einen Einblick in diesen Konflikt um Deutungshoheit und damit in ihr laufendes Forschungsprojekt geben. Sie promoviert am Arbeitsbereich Public History der Freien Universität Berlin zu erinnerungskulturellen Dynamiken in der ehemaligen Colonia Dignidad.
Mit den praktischen Planungen rund um den Prozess der Errichtung des Dokumentationszentrums und einer Gedenkstätte befasst sich Dr. Elke Gryglewski als Mitglied einer bilateralen Expertenkommission, die von den Regierungen Chiles und Deutschland eingesetzt wurde.
Dr. Elke Gryglewski ist kommissarische Direktorin der Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz in Berlin und seit 2014 mit dem Prozess der Planung von Dokumentationszentrum und Gedenkstätte auf dem Gelände der ehemaligen Colonia Dignidad betraut. In ihrem Vortrag wird sie aus ihrer konkreten Arbeit in diesem Planungsprozess berichten und damit ganz praktisch Einblick in einen in hohem Maße komplexen Prozess geben.
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MONTAG, 30. NOVEMBER 2020 UM 19:00 UTC+01

Colonia Dignidad und die Pinochet-Diktatur: eine Repressionsallianz offenbart ihr Innenleben

Der harte Kern einer Diktatur kann noch lange nachwirken, wenn diese selbst formal abgetreten ist. In Chile wirken sich die Machtkonstellationen, die Wirtschaftsstrukturen und Denkweisen der 1990 abgetretenen Pinochetdiktatur bis heute aus. Auch die repressiven Methoden erstarken wieder, wenn die Bevölkerung mit der alten, von der Diktatur übernommenen Politik bricht. Die von der Pandemie unterbrochenen emanzipatorischen Kämpfe im heutigen Chile haben eine autoritäre Reaktion des Staates hervorgerufen.
2005 fand die Polizei auf dem Gelände der deutschen Siedlung Colonia Dignidad ein Archiv, das die Methoden und Denkweisen der Geheimdienste und ihrer zivilgesellschaftlichen HelferInnen dokumentiert. Unsere Referenten Luis Narváez und Dieter Maier haben einen großen Teil davon in einer zweisprachigen Datenbank erschlossen (www.fichas-chile.com, User: visita. Password/codigo: fulano) und ein noch unveröffentlichtes Buch darüber geschrieben. Im Rahmen dieses Vortrags werden sie die wichtigsten Ergebnisse vorstellen. Der Chilene Erick Zott, ein ehemaliger politischer Gefangener in der Colonia Dignidad, wird von seinen Erfahrungen mit dem Repressionsapparat berichten.
Dr. Dieter Maier (Frankfurt am Main) ist Autor mehrerer Bücher über die Colonia Dignidad.
Luis Narváez (Buenos Aires) ist chilenischer Journalist.
Erick Zott (Wien) war politischer Gefangener in Chile.

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