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Das Auswärtige Amt und Colonia Dignidad – Interview mit David Bartels

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Das Auswärtige Amt und Colonia Dignidad – Interview mit David Bartels

Bild aus dem chilenischen Nationalarchiv, Bildrecht: CDPHB

David Bartels ist stellvertretender Leiter des Referats für Grundsatzfragen mit Bezug auf Lateinamerika und die Karibik im Auswärtigen Amt. Im Sommer 2018 kam er von seinem Posten in Washington nach Berlin und ist seither für das Thema Colonia Dignidad im Auswärtigen Amt zuständig. Im Sommer 2020 geht es für Bartels gemäß des Rotationsprinzips auf seinen nächsten Posten nach Riga. Im Interview zieht er Bilanz über die letzten Jahre und erzählt u.a. von der Rolle des Auswärtigen Amtes in der Geschichte der Colonia Dignidad, seiner Arbeit im Ministerium und von den Auswirkungen von COVID-19 auf die Aufarbeitung der Colonia Dignidad heute.

Interview mit David Bartels vom Auswärtigen Amt zum Thema Colonia Dignidad

Meike Dreckmann: Lieber Herr Bartels, für viele Leser*innen ist die Arbeit einer obersten Bundesbehörde wie dem Auswärtigen Amt nur abstrakt vorstellbar. Könnten Sie uns einen kurzen Einblick in Ihren Arbeitsalltag geben? Wie müssen wir uns Ihre Zuständigkeit für das Thema Colonia Dignidad vorstellen?

David Bartels, Auswärtiges Amt

David Bartels: Ich bin stellvertretender Leiter des Referats für Grundsatzfragen mit Bezug auf Lateinamerika und die Karibik sowie direkt zuständig für die bilateralen Beziehungen zu Argentinien und Chile. Daher kommt auch meine Zuständigkeit für die Colonia Dignidad. In meinem Arbeitsalltag beschäftige ich mich viel mit Berichten und Analysen aus den Staaten, für die ich zuständig bin. Ich stehe in Kontakt zu den Botschaften Chiles und Argentiniens und bereite z.B. Gesprächsunterlagen und Sachstände für hochrangige Kontakte vor. Der Schwerpunkt wechselt ständig. Es gibt Zeiten, da dominiert das Thema Colonia Dignidad deutlich. Und auch hier gibt es viele Unterbereiche. Die Arbeit rund um die Gemeinsame Kommission von Bundestag und Bundesregierung hat viel Zeit in Anspruch genommen, als das Hilfskonzept erstellt wurde. Zuletzt gab es mehr für mich zu tun bei der bilateralen Zusammenarbeit mit der chilenischen Regierung, z.B. zur Frage der Errichtung einer Dokumentations- und Gedenkstätte für die Opfer der Colonia Dignidad.

MD: Wann sind Sie persönlich erstmals mit dem Thema Colonia Dignidad in Berührung gekommen?

DB: Privat als Kind oder Jugendlicher. Da war das für mich einfach eine schreckliche, aber auch irgendwie schwer vorstellbare Geschichte aus einem fernen Land. Im Amt dann erst wieder im Sommer 2018, als ich meinen jetzigen Posten übernahm. Je mehr ich mich in die Thematik einarbeitete, desto furchtbarer wurde das Bild dessen, was dort geschehen ist.

MD: Welche Rolle hat das Auswärtige Amt in der Geschichte der Colonia Dignidad aus Ihrer Sicht gespielt?

DB: Es sind schwere Fehler gemacht worden, gar keine Frage. Ich habe mir viele Akten dazu durchgelesen, um zu verstehen, was in den Köpfen der Kolleg*innen damals an der Deutschen Botschaft oder auch in der Zentrale in Bonn vor sich ging. Und da habe ich gemerkt, dass es eine große Bandbreite gibt. Manches ist für mich unerklärlich. Bei anderen Akten sieht man aber auch, dass da Beamte mit sich selbst gerungen haben. Und dann gab es auch eine Zeit in den 1980er-Jahren, als das Auswärtige Amt unter dem damaligen Minister Genscher wirklich alles versuchte, um Licht in das Dunkel rund um die Colonia Dignidad zu bekommen. Das blieb erfolglos, denn der Diktator Pinochet wollte natürlich nicht zulassen, dass dann alle Gräueltaten bekannt würden. Alles in allem würde ich sagen: Man muss wirklich den Fall des einzelnen Beamten sehen, der da gehandelt hat. Aber unterm Strich wurden eben auch gravierende Fehler gemacht, so dass es da ganz sicher zumindest eine moralische Mitverantwortung des Auswärtigen Amtes gab.

MD: Im April 2016 hat Frank-Walter Steinmeier, damals noch als Außenminister, über die Verantwortung an den in der Colonia verübten Verbrechen gesagt, dass seitens des Auswärtigen Amtes „eindeutig zu wenig für den Schutz ihrer Landsleute in dieser Kolonie getan“ wurde. Was hat die Rede von Steinmeier damals rückblickend für Sie/Ihre Arbeit verändert?

DB: Ich war im April 2016 noch in Washington auf Posten, da habe ich das nur am Rande mitbekommen. Diese Rede bleibt aber bis heute für unsere Arbeit ganz wichtig. Wenn es dieses Bekenntnis von „ganz oben“ nicht gegeben hätte, hätten wir als Beamte uns gegenüber den Opfern zu dieser Frage schwer positionieren und allenfalls auf unsere persönliche Meinung verweisen können.

MD: Haben Sie den Eindruck, dass im Auswärtigen Amt aus den Fehlern im Umgang mit der Colonia Dignidad gelernt werden kann? Wurde das Thema wie angekündigt in den Lehrplan für angehende Diplomat*innen aufgenommen?

DB: Das glaube ich ganz sicher. Man sieht das vielleicht außen nicht so, aber das Thema Colonia Dignidad hat im Amt sehr viele Leute, bis an die Spitze des Amtes, beschäftigt. So etwas behält man im Gedächtnis. In einer vergleichbaren Lage würde man sich daran erinnern und sich sagen: Wir müssen um jeden Preis verhindern, dass sich so etwas wiederholt. Die Auseinandersetzung mit der Colonia Dignidad und dem Verhalten des Auswärtigen Amts damals ist heute in der Tat fester Bestandteil der amtsinternen Ausbildung. Es gibt dazu z.B. in der Diplomatenakademie in Tegel Veranstaltungen, teils im Rahmen der Attaché-Ausbildung, teils auch laufbahnübergreifend, zu denen auch Personen eingeladen werden, die dem Thema auf unterschiedliche Weise verbunden sind.

MD: Haben Sie selbst auch Reisen nach Chile unternommen?

DB: Ich konnte im November 2019 nach Chile reisen und war auch mit einer Kollegin aus der Botschaft in der Villa Baviera. Mir war das vorher von Kolleg*innen, die schon dagewesen waren, als ein sehr berührendes Erlebnis beschrieben worden. Und das stimmte wirklich. Da waren diese Folterstätten und die vielen Berichte von Misshandlungen, Demütigungen und Angst. Und dann tritt man vor die Tür und hat diese wunderschöne Landschaft vor Augen. Es war sehr beklemmend, aber auch sehr ergreifend, mit den Menschen einmal direkt zu sprechen, über die ich sonst nur ganz abstrakt in Akten und Berichten gelesen hatte.

MD: Mit welchen „Opfergruppen“ haben Sie dort gesprochen und wie ist die Auswahl zustande gekommen?

DB: Wir hatten über die Botschaft angeboten, über das Hilfskonzept zu informieren. Ich wollte dafür werben, dem Konzept eine Chance zu geben und mit uns zusammenzuarbeiten, ungeachtet aller – verständlichen – Vorbehalte und Kritikpunkte. Dazu gab es einen Termin außerhalb der Villa Baviera, am Folgetag einen innerhalb, wobei beide offen für sämtliche potenziellen Antragsteller*innen waren. Eine Familie haben wir noch separat getroffen, weil sie es terminlich anders nicht einrichten konnte. Uns war wichtig, dass sich keine Gruppierung bevorzugt oder benachteiligt fühlen sollte. In Deutschland gab es eine ähnliche, ebenfalls gut besuchte Veranstaltung in Hannover während eines vom Auswärtigen Amt geförderten Treffens eines Unterstützungsverbandes für Colonia Dignidad-Opfer.

MD: Und haben Sie auch mit chilenischen Opfergruppen gesprochen? Also etwa den Überlebenden von Folter, den Angehörigen von in der Colonia Verschwundenen, oder denjenigen Chilenen, die als Kinder noch in den 1990er-Jahren sexualisierte Gewalt durch Paul Schäfer erlitten?

DB: Ja, in Chile waren einige – allerdings wenige – Chilen*innen dabei, die in der Colonia Dignidad missbraucht worden waren, ohne dort gelebt zu haben; und auch Zwangsadoptierte. Außerdem gab es per E-Mail danach Kontakt mit einigen, die Fragen zum Hilfskonzept hatten.

MD: Viele Menschen beschreiben, dass sie die Arbeit zum Thema Colonia Dignidad auch persönlich immer wieder herausfordernd erleben. Gab es auch Momente, die Sie persönlich frustriert haben?

DB: Ja, ganz klar. In der Gemeinsamen Kommission haben Abgeordnete und Ressorts wirklich alles versucht, um das Hilfskonzept so auszugestalten, dass die Betroffenen es auch würden annehmen können. Und dann gab es aber Momente, wo wir einfach rechtlich an Grenzen stießen. Schlimmer aber waren die persönlichen Berichte, die einen wirklich über den Dienst hinaus verfolgen. Es ist ja ein Unterschied, ob man etwa in Berichten abstrakt über Familientrennungen liest oder dann von einem Menschen hört, der als Kleinkind von seiner Mutter getrennt wurde und sie lebend nicht mehr wiedergesehen hat. Oder von älteren Männern hört, wie sie als kleine Jungs immer und immer wieder missbraucht wurden. Ich kann nicht ansatzweise ahnen, was die Menschen, die das alles haben durchmachen müssen, auch seelisch darunter zu leiden haben mussten und immer noch müssen.

MD: Und gibt es etwas, dass Sie mit Blick auf das Thema positiv stimmt?

DB: Ich habe das Gefühl, dass das Hilfskonzept vielen Betroffenen wirklich etwas bringt. Ganz klar: Es gibt viel Kritik und Verbitterung, und das muss man respektieren. Aber ich habe das Gefühl, dass viele doch als eine Art Abschluss empfinden, was nun geschieht: dass der Staat, besonders das Auswärtige Amt, seine moralische Mitverantwortung öffentlich eingestanden hat; dass er Menschen zu Ihnen schickt, denen sie ihre Leidensgeschichte berichten können, wenn sie das wollen und dazu in der Lage sind; dass mit den Zahlungen wenigstens eine Geste erfolgt, die über Worte hinaus anerkennt, was diese Menschen haben durchleiden müssen. Ich hoffe einfach, dass möglichst viele Ex-„Colonos“ auch dadurch ein bisschen Genugtuung und Frieden finden. Wir müssen Ihnen aber weiterhin zeigen, dass das Thema Colonia Dignidad damit nicht für uns erledigt ist, z.B. über die Errichtung der Dokumentations- und Gedenkstätte.

MD: Die Entscheidung darüber, dass nun doch Hilfszahlungen an einige Opfer der Colonia Dignidad gezahlt werden, ist nicht gleich gefallen. Im Gegenteil, es war ein langer Aushandlungsprozess. Wie ist es aus Ihrer Sicht letztendlich doch dazu gekommen? Können Sie uns einen Einblick in Ihre Perspektive auf den Prozess geben?

DB: Auch hier muss ich darauf verweisen, dass ich erst Mitte 2018 ins Referat stieß. Da war bereits die Entscheidung gefallen, Hilfszahlungen zu leisten. Es war vorher lange Zeit unklar, auf welcher rechtlichen Grundlage Zahlungen erfolgen könnten. Bei aller moralischen Mitverantwortung des Auswärtigen Amtes: Hier handelte es sich ja um Verbrechen, die nicht der deutsche Staat, sondern deutsche Privatpersonen verübt hatten, noch dazu im Ausland und ohne eine realistische Möglichkeit – auch wenn manche das anders sehen –, das alles von Deutschland aus zu stoppen. Das musste erst einmal rechtlich möglich gemacht werden.

MD: Vor einigen Wochen wurden tatsächlich die ersten Hilfsgelder an einige Opfer der Colonia Dignidad ausgezahlt. Wie sind Sie bei der Verteilung vorgegangen?

DB: Der Auszahlungsprozess wird derzeit so zügig wie möglich fortgesetzt. Beauftragt damit ist die Internationale Organisation für Migration (IOM). Sie führt Gespräche mit Betroffenen. Dann wird geprüft, ob wir etwa belastbare und ernsthafte Erkenntnisse haben, dass es sich bei der Person vielleicht nicht um ein „Opfer“ handeln könnte. Ansonsten können die Gelder ausgezahlt werden.

MD: Wie ist dieser Geldbetrag über bis zu 10.000 € zustande gekommen?

DB: Da hat sich die Gemeinsame Kommission an anderen Regelungen für Opfer verschiedener Verbrechen orientiert, wie ich schon erklärt habe. Es ist natürlich allen klar ist, dass kein Geld der Welt das erlittene Leid der Betroffenen aufwiegen kann. Aber es handelt sich um eine Hilfsleistung, die gleichzeitig eine Geste der Anerkennung des Leids sein soll.

MD: Welche Auswirkung hat die weltweite Ausbreitung von COVID-19 auf die Auszahlungen der Hilfsgelder an die Opfer der Colonia Dignidad?

DB: Würden wir weitermachen wie bisher, würde das Verfahren wohl ins Stocken geraten. Die persönlichen Gespräche zwischen IOM und Betroffenen sind ja ganz wichtig. Aber mit den jetzigen Reisebeschränkungen und angesichts der Tatsache, dass viele Ex-„Colonos“ alters- oder gesundheitsbedingt Risikogruppen angehören, sind persönliche Besuche kaum noch möglich. Deshalb freue ich mich, dass die Gemeinsame Kommission zugestimmt hat, dass solche Gespräche jetzt auch telefonisch ermöglicht werden, wobei persönliche Besuche dann später nachgeholt werden sollen. Entscheiden müssen das die Betroffenen selbst.

MD: Welche Hilfsleistungen hat das Auswärtige Amt neben dem Geldbetrag festgelegt?

DB: Da ist vor allem noch der Fonds „Pflege und Alter“. Wir hatten in der Vergangenheit schon pflegebedürftige Menschen in der Villa Baviera unterstützt. In Deutschland greifen zumindest die funktionierenden Sozial- und Gesundheitssysteme für Betroffene. Der Fonds eröffnet jetzt die Möglichkeit, vor allem denjenigen Ex-„Colonos“, die in Chile außerhalb der Villa Baviera leben, auch eine menschenwürdige Pflege zukommen zu lassen, indem z.B. Zahlungen direkt an Pflegeeinrichtungen geleistet werden können. Nicht unbedingt „Hilfsleistungen“, aber ebenfalls wichtige Projekte sind die geplante Dokumentations- und Gedenkstätte, das laufende Projekt „Oral History“ des Lateinamerika-Instituts der FU Berlin oder auch verschiedene Dialogseminare, die das Auswärtige Amt fördert.

MD: Wo sieht sich das Auswärtige Amt hingegen nicht in der Verantwortung?

DB: Das Auswärtige Amt ist vor allem nicht für die Verbrechen selbst, die in der Colonia Dignidad verübt worden sind, verantwortlich. Ich verstehe die Verbitterung gegenüber dem Amt bei vielen Opfern sehr gut. Aber ich habe auch Äußerungen erlebt, die in die Richtung gingen, dass die Botschaft oder jedenfalls die Bundesregierung damals in Bonn das Schäfer-Regime einfach hätten beenden können, wenn man nur gewollt hätte. Das halte ich wirklich für ausgeschlossen, zumal das Auswärtige Amt ja in den 1980er-Jahren, wie schon gesagt, dann tatsächlich alles versucht hatte, um die Strukturen der Colonia Dignidad aufzubrechen und den „Colonos“ zu helfen; leider vergebens.

MD: In der heutigen Villa Baviera leben inzwischen viele Familien. Diejenigen, die Kinder bekommen konnten, fühlen sich heute mit der Kindererziehung oft überfordert. Bei wem können sie sich Hilfe holen? Hat jemand einen Blick auf die dritte Generation, die gerade mit ihren traumatisierten Eltern in Chile heranwächst?

DB: Das Auswärtige Amt bietet über die Botschaft psychologische Unterstützung an, z.B. werden Therapien bezahlt – für einzelne Personen, aber auch für Familien. Aber man muss da realistisch sein: Weder das Amt noch die Botschaft können in jeder Lebenslage zur Hilfestellung bereit stehen. Dafür haben wir weder die Expertise, noch die Mittel. Das heißt nicht, dass wir solche Probleme nicht ernst nehmen würden. Wir müssen prüfen, ob und was da geleistet werden könnte.

MD: Sie kennen die Einzelheiten der Colonia Dignidad gut. Sie wissen sicherlich, dass es zahlreiche chilenische Zeugen gibt, die aussagen, dass sie von dem damaligen Arzt der Gruppe, Hartmut Hopp, als Kinder mit Psychopharmaka ruhiggestellt wurden, bevor sie sexualisierter Gewalt durch Schäfer ausgesetzt wurden. Diese Zeugen wurden nie in Deutschland gehört. Trotz aller Vorwürfe verteidigen einige ehemalige Colonia-Anhänger*innen den Arzt bis heute. Andere halten es für schlicht unerträglich, dass der Mann juristisch in Deutschland nie belangt wurde. Können Sie die Entscheidung des Oberlandesgerichts nachvollziehen?

DB: Ich kann nur sagen: Natürlich habe ich eine persönliche Meinung dazu. Aber für uns als Bundesregierung gilt, dass wir uns in die Arbeit und Entscheidungen der Justiz nicht einmischen können und dürfen. Und das ist in einem demokratischen Rechtsstaat auch grundsätzlich richtig so, auch, wenn es im Einzelfall manchmal sehr bitter sein kann, dann schweigen zu müssen.

MD: Geht das Auswärtige Amt noch Hinweisen nach dem Vermögen nach, welches Paul Schäfer angehäuft und versteckt haben soll?

DB: Ja, aber das ist ein sehr schwieriges Unterfangen – wie übrigens eigentlich alles, was mit Vermögensanteilen, Eigentumsverhältnissen usw. rund um die ehemalige Colonia Dignidad oder die heutige Villa Baviera zu tun hat. Vereinfacht gesagt: Immer, wenn man meint, etwas durchschaut zu haben, tuen sich neue Untiefen und Verästelungen auf. Dazu kommen manchmal abenteuerlich anmutende Gerüchte und Verdächtigungen. Mein Eindruck ist, dass wir noch sehr lange damit zu tun haben werden. Zumal es in der Regel ja gerade nicht um in Deutschland geparkte Vermögenswerte geht, die wir mit deutschem Recht aufklären könnten.

MD: Es ist üblich für Mitarbeitende des Auswärtigen Amtes alle paar Jahre ihren Zuständigkeitsbereich nach dem Rotationsprinzip zu wechseln. Ein solcher Wechsel steht auch Ihnen bald bevor. Wenn Sie heute hier ein Resümee ziehen müssten, wie würde dies mit Blick auf die Aufarbeitung der Colonia Dignidad ausfallen?

DB: Stimmt, im Sommer geht es für mich an die Botschaft nach Riga. Ich muss sagen, das Thema Colonia Dignidad hat mich viel stärker berührt als irgendetwas sonst, womit ich im Auswärtigen Amt je zu tun gehabt hätte. Ich glaube, das geht allen so, die sich damit ausführlicher beschäftigen. Aber so schrecklich das Thema an sich war und ist, kann ich rückblickend auch manches Positive sehen: Das Hilfskonzept wird umgesetzt und kann Opfern der Colonia Dignidad wirklich helfen. Und in der Gemeinsamen Kommission war ich sehr beeindruckt davon, wie nachdrücklich und leidenschaftlich Abgeordnete und Regierungsvertreter*innen, immer stärker gemeinsam, zusammengearbeitet haben, um das bestmögliche Konzept auf die Beine zu stellen. Ich hoffe einfach, dass die Hilfe weiterhin angenommen wird und möglichst viele Opfer der Colonia Dignidad damit auch ein Stück weit Frieden finden können.

MD: Ich danke Ihnen für das Gespräch.

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Weitere Interviews zum Thema finden Sie hier

Zum Interview mit Renate Künast hier entlang.

Das Gespräch mit Dr. Elke Gryglewski über das geplante Gedenkstättenprojekt finden Sie hier

Interviews/Zeitzeugenberichte

Zeitzeuge Peter Rahl im Interview über sein Leben nach der Colonia Dignidad

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Zeitzeuge Peter Rahl im Interview über sein Leben nach der Colonia Dignidad

Peter Rahl bei Renovierungsarbeiten im neuen Haus in Gronau, Copyright: Peter Rahl/CDPHB

Peter Rahl verbrachte 32 Jahre seines Lebens in der Colonia Dignidad in Chile. Inzwischen lebt er mit seiner siebenköpfigen Familie im nordrhein-westfälischen Gronau. In diesem Interview erzählt er aus seinem Leben nach der Colonia Dignidad, von den Herausforderungen in der neuen Heimat, von Unterstützer*innen, den Hilfsgeldern aus den Mitteln des Deutschen Bundestages und seinen Wünschen für die weitere Aufarbeitung der Geschichte.

Meike Dreckmann-Nielen im Gespräch mit Peter Rahl über sein Leben nach der Colonia Dignidad 

Meike Dreckmann-Nielen: Herr Rahl, Sie leben inzwischen mit Ihrer Familie in Gronau. Könnten Sie für die Leser*innen kurz erklären, wann Sie in die Colonia Dignidad kamen, wie lange Sie dort gelebt haben und wann und warum Sie sich entschieden haben, die Villa Baviera zu verlassen?

Peter Rahl: Im Oktober 1973, im Alter von 17 Jahren, kam ich in die Colonia Dignidad. Ich wurde von meiner Mutter hingeschickt, um dem Wehrdienst in Deutschland zu entgehen. Nach 32 Jahren – im Jahr 2005 –, vier Jahre nach unserer Hochzeit, hatten wir die Möglichkeit mit unseren drei dort geborenen Töchtern die Colonia Dignidad für immer zu verlassen und nach Deutschland zu gehen. Der Hauptgrund war die „Schäfer-Treue“ der Komplizen Paul Schäfers, die inzwischen das Sagen in der Colonia Dignidad fest in ihren Händen hielten. Sie verteufelten jede Aufarbeitung der Vergangenheit strikt; sie logen genauso weiter, wie sie es unter Schäfer taten. Sie begünstigten ihre Kinder (einst Schäfers Sprinter) und verhalfen ihnen zu Posten, Geld und Macht in der Colonia Dignidad. Sie herrschten wie Füchse, die versuchten ihr Fell zu wechseln, nicht aber ihre Gesinnung.

MDN: Warum sind Sie nach Gronau gekommen?

PR: Ich hatte 16 Jahre als Kind in Gronau gelebt und meine Schulzeit hier absolviert. Außerdem lebten mein Vater und weitere Verwandte hier. Ingesamt einfach viele Menschen, die sich über Jahrzehnte für meine Befreiung aus der Sklaverei eingesetzt hatten.

MDN: Wie waren die ersten Jahre in Deutschland für Sie?

PR: Meine Frau und ich hatten uns nach der Ankunft in Deutschland die Frage gestellt: Sollen wir uns in die Arme des deutschen Sozialstaates fallen lassen? Oder mit allem Willen eine eigene unabhängige Existenz aufbauen? Wir entschieden uns für eine eigene Existenz, auch als Vorbild für unsere Kinder. Wir machten uns klar, dass wir in Chile zwei entscheidende Dinge gelernt hatten: arbeiten und verzichten! Auf dieser Basis können wir es schaffen, hatten wir beschlossen.

MDN: Was geschah daraufhin?

PR: Mit 50 stieg ich also ins deutsche Berufsleben ein, bekam eine Anstellung in der Baufirma einer ehemaligen Mitschülerin von damals hier in Gronau. Ich war als Montagearbeiter deutschlandweit unterwegs und schaffte es, unsere mittlerweile siebenköpfige Familie ohne staatliche Hilfe zu versorgen. Wir bekamen einen Kredit, um eine Bauruine zu erwerben. Wir haben sie in jahrelanger Feierabend-Arbeit renoviert und zu unserem Zuhause gemacht. Die Zeit war nicht nur körperlich sehr hart, weil wir bis spät in die Nacht am Haus bauten. Die Woche über von der jungen Familie getrennt zu sein und die heranwachsenden Kinder nur am Wochenende sehen zu können – das war auch sehr schwer. Wir lebten 5 Jahre auf einer Baustelle. Jahrelang hatte meine Frau nicht einmal warmes Wasser in der Küche, und das mit den Kleinen. Es war eine sehr harte Zeit, die wir aber nie bereut haben.

MDN: Ist die Vergangenheit von Ihrer Frau und Ihnen im familiären Alltag Thema?

PR: Nein – wir können nicht nach vorne marschieren und dauernd zurückschauen. Die Vergangenheit hat uns nichts mehr zu sagen, denn aus der Vergangenheit schöpfen wir keine Kraft. Sie hat uns unwiderruflich geprägt, dauerhaft geformt, seelisch und körperlich geschädigt und verkrüppelt. Sie hat als Vergangenheit ihren Platz in der vollendeten Vergangenheit.

MDN: Sie und Ihre Frau gehören zu den ersten ehemaligen Colonia-Anhänger*innen, die Hilfszahlungen aus den Mitteln des Deutschen Bundestages erhalten haben. Wie kam es Ihres Erachtens dazu, dass es nun doch Unterstützung für die Betroffenen gab?

PR: Es ist das unermüdliche Mahnen einiger verantwortungsvoller Politiker*innen, die ihr Gewissen nicht totgeschwiegen haben und die sich entschlossen, ihre Augen und Ohren nicht vor der Wahrheit zu verschließen. In Vertretung möchte ich Renate Künast (MdB, Bündnis 90/Die Grünen) und Michael Brand (MdB, CDU) danken für ihr eisernes Durchhaltevermögen. Sie haben den Deutschen Bundestag wachgerüttelt. Sie haben den gepeinigten Opfern und von den deutschen Behörden ignorierten Flehenden im Bundestag und in der Öffentlichkeit Gesicht und Namen gegeben. Meine Frau und ich danken ihnen aus tiefstem Herzen.

MDN: Bisher haben Sie 7000€ erhalten und potenziell können Sie weitere 3000€ beantragen. Lindert dieser Geldbetrag Ihre finanzielle Not?

PR: Nein, das ist aber auch nicht sein geplanter Zweck. Eine siebenköpfige Familie mit fünf schulpflichtigen Töchtern kann durch solch einen Geldbetrag kein anderes Leben führen oder den Kindern eine bessere Ausbildung ermöglichen. Die beiden Ältesten machen gerade ihren Führerschein: Damit sind 5000€ weg! Der Betrag ermöglicht es uns, dieses Jahr weniger Schulden zu machen.

MDN: Gibt es noch etwas, dass Sie sich für die weitere Aufarbeitung der Geschichte der Colonia Dignidad wünschen?

PR: Oh ja! Ich wünsche mir, dass die wenigen Menschen, die bis heute durch den Bann des Schweigens eine befreiende Wahrheitsaufarbeitung blockieren, endlich ihren Selbstschutz aufgeben und um der Wahrheit Willen reden, egal ob aus Krefeld oder aus Chile.

MDN: Gibt es noch etwas, dass Ihnen am Herzen liegt? Hier haben Sie Raum dafür.

PR: Ich möchte den Menschen hier in Ämtern, auf Behörden, in Gemeinden, in Schulen, auf Arbeitsstellen und im gesamten persönlichen Umfeld herzlich danken für die Unterstützung, die seelische Erbauung, die Spenden an Kleidung, Möbel und Nahrung, die Hilfestellungen im Zurechtfinden in dieser für uns neuen Gesellschafts- und Sozialordnung. Dafür möchte ich mich bedanken. Ihr habt uns unermesslich mehr „Reichtum“ geschenkt, als es sich je in einer Geldsumme erfassen ließe. Herzlichen Dank!

MDN: Vielen Dank, Herr Rahl!

PR: Gerne.


Mehr zum Thema (Auswahl): 

Zum Interview mit Renate Künast über ihre Arbeit hier entlang

Das Interview mit Elke Gryglewski über die Planung einer Gedenkstätte in der ehemaligen Colonia Dignidad finden Sie hier

 

Akteur*innen & Projekte/Forschungseinblicke/Interviews

„Songs of Repression“ – neue Doku über das Leben nach der Colonia Dignidad

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„Songs of Repression“ – neue Doku über das Leben nach der Colonia Dignidad

Ein Bewohner vor einer Sauna in der ehemaligen Colonia Dignidad

Im März 2020 feierte der Dokumentarfilm „Songs of Repression“ von den Filmemacher*innen Marianne Hougen-Moraga und Estephan Wagner Premiere auf dem diesjährigen Internationalen Dokumentarfilmfestival Kopenhagen (CPH:DOX). Dort gewann er gleich zwei Preise: einen für den besten dänischen Film (Politiken:Dok:Award) und den Hauptpreis des Festivals, den DOX:Award. Ende dieser Woche läuft er auch (online) beim DOK.fest in München an.

Inzwischen hat es zahlreiche dokumentarische und journalistische Filmprojekte zum Thema Colonia Dignidad gegeben. „Songs of Repression“ nähert sich der Thematik aus einem besonderen Blickwinkel: Er nimmt die Erinnerungen der bis heute in der ehemaligen Colonia Dignidad lebenden Menschen in den Blick. Er schaut sich an, wie die Menschen ihrer Vergangenheit in der Colonia Dignidad rückblickend Sinn verleihen. Dabei bemüht er sich nicht darum, eine detaillierte Chronik der historischen Ereignisse zu zeigen. Er nimmt vielmehr die individuellen Bewältigungsstrategien in den Fokus. Die Geschichten der Sprechenden erzählen von unterschiedlich erfolgreichen Strategien: von Verdrängung, Verleugnung, Reue, Schuld, über Trauer, Überforderung; hin zu kleinen Freuden, Hoffnung und Sehnsucht.

Drei Männer in der Villa Baviera beim Musizieren, Foto: Wagner & Hougen-Moraga

Musik durchzieht den Film als zentrales Motiv wie ein roter Faden. Deshalb auch der Titel „Songs of Repression“, welchen die Filmemacher*innen für den 90-minütigen Film gewählt haben. Die Rolle der Musik habe die Filmemacher*innen besonders beschäftigt, weil sie als etwas „eigentlich schönes und freies“ in der Colonia Dignidad auch zu einem Werkzeug der Repression verwandelt worden sei.

Die Berliner Professorin für Musiktherapie, Susanne Bauer, war nach der Festnahme Paul Schäfers Teil eines Psychotherapeut*innen-Teams, welches die Menschen der Colonia Dignidad psychotherapeutisch betreute. In einem Aufsatz zur Rolle von Musik in der Colonia schreibt sie:

Sie [die Musik, Anm. MD] war in vielen Fällen ein Mittel zur Unterdrückung, Demütigung und Beschämung, gleichzeitig aber auch ein Gegenmittel zu so mancher malignen Intention von Sektenführer Schäfer. In und mit ihr konnte man gute Gefühle spüren, die nicht einfach zunichte gemacht oder weggenommen werden konnten. (1)

Bis heute polarisiert das Thema Musik in der ehemaligen Colonia Dignidad. Während einige bis heute Freude an Chor-Gesang haben, musizieren manche lieber alleine und wieder andere schließen kategorisch für sich aus, jemals wieder singen zu wollen. Was manche rückblickend als gemeinschaftsstiftend empfanden, wirkt bei anderen schon bei dem Gedanken daran retraumatisierend. Zu schmerzhaft die Repressionen, die sie in Chor oder Orchester erleben mussten. Wieder anderen ist die Musik ein Rückzugsort, an den sie sich zurückziehen, um ihre Vergangenheit für einen Moment ruhen zu lassen. „Songs of Repression“ gibt all diesen Empfindungen Raum und lässt sie dennoch nie alleine stehen. Denn jede Geschichte einer Person ist nur einen präzisen Schnitt von einer anderen Perspektive entfernt.

Was der Film leider nicht berücksichtigt, ist die Bedeutung von klassischer Musik für chilenische Oppositionelle, die während der Militärdiktatur zu Stücken von Tschaikowsky oder Mozart in der Colonia Dignidad gefoltert worden sind. Eine Geheimdiensttechnik, die den „Schwanensee“ oder „Eine kleine Nachtmusik“ in zynische Waffen gegen Menschen verwandelte.

Chor singt auf dem Friedhof der Villa Baviera, Foto: Wagner & Hougen-Moraga

Insgesamt ist ein beeindruckend aufmerksamer und sensibler Dokumentarfilm entstanden, dem es gelingt, vielschichtige Facetten von Erinnerungen an ein totalitäres System einzufangen. Ein Film mit viel Empathie für die traumatischen Erfahrungen Einzelner, aber vor allem mit einem kritischen und differenzierten Blick auf die komplexen Zusammenhänge der konfliktbehafteten Erinnerungskultur in der heutigen Villa Baviera. Spannend ist dabei, dass ihm das nahezu ausschließlich mit den Erinnerungen von Zeitzeug*innen gelingt. Während andere Produktionen manchmal versuchen, die Moral mit dem Vorschlaghammer einzubläuen und damit Gefahr laufen, den Blick für die Komplexität des Themas zu verlieren, gelingt es dieser Produktion viel subtiler, sich an den Kern erinnerungskultureller Aushandlungsprozesse heranzutasten.

Estephan Wagner und Marianne Hougen-Moraga

Die beiden Regisseur*innen Marianne Hougen-Moraga und Estephan Wagner sind ein Paar und leben heute in Kopenhagen. Sie ist Dänin-Chilenin und er Deutsch-Chilene. Das Thema Colonia Dignidad beschäftigt sie nicht erst seit dem gemeinsamen Filmprojekt „Songs of Repression“. Beide begegneten der Colonia Dignidad bereits im Kindes- und Jugendalter. Allerdings aus zwei gegensätzlichen Perspektiven, die vielen Chile*innen bekannt vorkommen dürften. Wagner kannte die Gruppe um Schäfer von dem Familienrestaurant „Casino Familar“, welches die Colonia in der chilenischen Stadt Bulnes betrieb. (2) Auf dem Weg in den Urlaub nach Südchile wählte seine Familie das Restaurant der deutschen Siedler*innen, weil ihnen das deutsche Essen schmeckte und ihnen der Ort gefiel. Seine Familie verteidigte die Gruppe und ihr Vorzeige-Image gegen Anfeindungen und Vorwürfe. Hougen-Moragas Familie hingegen kannte früh die Gerüchte von dem Folterlager, welches der chilenische Geheimdienst DINA in der Colonia Dignidad eingerichtet hatte. Sie wusste, dass in der Colonia Dignidad im Auftrag der Militärdiktatur Augusto Pinochets gefoltert und gemordet wurde. Sie wuchs bei ihrer Mutter im dänischen Exil auf und kannte die Warnungen vor der Gruppe um Paul Schäfer.

Als die beiden Filmemacher*innen sich in ihren 30ern kennenlernten, hatten sie längst begonnen, die Geschichten über die Colonia Dignidad weiter zu hinterfragen. Beiden war klar: Sie wollten sich von einem Schwarz-Weiß-Bild ihrer Kindheit und Jugend lösen und die komplexen Facetten in den Blick nehmen, welche die Geschichte der Colonia Dignidad mit sich bringt. Insgesamt besuchten sie die heutige Villa Baviera und ihre Bewohner*innen über einen Zeitraum von dreieinhalb Jahren in regelmäßigen Abständen. Gemeinsam mit ihren Kindern zogen sie für sechs Monate in die nähergelegene Stadt Chillán. Sie ließen die Menschen sprechen und luden sie ein, ihre Sichtweisen auf die eigene Vergangenheit zu teilen. Dabei hatten sie das Ziel vor Augen, die Menschen zu verstehen und die Logik der historischen Sinngebungen zu begreifen.

Auf die Frage, wie Hougen-Moraga und Wagner ihre Interviewpartner*innen ausgewählt haben, hebt Wagner im Gespräch mit diesem Blog hervor:

Wir machen keine Interviews. Wir haben uns mit den Menschen unterhalten. Das ist für uns ein riesiger Unterschied. Denn das Wort Interview beinhaltet ein Machtgefälle zwischen Interviewendem und Interviewten. Wir haben oft und auch sehr lange mit den Menschen gesprochen. Auch ohne Kamera. Wir haben auch einen ganzen Monat die Kamera gar nicht rausgeholt. Viele sind selbst auf uns zugekommen, sobald sie Vertrauen gefasst hatten.

Hougen-Moraga und Wagner fanden unterschiedliche Bewältigungsstrategien für den Umgang mit eigenen Traumata vor:

We found that behind the attempt to create a paradise for themselves and for tourists, people living there have very different strategies for dealing with their traumas: from staying silent about the past and choosing only to remember the bright moments, to a desire to open up while being unable to vocalize their pain.

Zwei ältere einstige Colonia-Anhängerinnen auf der Pflegestation der Villa Baviera, Foto: Wagner & Hougen-Moraga

Die Frage danach, wer eigentlich Opfer des Systems und wer Täter*in war, gelangt dabei in den Hintergrund. Diese Entscheidung der Filmemacher*innen hätte in Anbetracht der mangelnden Aufarbeitung der Verbrechen problematisch ausgehen können. Ist sie aber nicht – ganz im Gegenteil: Die Zuschauerin spürt in jedem Moment die Verwicklungen der gezeigten Personen und ihre individuellen Aushandlungen mit der eigenen oft schmerzhaften und auch schuldaufgeladenen Vergangenheit. Bauchbinden mit Namen, Rolle und Verantwortung im historischen System Colonia Dignidad sind in diesem Film gar nicht nötig, während sie in anderen Doku-Formaten dringender vermisst wurden. „Songs of Repression“ braucht sie nicht, weil der Film nicht auf eine Kategorisierung in Schuld und Unschuld abzielt. Ein geschichtskultureller Drahtseilakt, bei dem die Filmemacher*innen die vielfältigen Bewältigungsstrategien der Betroffenen offenlegen, ohne die Sprechenden vorzuführen.

Eine weitere Besonderheit an diesem feinfühligen Dokumentarfilm ist, dass Wagner und Hougen-Moraga sich von den so genannten Talking Heads, sprechenden Köpfen, entfernt haben. Sie geben ihren Gesprächen mit den Betroffenen einen Kontext. Die Zuschauerin erhält einen Einblick in die Sekunden, manchmal Minuten vor dem offiziellen Beginn. Das verleiht den Aufnahmen eine Authentizität, wie sie Talking Heads und dramatische Erzähl-Stimmen nicht schaffen können. „Songs of Repression“ braucht auch keine dramatisierende Hintergrundmusik oder eine*n Sprecher*in, die das Unbeschreibliche weiter zuspitzt. Der Schmerz der Vergangenheit und die Bewältigungsstrategien sind derart spürbar, dass keine speziellen Effekte nötig sind. Einzig präzise Schnitte, die den Perspektivwechsel dann vornehmen, wenn er dramaturgisch nötig ist, um ein komplexeres Bild von den Menschen in der ehemaligen Colonia Dignidad zu zeichnen. Die filmische Inszenierung gelingt, weil viele Nuancen eingefangen wurden und die Menschen für sich selbst sprechen dürfen.

Bewohner der Villa Baviera, Foto: Wagner & Hougen-Moraga

Dieser souveräne Umgang mit einem erinnerungskulturellen Minenfeld liegt vielleicht auch in der Erfahrung mit problematischen Vergangenheiten begründet, auf die das Team der beiden Regisseur*innen Hougen-Moraga und Wagner zurückgreifen kann. Denn die Produzent*innen Joshua Oppenheimer und Signe Bryge Sørensen haben Erfahrung mit konfliktbehafteten Erinnerungskulturen und ihren vielschichtigen Ausprägungen. Sie wagten mit dem Dokumentarfilm „The Act of Killing“ (2012) eine umstrittene Annäherung an die Täter-Perspektive auf die Massaker in Indonesien 1965–1966.

Dokumentarfilm-Fans und Interessierte an der Geschichte der Colonia Dignidad sehen einen Film, der Ambivalenzen hervorhebt anstatt zu moralisieren. Aber auch ohne Geschehenes zu beschönigen. Der Film ist auf Augenhöhe mit den Betroffenen produziert worden. Und die Beziehung zwischen Filmemacher*innen und Dargestellten endete nicht mit seiner Fertigstellung. Denn Hougen-Moraga und Wagner flogen mit dem fertigen Film zunächst nach Chile, um ihn in der ehemaligen Colonia Dignidad vor der Premiere vorzuführen. Das hatten sie versprochen. Im Gespräch mit diesem Blog heben sie hervor:

Wir möchten weiterhin an dem Thema bleiben. Wir haben viel Kontakt zu den Menschen und wir haben Freundschaften geschlossen. Das ist uns ganz wichtig. Unser Interesse hört nicht auf, weil wir aufgehört haben zu drehen. Deshalb sind wir auch dorthin gefahren, um den Film zu zeigen. Das hat etwas mit Respekt zutun. Wir arbeiten auf eine Art und Weise, wo wir nichts verbergen wollen. Die Offenheit, und ich glaube, dass man das auch im Film merkt, ist uns ganz wichtig.

Was wie eine Kleinigkeit daherkommt, bedeutet den Menschen vor Ort eine Menge. Denn Vertrauen fällt den meisten bis heute nicht leicht. Und zuletzt war es für die Betroffenen häufig schwierig die Filme, Serien und Dokus, an denen sie häufig mitgewirkt haben, überhaupt zu sehen.

Vielversprechend wäre es auch, wenn Hougen-Moraga und Wagner einen zweiten Teil drehen würden – dieses Mal auch mit Perspektiven von außerhalb der Villa Baviera. Zum Beispiel mit explizitem Fokus auf die Erinnerungen der Familienangehörigen von in der Colonia Dignidad Verschwundenen. Oder auch mit Blick auf die Erfahrungen der chilenischen Jungen, die noch in den 1990er-Jahren im so genannten „Intensivinternat“ der Villa Baviera zu Opfern sexualisierter Gewalt durch Paul Schäfer geworden sind. Die politische, juristische, künstlerische und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Colonia Dignidad ist längst nicht abgeschlossen.

„Songs of Repression“ kann ab sofort online beim DOKfest München angesehen werden.

 


Regie: Estephan Wagner & Marianne Hougen-Moraga

Produktion: Signe Bryge Sørensen & Heidi Elise Christensen

Produktionsleitung: Joshua Oppenheimer

Filmlänge: 90 Minuten

Sprachen: Deutsch und Spanisch, englische Untertitel


 

(1) Das Casino Familiar besteht bis heute und wird von der gegenwärtigen Villa Baviera geführt.

(2) Susanne Bauer, Über die Bedeutung und den Einfluss von Musik auf Menschen in extremen Lebenssituationen am Beispiel der Sekte ‚Colonia Dignidad‘ in Chile, in: Stephan Grätzel und Jann E. Schlimme (Hg.), psycho-logik, Jahrbuch für Psychotherapie, Philosophie und Kultur, Freiburg/München 2013, S. 217.