„Ich bin mit dem laufenden Prozess der Aufarbeitung sehr unzufrieden.“
Jürgen Karwelat traf 1976 auf Dieter Maier. Dieser schlug ihm im Namen von Amnesty International die Recherche zu einer deutschen Sekte in Chile vor, in der sich laut Medienberichten chilenische politische Gefangene aufhalten sollten. Im Interview erzählt Jürgen Karwelat von seinen damaligen Recherche-Erlebnissen, der Gründung der „Not-und Interessengemeinschaft der Geschädigten der Colonia Dignidad“ und seiner Enttäuschung über den Verlauf des gegenwärtigen Aufarbeitungsprozesses.
Interview mit dem Mitgründer der „Not- und Interessengemeinschaft der Geschädigten der Colonia Dignidad“ Jürgen Karwelat
Meike Dreckmann: Weißt du noch, wann und wie du zum ersten Mal von der Colonia Dignidad gehört hast?
Jürgen Karwelat: Das war im Herbst 1976. Ich hatte Zeit zwischen meinem Jurastudium an der Ruhr-Universität in Bochum und meiner Referendarzeit, die ich bei verschiedenen Stationen in Dortmund absolvieren wollte. Wir hatten mit Freund*innen einige Jahre zuvor eine Unterstützergruppe für chilenische politische Gefangene gegründet. Deshalb bin ich, ich glaube es war im September 1976, nach Frankfurt am Main zu Amnesty International gefahren, weil diese Gruppe die nach Deutschland geflüchteten Chilen*innen betreute. Ich traf dort auf Dieter Maier, dem ich anbot, für vier Monate in Frankfurt mitzuarbeiten. Dieter Maier lehnte zu meiner damals maßlosen Enttäuschung mein Angebot ab mit dem Argument, so viele Chilenen kämen zur Zeit nicht. Außerdem könnte ich kein Spanisch. Er gab mir dann aber einen kleinen Artikel der Süddeutschen Zeitung aus dem Jahr 1966, in dem über die Flucht eines gewissen Wolfgang Müller aus einem Gut einer deutschen Sekte in Chile berichtetet wurde. Dieter Maier meinte, es gäbe Hinweise darauf, dass in diesem Gut chilenische politische Gefangene festgehalten und gefoltert würden. Ich könnte doch versuchen, mehr über diese Gruppe zu erfahren.
Besonders eigenartig war meine Recherche in Siegburg.
MD: Du hast damals mit Dieter Maier für Amnesty International die berühmte Broschüre „Colonia Dignidad Deutsches Mustergut in Chile – ein Folterlager der DINA“ verfasst. Dabei hast du mit anderen die Recherche zur deutschen Vergangenheit der Schäfer-Sekte übernommen. Wie müssen sich die Leser*innen denn die damaligen Umstände vorstellen, mit denen ihr bei eurer Recherche-Arbeit zutun hattet?
JK: Der Zeitungsartikel war der Beginn einer dreimonatigen Recherche. Begonnen habe ich damit, in Dortmund im Zeitungsforschungsinstitut, alle verfügbaren Zeitungen durchzusehen, ob über die Flucht Wolfgang Müller berichtet wurde. Weil auch Regionalblätter berichtet hatten, entwickelte sich so langsam ein Mosaikbild mit Angaben über die Orte, aus denen die Mitglieder der Sekte stammten. Anschließend war ich für weitere Recherchen in Siegburg, Bonn, Gronau und Hamburg. Dort habe ich mit Journalist*innen, katholischen Priestern, evangelischen Pfarrern, mit Anwohner*innen und auch mit sehr vielen Verwandten gesprochen, die ihre Eltern, Geschwister oder weitere Verwandte an die Sekte verloren hatten. Sie haben mir auch Material, zum Beispiel Briefe und Zeitungsartikel gegeben. Teilweise war ich auch „verdeckt“ unterwegs, wenn ich nicht erwähnte, dass ich für Amnesty International arbeitete, sondern vorgab, eine Diplomarbeit über die Sekte zu schreiben.
Besonders eigenartig war meine Recherche in Siegburg. Während die beiden Regionalzeitungen Siegburger Rundschau und Rhein-Sieg-Anzeiger kritisch über die Colonia Dignidad berichteten, stellte sich der CDU-Bürgermeister Adolf Herkenrath vor die Gruppe, deren deutscher Restteil in Siegburg wohnte und dort einen Lebensmittelladen betrieb. Es handele sich bei der Colonia Dignidad um eine wohltätige christliche Gemeinschaft, die zwar etwas verschroben sei, aber nur Gutes tue. Ganz anders sah das die Junge Union in Siegburg, die ihren Bürgermeister wegen seiner Haltung scharf angriff. Ich hatte bei meinen Recherchen auch etwas Angst, da ich immer mehr haarsträubende Tatsachen über brutale Zustände in der Colonia Dignidad erfuhr und auch die Zusammenarbeit der Sekte mit dem chilenischen Geheimdienst mir unheimlich und gefährlich erschien. Deshalb habe ich jeden Tag meine Mutter informiert, wo ich mich gerade befinde und was ich vorhabe, falls ich mich am nächsten Tag nicht bei ihr melde.
Das Verrückte war, dass ich in Hamburg bei einem Gespräch mit der Mutter eines Sektenmitglieds, das in Chile lebte, erfuhr, dass Wolfgang Müller in Verwandtenkreisen ebenfalls recherchierte. Ich habe mich mit ihm dann in einer Kneipe in Hamburg getroffen und durch vorsichtiges Nachfragen erfahren, dass er bei seinem Arbeitgeber, der Zeitschrift STERN, freigestellt sei, um über die Colonia Dignidad zu recherchieren, da der STERN zu diesem Thema eine Veröffentlichung plane. Das war der Beginn der Zusammenarbeit von Amnesty International und dem STERN, die zur zeitgleichen Veröffentlichung des STERN-Artikels und der Amnesty-Broschüre „Colonia Dignidad – Deutsches Mustergut in Chile, ein Folterlager der DINA“ am 21. März 1977 führte.
MD: Du bist außerdem auch Mitbegründer der „Not- und Interessengemeinschaft für die Geschädigten der Colonia Dignidad“ gewesen. Wie kam es dazu, welche Anliegen hattet ihr konkret und wie erfolgreich war eure Arbeit?
JK: Nach der Veröffentlichung folgte, wie ich das befürchtet hatte, eine Klage der Sekte gegen uns und den STERN vor dem Landgericht Bonn. Die Sekte war so dreist, die von uns zusammengetragenen sehr dichten Aussagen und Indizien zu bestreiten. Vor dem Bonner Landgericht sagten ehemalige Häftlinge und sogar ein DINA-Agent aus, sodass das Thema aber immer wieder in den Medien aufgenommen wurde. Zum nächsten Knall kam es aber, als 1985 die Ehepaare Packmor und Hugo Baar, ehemals mit Paul Schäfer in der Führung der Sekte, aus der Colonia Dignidad flohen und vor der deutschen Botschaft über schwerste Menschenrechtsverletzungen und auch über Waffenschmuggel berichteten.
Paul Schäfer sollte genau wie die anderen Führungsmitglieder strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden.
MD: Und was passierte dann?
JK: Der Deutsche Bundestag griff dies mit gewisser Verzögerung auf und setzte im Februar 1988 eine Anhörung vor einem Unterausschuss des Deutschen Bundestages an. Wolfgang Müller und ich trommelten die uns bekannten Verwandten der Sektenmitglieder zusammen, damit sie an der öffentlichen Anhörung teilnahmen. Es kamen etwa 40 Leute zusammen. Wir haben in Bonn in einem Kloster gewohnt und am Vorabend der Anhörung beschlossen, den Betroffenenverein zu gründen. Der Name „Not-und Interessengemeinschaft der Geschädigten der Colonia Dignidad“ stammte von Wolfgang Müller, der inzwischen geheiratet und den Namen seiner Frau Kneese angenommen hatte. Die Satzung, die wir uns gegeben haben, stammte von mir. Ich habe Wert auf Basisdemokratie gelegt. Wir haben uns bewusst entschieden, wegen der Gefahr zu großer Bürokratie, den Verein nicht ins Vereinsregister einzutragen. Es gibt keinen Vorsitzenden. Wir haben damals fünf gleichberechtigte Sprecher gewählt. Einer davon war ich. Unser oberstes Ziel war, dass die Menschen, die in der Colonia Dignidad lebten, in freier Selbstbestimmung entscheiden sollten, wie sie leben. Paul Schäfer sollte genau wie die anderen Führungsmitglieder strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Auch die Aufklärung und Bestrafung der chilenischen Täter, die Folter und Mord begangen hatten, war Ziel der Not- und Interessengemeinschaft.
MD: Wie ging es dann weiter?
JK: Wir haben uns in den Folgejahren regelmäßig mindestens einmal im Jahr in Hannover oder Braunschweig getroffen. In Siegburg und Gronau haben wir Infoveranstaltungen gemacht und unzählige Interviews gegeben. Bei unserer Aktion in Siegburg kam es zur Konfrontation mit der Sekte, weil wir vor deren Lebensmittelladen unsere Flugblätter verteilt haben und die Sekte daraufhin die Polizei rief.
Leider haben die Aktivitäten der Not- und Interessengemeinschaft nicht den Skandal Colonia Dignidad beseitigt. Wir sind aber über Jahre dran geblieben und haben Bundestagsabgeordnete und das Auswärtige Amt mit Informationen und Protestbriefen versorgt und unser Unverständnis geäußert, dass die Menschenrechtsverletzungen, die in der Colonia Dignidad ja bis zum Verschwinden von Schäfer im Jahr 1997 weiter gingen, nicht unterbunden wurden. Als 2016 der Film „Colonia Dignidad – Es gibt kein Zurück“ in die Kinos kam und dadurch wieder Aufmerksamkeit auf die Colonia Dignidad gezogen wurde, waren wir auch wieder bei öffentlichen Diskussionen dabei und haben Bundestagsabgeordnete sensibilisiert.
Schäfer hat uns, zu Recht, ernst genommen.
MD: Im Februar 2019 habe ich in der Villa Baviera im Rahmen meines Dissertationsprojekts Interviews mit den dortigen Bewohner*innen geführt. Dabei erzählte mir ein Zeitzeuge, dass ihr in der Colonia Dignidad von Paul Schäfer und anderen immer abfällig als „Kot- und Interessengemeinschaft“ bezeichnet wurdet. Ich würde sagen, dass dieser Spottname zeigt, dass ihr an den richtigen Stellen Druck gemacht habt. Siehst du das auch so?*
JK: Wir wussten nicht, dass wir in der Colonia Dignidad als „Kot- und Interessengemeinschaft“ bezeichnet wurden. Wir wussten allerdings, dass Paul Schäfer und seine Führungsgruppe uns bei den Sektenmitgliedern schlecht gemacht hat und vor einem Kontakt mit uns gewarnt hat. Wir waren „vom Teufel“. Dies zeigt allerdings, dass unsere Arbeit Wirkung gehabt hat. Paul Schäfer hat uns, zu Recht, ernst genommen.
Frauen standen beim Sektenführer am untersten Ende der Rangfolge.
MD: Gemeinsam mit Heike Rittel hast du zuletzt die „Frauenprotokolle“ veröffentlicht. In den Interviews mit den Frauen wird sehr deutlich, dass auch die Mädchen und Frauen in der Colonia Dignidad zu Opfern von sexualisierter Gewalt wurden. Welche Bedeutung hatte das Buch deiner Einschätzung nach für den Prozess der Aufarbeitung dieses Teils der Colonia-Geschichte?
JK: Das Buch lenkt die Aufmerksamkeit auf eine Tatsache, die lange ignoriert worden war, nämlich das spezielle Schicksal der Frauen in der Colonia Dignidad. Mädchen und Frauen sind, wie auch die Jungen und Männer, geschlagen, getreten, eingesperrt und mit Psychopharmaka vollgepumpt worden. Für die Frauen hatte das aber zum Teil drastischere Folgen als für die Männer. Viele Frauen wurden unfruchtbar und kämpfen heute mit dem, aus ihrer Sicht, sehr schlimmen Schicksal, keine Kinder bekommen zu haben. Frauen standen beim Sektenführer am untersten Ende der Rangfolge. Das haben wir vor der Veröffentlichung des Buchs mit den Interviews, die Heike Rittel gemacht hat, so nicht beachtet.
Hier wird eine Antragsbürokratie aufgebaut.
MD: Wo siehst du die größten Herausforderungen für den laufenden Aufarbeitungsprozess und was wünschst du den verschiedenen deutschen und chilenischen Opfergruppen für die Zukunft?
JK: Ich bin mit dem laufenden Prozess der Aufarbeitung und Wiedergutmachung sehr unzufrieden. Der Deutsche Bundestag hat im Juni 2017 weitreichende Beschlüsse zur Colonia Dignidad, bzw. zur Villa Baviera, wie sie sich heute nennt, gefasst. Es hapert aber mit der Umsetzung. Zur Entschädigung der Opfer der Sekte, also in erster Linie der deutschen Mitglieder der Sekte, ist zwar die Gründung eines Hilfsfonds beschlossen worden, der für 2019 mit einer Million Euro ausgestattet ist. Die Bedingungen zum Erhalt von maximal 10.000 Euro sind aber sehr bürokratisch ausgestaltet worden. Die Opfer empfinden es als bevormundend und inakzeptabel, dass sie genaue Rechenschaft darüber ablegen müssen, was sie mit dem versprochenen Geld machen. Die Menschen sind sehr arm und haben wegen der jahrelangen Zwangsarbeit keine Rentenansprüche erarbeitet. Das ist ihr Hauptproblem. Geld wird nur gewährt, wenn es verwendet wird, um noch bestehende Defizite, die durch den Aufenthalt in der Colonia Dignidad entstanden sind und noch weiter bestehen, beseitigt oder gelindert werden. Hier wird eine Antragsbürokratie aufgebaut. Klarer und einfacher wäre es gewesen, jedes Opfer hätte den Betrag zur eigenständigen freien Verwendung als Anerkennung der erlittenen Leiden erhalten, ähnlich den Zwangsarbeitern aus Osteuropa, denen man auch keine Vorschriften über die Verwendung des Geldes gemacht hat. In diesem Sinne haben wir bei den Bundestagsabgeordneten und dem Auswärtigen Amt interveniert. Eine Rückmeldung haben wir aber leider nicht erhalten.
Die Schaffung einer Begegnungs- und Erinnerungsstätte in der Villa Baviera kommt meines Erachtens leider auch nicht richtig voran. Auch für die chilenischen Folteropfer muss dringend etwas getan werden. Wir sehen auch keine Aktivitäten, dass nach dem von den Führungsmitgliedern versteckten Geld gefahndet wird. In der Karibik soll Paul Schäfer viel Geld „gebunkert“ haben. Einzig positiv zu bewerten ist der Start des auch von uns begrüßten Oral-History-Projekts der Freien Universität Berlin. Es sollen in den nächsten drei Jahren ca. 50 Interviews mit ehemaligen Sektenmitgliedern, chilenischen Opfern und Aktivist*innen geführt werden, um die Colonia Dignidad wissenschaftlich zu dokumentieren und einen Teil dieser Interviews für die geplante Begegnungs- und Erinnerungsstätte zu nutzen.
MD: Und wie geht es mit der Arbeit der Not- und Interessengemeinschaft weiter?
JK: Eines kann man sagen, die Not- und Interessengemeinschaft, vor 31 Jahren gegründet, ist kleiner geworden, einige unserer Mitglieder sind schon sehr alt, einige sind gestorben. Wir machen aber weiter, um eine gerechte Lösung für die Opfer der Colonia Dignidad zu schaffen.
(Jürgen Karwelat beantwortete die Fragen schriftlich via Email.)
*Aktualisierung am 20. August 2019 um 10:18 Uhr: Als Reaktion auf dieses Interview erhielt ich eine Email, in der ich darauf hingewiesen wurde, dass Paul Schäfer nicht nur von der „Kot- und Interessengemeinschaft“, sondern von der „Kot- und Fäkaliengemeinschaft“ gesprochen hatte, um die Arbeit der „Not- und Interessengemeinschaft der Geschädigten der Colonia Dignidad“ zu diskreditieren.