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Akteur*innen & Projekte/Interviews

„Ich bin mit dem laufenden Prozess der Aufarbeitung sehr unzufrieden.“

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„Ich bin mit dem laufenden Prozess der Aufarbeitung sehr unzufrieden.“

Die Not- und Interessengemeinschaft beim Treffen 2012, Jürgen Karwelat ist der vierte von links.

Jürgen Karwelat traf 1976 auf Dieter Maier. Dieser schlug ihm im Namen von Amnesty International die Recherche zu einer deutschen Sekte in Chile vor, in der sich laut Medienberichten chilenische politische Gefangene aufhalten sollten. Im Interview erzählt Jürgen Karwelat von seinen damaligen Recherche-Erlebnissen, der Gründung der „Not-und Interessengemeinschaft der Geschädigten der Colonia Dignidad“ und seiner Enttäuschung über den Verlauf des gegenwärtigen Aufarbeitungsprozesses. 

Interview mit dem Mitgründer der „Not- und Interessengemeinschaft der Geschädigten der Colonia Dignidad“ Jürgen Karwelat

Meike Dreckmann: Weißt du noch, wann und wie du zum ersten Mal von der Colonia Dignidad gehört hast?

Jürgen Karwelat: Das war im Herbst 1976. Ich hatte Zeit zwischen meinem Jurastudium an der Ruhr-Universität in Bochum und meiner Referendarzeit, die ich bei verschiedenen Stationen in Dortmund absolvieren wollte. Wir hatten mit Freund*innen einige Jahre zuvor eine Unterstützergruppe für chilenische politische Gefangene gegründet. Deshalb bin ich, ich glaube es war im September 1976, nach Frankfurt am Main zu Amnesty International gefahren, weil diese Gruppe die nach Deutschland geflüchteten Chilen*innen betreute. Ich traf dort auf Dieter Maier, dem ich anbot, für vier Monate in Frankfurt mitzuarbeiten. Dieter Maier lehnte zu meiner damals maßlosen Enttäuschung mein Angebot ab mit dem Argument, so viele Chilenen kämen zur Zeit nicht. Außerdem könnte ich kein Spanisch. Er gab mir dann aber einen kleinen Artikel der Süddeutschen Zeitung aus dem Jahr 1966, in dem über die Flucht eines gewissen Wolfgang Müller aus einem Gut einer deutschen Sekte in Chile berichtetet wurde. Dieter Maier meinte, es gäbe Hinweise darauf, dass in diesem Gut chilenische politische Gefangene festgehalten und gefoltert würden. Ich könnte doch versuchen, mehr über diese Gruppe zu erfahren.

Besonders eigenartig war meine Recherche in Siegburg.

MD: Du hast damals mit Dieter Maier für Amnesty International die berühmte Broschüre „Colonia Dignidad Deutsches Mustergut in Chile – ein Folterlager der DINA“ verfasst. Dabei hast du mit anderen die Recherche zur deutschen Vergangenheit der Schäfer-Sekte übernommen. Wie müssen sich die Leser*innen denn die damaligen Umstände vorstellen, mit denen ihr bei eurer Recherche-Arbeit zutun hattet?

JK: Der Zeitungsartikel war der Beginn einer dreimonatigen Recherche. Begonnen habe ich damit, in Dortmund im Zeitungsforschungsinstitut, alle verfügbaren Zeitungen durchzusehen, ob über die Flucht Wolfgang Müller berichtet wurde. Weil auch Regionalblätter berichtet hatten, entwickelte sich so langsam ein Mosaikbild mit Angaben über die Orte, aus denen die Mitglieder der Sekte stammten. Anschließend war ich für weitere Recherchen in Siegburg, Bonn, Gronau und Hamburg. Dort habe ich mit Journalist*innen, katholischen Priestern, evangelischen Pfarrern, mit Anwohner*innen und auch mit sehr vielen Verwandten gesprochen, die ihre Eltern, Geschwister oder weitere Verwandte an die Sekte verloren hatten. Sie haben mir auch Material, zum Beispiel Briefe und Zeitungsartikel gegeben. Teilweise war ich auch „verdeckt“ unterwegs, wenn ich nicht erwähnte, dass ich für Amnesty International arbeitete, sondern vorgab, eine Diplomarbeit über die Sekte zu schreiben.

Besonders eigenartig war meine Recherche in Siegburg. Während die beiden Regionalzeitungen Siegburger Rundschau und Rhein-Sieg-Anzeiger kritisch über die Colonia Dignidad berichteten, stellte sich der CDU-Bürgermeister Adolf Herkenrath vor die Gruppe, deren deutscher Restteil in Siegburg wohnte und dort einen Lebensmittelladen betrieb. Es handele sich bei der Colonia Dignidad um eine wohltätige christliche Gemeinschaft, die zwar etwas verschroben sei, aber nur Gutes tue. Ganz anders sah das die Junge Union in Siegburg, die ihren Bürgermeister wegen seiner Haltung scharf angriff. Ich hatte bei meinen Recherchen auch etwas Angst, da ich immer mehr haarsträubende Tatsachen über brutale Zustände in der Colonia Dignidad erfuhr und auch die Zusammenarbeit der Sekte mit dem chilenischen Geheimdienst mir unheimlich und gefährlich erschien. Deshalb habe ich jeden Tag meine Mutter informiert, wo ich mich gerade befinde und was ich vorhabe, falls ich mich am nächsten Tag nicht bei ihr melde.

„Colonia Dignidad. Deutsches Mustergut in Chile – ein Folterlager der DINA.“

Das Verrückte war, dass ich in Hamburg bei einem Gespräch mit der Mutter eines Sektenmitglieds, das in Chile lebte, erfuhr, dass Wolfgang Müller in Verwandtenkreisen ebenfalls recherchierte. Ich habe mich mit ihm dann in einer Kneipe in Hamburg getroffen und durch vorsichtiges Nachfragen erfahren, dass er bei seinem Arbeitgeber, der Zeitschrift STERN, freigestellt sei, um über die Colonia Dignidad zu recherchieren, da der STERN zu diesem Thema eine Veröffentlichung plane. Das war der Beginn der Zusammenarbeit von Amnesty International und dem STERN, die zur zeitgleichen Veröffentlichung des STERN-Artikels und der Amnesty-Broschüre „Colonia Dignidad – Deutsches Mustergut in Chile, ein Folterlager der DINA“ am 21. März 1977 führte.

MD: Du bist außerdem auch Mitbegründer der „Not- und Interessengemeinschaft für die Geschädigten der Colonia Dignidad“ gewesen. Wie kam es dazu, welche Anliegen hattet ihr konkret und wie erfolgreich war eure Arbeit?

JK: Nach der Veröffentlichung folgte, wie ich das befürchtet hatte, eine Klage der Sekte gegen uns und den STERN vor dem Landgericht Bonn. Die Sekte war so dreist, die von uns zusammengetragenen sehr dichten Aussagen und Indizien zu bestreiten. Vor dem Bonner Landgericht sagten ehemalige Häftlinge und sogar ein DINA-Agent aus, sodass das Thema aber immer wieder in den Medien aufgenommen wurde. Zum nächsten Knall kam es aber, als 1985 die Ehepaare Packmor und Hugo Baar, ehemals mit Paul Schäfer in der Führung der Sekte, aus der Colonia Dignidad flohen und vor der deutschen Botschaft über schwerste Menschenrechtsverletzungen und auch über Waffenschmuggel berichteten.

Paul Schäfer sollte genau wie die anderen Führungsmitglieder strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden.

MD: Und was passierte dann?

JK: Der Deutsche Bundestag griff dies mit gewisser Verzögerung auf und setzte im Februar 1988 eine Anhörung vor einem Unterausschuss des Deutschen Bundestages an. Wolfgang Müller und ich trommelten die uns bekannten Verwandten der Sektenmitglieder zusammen, damit sie an der öffentlichen Anhörung teilnahmen. Es kamen etwa 40 Leute zusammen. Wir haben in Bonn in einem Kloster gewohnt und am Vorabend der Anhörung beschlossen, den Betroffenenverein zu gründen. Der Name „Not-und Interessengemeinschaft der Geschädigten der Colonia Dignidad“ stammte von Wolfgang Müller, der inzwischen geheiratet und den Namen seiner Frau Kneese angenommen hatte. Die Satzung, die wir uns gegeben haben, stammte von mir. Ich habe Wert auf Basisdemokratie gelegt. Wir haben uns bewusst entschieden, wegen der Gefahr zu großer Bürokratie, den Verein nicht ins Vereinsregister einzutragen. Es gibt keinen Vorsitzenden. Wir haben damals fünf gleichberechtigte Sprecher gewählt. Einer davon war ich. Unser oberstes Ziel war, dass die Menschen, die in der Colonia Dignidad lebten, in freier Selbstbestimmung entscheiden sollten, wie sie leben. Paul Schäfer sollte genau wie die anderen Führungsmitglieder strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Auch die Aufklärung und Bestrafung der chilenischen Täter, die Folter und Mord begangen hatten, war Ziel der Not- und Interessengemeinschaft.

Jürgen Karwelat und Mitglieder der CD-Verwandtengruppe am 5.11.1988 in Siegburg. Die Gruppe hatte dort auf dem Platz vor dem Rathaus einen Informationsstand aufgestellt.

MD: Wie ging es dann weiter?

JK: Wir haben uns in den Folgejahren regelmäßig mindestens einmal im Jahr in Hannover oder Braunschweig getroffen. In Siegburg und Gronau haben wir Infoveranstaltungen gemacht und unzählige Interviews gegeben. Bei unserer Aktion in Siegburg kam es zur Konfrontation mit der Sekte, weil wir vor deren Lebensmittelladen unsere Flugblätter verteilt haben und die Sekte daraufhin die Polizei rief.

Leider haben die Aktivitäten der Not- und Interessengemeinschaft nicht den Skandal Colonia Dignidad beseitigt. Wir sind aber über Jahre dran geblieben und haben Bundestagsabgeordnete und das Auswärtige Amt mit Informationen und Protestbriefen versorgt und unser Unverständnis geäußert, dass die Menschenrechtsverletzungen, die in der Colonia Dignidad ja bis zum Verschwinden von Schäfer im Jahr 1997 weiter gingen, nicht unterbunden wurden. Als 2016 der Film „Colonia Dignidad – Es gibt kein Zurück“ in die Kinos kam und dadurch wieder Aufmerksamkeit auf die Colonia Dignidad gezogen wurde, waren wir auch wieder bei öffentlichen Diskussionen dabei und haben Bundestagsabgeordnete sensibilisiert.

Schäfer hat uns, zu Recht, ernst genommen.

MD: Im Februar 2019 habe ich in der Villa Baviera im Rahmen meines Dissertationsprojekts Interviews mit den dortigen Bewohner*innen geführt. Dabei erzählte mir ein Zeitzeuge, dass ihr in der Colonia Dignidad von Paul Schäfer und anderen immer abfällig als „Kot- und Interessengemeinschaft“ bezeichnet wurdet. Ich würde sagen, dass dieser Spottname zeigt, dass ihr an den richtigen Stellen Druck gemacht habt. Siehst du das auch so?*

JK: Wir wussten nicht, dass wir in der Colonia Dignidad als „Kot- und Interessengemeinschaft“ bezeichnet wurden. Wir wussten allerdings, dass Paul Schäfer und seine Führungsgruppe uns bei den Sektenmitgliedern schlecht gemacht hat und vor einem Kontakt mit uns gewarnt hat. Wir waren „vom Teufel“. Dies zeigt allerdings, dass unsere Arbeit Wirkung gehabt hat. Paul Schäfer hat uns, zu Recht, ernst genommen.

Frauen standen beim Sektenführer am untersten Ende der Rangfolge.

MD: Gemeinsam mit Heike Rittel hast du zuletzt die „Frauenprotokolle“ veröffentlicht. In den Interviews mit den Frauen wird sehr deutlich, dass auch die Mädchen und Frauen in der Colonia Dignidad zu Opfern von sexualisierter Gewalt wurden. Welche Bedeutung hatte das Buch deiner Einschätzung nach für den Prozess der Aufarbeitung dieses Teils der Colonia-Geschichte?

JK: Das Buch lenkt die Aufmerksamkeit auf eine Tatsache, die lange ignoriert worden war, nämlich das spezielle Schicksal der Frauen in der Colonia Dignidad. Mädchen und Frauen sind, wie auch die Jungen und Männer, geschlagen, getreten, eingesperrt und mit Psychopharmaka vollgepumpt worden. Für die Frauen hatte das aber zum Teil drastischere Folgen als für die Männer. Viele Frauen wurden unfruchtbar und kämpfen heute mit dem, aus ihrer Sicht, sehr schlimmen Schicksal, keine Kinder bekommen zu haben. Frauen standen beim Sektenführer am untersten Ende der Rangfolge. Das haben wir vor der Veröffentlichung des Buchs mit den Interviews, die Heike Rittel gemacht hat, so nicht beachtet.

Hier wird eine Antragsbürokratie aufgebaut.

MD: Wo siehst du die größten Herausforderungen für den laufenden Aufarbeitungsprozess und was wünschst du den verschiedenen deutschen und chilenischen Opfergruppen für die Zukunft?

 JK: Ich bin mit dem laufenden Prozess der Aufarbeitung und Wiedergutmachung sehr unzufrieden. Der Deutsche Bundestag hat im Juni 2017 weitreichende Beschlüsse zur Colonia Dignidad, bzw. zur Villa Baviera, wie sie sich heute nennt, gefasst. Es hapert aber mit der Umsetzung. Zur Entschädigung der Opfer der Sekte, also in erster Linie der deutschen Mitglieder der Sekte, ist zwar die Gründung eines Hilfsfonds beschlossen worden, der für 2019 mit einer Million Euro ausgestattet ist. Die Bedingungen zum Erhalt von maximal 10.000 Euro sind aber sehr bürokratisch ausgestaltet worden. Die Opfer empfinden es als bevormundend und inakzeptabel, dass sie genaue Rechenschaft darüber ablegen müssen, was sie mit dem versprochenen Geld machen. Die Menschen sind sehr arm und haben wegen der jahrelangen Zwangsarbeit keine Rentenansprüche erarbeitet. Das ist ihr Hauptproblem. Geld wird nur gewährt, wenn es verwendet wird, um noch bestehende Defizite, die durch den Aufenthalt in der Colonia Dignidad entstanden sind und noch weiter bestehen, beseitigt oder gelindert werden. Hier wird eine Antragsbürokratie aufgebaut. Klarer und einfacher wäre es gewesen, jedes Opfer hätte den Betrag zur eigenständigen freien Verwendung als Anerkennung der erlittenen Leiden erhalten, ähnlich den Zwangsarbeitern aus Osteuropa, denen man auch keine Vorschriften über die Verwendung des Geldes gemacht hat. In diesem Sinne haben wir bei den Bundestagsabgeordneten und dem Auswärtigen Amt interveniert. Eine Rückmeldung haben wir aber leider nicht erhalten.

Interview mit Dr. Elke Gryglewski über das geplante Gedenkstättenprojekt in der Villa Baviera

Die Schaffung einer Begegnungs- und Erinnerungsstätte in der Villa Baviera kommt meines Erachtens leider auch nicht richtig voran. Auch für die chilenischen Folteropfer muss dringend etwas getan werden. Wir sehen auch keine Aktivitäten, dass nach dem von den Führungsmitgliedern versteckten Geld gefahndet wird. In der Karibik soll Paul Schäfer viel Geld „gebunkert“ haben. Einzig positiv zu bewerten ist der Start des auch von uns begrüßten Oral-History-Projekts der Freien Universität Berlin. Es sollen in den nächsten drei Jahren ca. 50 Interviews mit ehemaligen Sektenmitgliedern, chilenischen Opfern und Aktivist*innen geführt werden, um die Colonia Dignidad wissenschaftlich zu dokumentieren und einen Teil dieser Interviews für die geplante Begegnungs- und Erinnerungsstätte zu nutzen.

MD: Und wie geht es mit der Arbeit der Not- und Interessengemeinschaft weiter?

JK: Eines kann man sagen, die Not- und Interessengemeinschaft, vor 31 Jahren gegründet, ist kleiner geworden, einige unserer Mitglieder sind schon sehr alt, einige sind gestorben. Wir machen aber weiter, um eine gerechte Lösung für die Opfer der Colonia Dignidad zu schaffen.

(Jürgen Karwelat beantwortete die Fragen schriftlich via Email.) 

*Aktualisierung am 20. August 2019 um 10:18 Uhr: Als Reaktion auf dieses Interview erhielt ich eine Email, in der ich darauf hingewiesen wurde, dass Paul Schäfer nicht nur von der „Kot- und Interessengemeinschaft“, sondern von der „Kot- und Fäkaliengemeinschaft“ gesprochen hatte, um die Arbeit der „Not- und Interessengemeinschaft der Geschädigten der Colonia Dignidad“ zu diskreditieren. 

Akteur*innen & Projekte/Interviews

„Wir haben es mit einem in hohem Maße komplexen Prozess zu tun.“

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„Wir haben es mit einem in hohem Maße komplexen Prozess zu tun.“

Der Gedenkstättenexpertin Dr. Elke Gryglewski ist es in den vergangenen drei Jahren langsam gelungen, alle beteiligten Opfergruppen der ehemaligen Colonia Dignidad an einen Tisch zu bekommen. Im Interview berichtet sie von ihrer persönlichen Beziehung zu Chile, Erinnerungskonkurrenzen unter den Opfergruppen, ihrer erfolgreichen Anti-Bias-Arbeit und den nächsten Schritten in diesem komplexen Prozess des Aufbaus einer Gedenkstätte in der ehemaligen Colonia Dignidad. 

Die stellvertretende Leiterin der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz Dr. Elke Gryglewski im Interview

Meike Dreckmann: Erinnern Sie sich noch daran, wann Sie das erste Mal von der Colonia Dignidad gehört haben?

Elke Gryglewski: Das erste Mal habe ich in den 1980er-Jahren von der Colonia Dignidad gehört, als ich bei Amnesty International tätig war. Bewusst habe ich über die Colonia gelesen, als ich 1992 in Chile studiert und meine Diplomarbeit über die deutschen Einflüsse auf die chilenischen Streitkräfte vorbereitet habe. Ein kurzes Kapitel habe ich dann auch der Colonia gewidmet.

MD: Wie ist Ihre persönliche Beziehung zu Chile?

EG: Von 1970 bis 1979 bin ich in Bolivien aufgewachsen und zur Schule gegangen. Damals war die deutsche Gemeinde sehr konservativ. Als mir im Rahmen des Studiums die Möglichkeit geboten wurde, mit einem Stipendium in Südamerika zu studieren, wollte ich in ein Land, wo ich mir einen neuen Freundeskreis würde aufbauen können und die Menschen mir nicht mit dem Blick auf meinen Vater, den ehemaligen Pastor der deutschen Gemeinde, begegnen würden. 1998 haben wir von der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz gemeinsam mit der Stiftung Topographie des Terrors eine Tagung zum Vergleich des Umgangs mit der Vergangenheit in Chile, Argentinien, Deutschland 1945 und 1989, Polen und Südafrika organisiert. Dabei sind berufliche Kontakte geknüpft worden. Diese wurden über die Städtepartnerschaft Berlin – Buenos Aires bei Tagungen zur Erinnerungskultur, bei denen auch chilenische Einrichtungen vertreten waren, intensiviert. So bin ich seit Ende der 1990er-Jahre regelmäßig in Kontakt mit chilenischen Gedenkstätten.

MD: Sie haben 2016 das erste Seminar, das eine Gedenkstätte auf dem Gelände der Villa Baviera zum Ziel hatte, geplant und geleitet. Worum ging es in diesem ersten Seminar, wer hat teilgenommen und was war Ihr Eindruck nach diesem Auftakttreffen?

EG: Im Rahmen einer Veranstaltungsreihe mit den Angehörigen der in der Colonia Verschwundenen und in der Colonia Verhafteten und Gefolterten, lernte ich Bewohner*innen der ehemaligen Colonia/heutigen Villa Baviera kennen. In den Gesprächen wurden die nachvollziehbar verhärteten Fronten deutlich. So entstand die Idee, unterschiedliche Betroffene nach Berlin zu holen und dort zu einem ganz anderen Kontext, dem Umgang mit der NS-Vergangenheit, ins Gespräch zu bringen. In der Regel nehmen die Besucher*innen in Gedenkstätten das ihnen Präsentierte vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrungen wahr. Ausschlag für den Zeitpunkt des Seminars gab dann die Premiere des Films „Colonia Dignidad – Es gibt kein Zurück“ von Florian Gallenberger. Bei dem Seminar sollten die Eingeladenen soweit möglich ins Gespräch kommen, sie sollten Erinnerungsorte in Berlin und Umgebung kennenlernen, anhand derer man strukturell vergleichbare Herausforderungen würde diskutieren können, wie sie in der heutigen Villa Baviera existieren. Zum Beispiel besuchten wir das Museum und die Gedenkstätte Sachsenhausen, weil der Direktor Prof. Günter Morsch den Teilnehmenden von seinem dezentralen Ausstellungskonzept berichten konnte. Ein Konzept, das entstanden war vor dem Hintergrund zweiter Opfergruppen am historischen Ort und den sich daraus ergebenden Erinnerungskonkurrenzen. Im Rahmen des Seminars sprach außerdem auch der Leiter der Stiftung niedersächsischer Gedenkstätten, Dr. Jens-Christian Wagner, über die Funktion von und den Umgang mit Zeitzeug*innen im Rahmen von Gedenkstättenarbeit.

Damit der Erfolg dieser Veranstaltung sich nicht in Frustration umwandelt, ist wichtig, dass wir bei unserem nächsten Besuch konkrete Ideen zur Diskussion stellen können.

MD: Wie ging es danach weiter?

EG: Bei dem Seminar wurde deutlicher, was man sich vorher schon hätte denken können – dass wir es mit einem in hohem Maße komplexen Prozess zu tun haben würden. Dennoch gelangen erste Gespräche, die Grundlage für die Seminare in den folgenden Jahren waren. Es ist nie ein Prozess gewesen, der sich stetig nach vorne entwickelt hat. Eher haben wir uns immer fünf Schritte nach vorne und dann wieder zwei oder drei zurückbewegt. Ganz bei Null sind wir nie wieder gelandet. Seither haben wir jedes Jahr eine etwa einwöchige Veranstaltungsreihe von Workshops und Seminaren durchgeführt. Ziele dieser Veranstaltungen waren immer, Transparenz zu schaffen für alle Beteiligten, die Meinungen der Betroffenen einzuholen und die unterschiedlichen Betroffenen miteinander ins Gespräch zu bringen. Im Dezember 2018 haben wir es im Rahmen eines OpenSpace/eines Weltcafés in Talca tatsächlich geschafft, alle unterschiedlichen Gruppen (ehemalige und aktuelle Bewohner*innen der Colonia Dignidad/Villa Baviera, chilenische Adoptivkinder, chilenische Missbrauchsopfer, Angehörige der Verschwundenen und ehemalige politische Häftlinge) in ein Gespräch zu bringen. Damit der Erfolg dieser Veranstaltung sich nicht in Frustration umwandelt, ist wichtig, dass wir bei unserem nächsten Besuch konkrete Ideen zur Diskussion stellen können.

MD: Als Expertin für Gedenkstättenarbeit kennen Sie den komplexen Aushandlungsprozess, den ein solches Entstehungsverfahren in der Regel auch an anderen Gedenkorten begleitet hat. Wie unterscheidet sich diese Transitionsphase in der Villa Baviera von anderen Orten? Inwiefern ist sie vergleichbar mit anderen?

EG: Vergleichbar zu anderen Orten ist die Komplexität der Situation: unterschiedliche Opfergruppen, die bis zu einem bestimmten Grad zueinander in Konkurrenz stehen. Vergleichbar ist auch, wenn man an die 1950er/1960er-Jahre in der Bundesrepublik denkt, dass es zahlreiche Stimmen gibt, die darauf drängen, nicht an die Vergangenheit zu denken. Sie möchten den Ort eher mit neuen, vermeintlich positiven Narrativen und Bildern in Verbindung bringen.

Der Unterschied liegt meines Erachtens vor allem darin, dass die Sozialisation der Bewohner*innen (auch der ehemaligen) der Villa Baviera unterschwellig immer eine Rolle spielt. Bis wir in der Villa übernachtet haben, war uns beispielsweise nicht klar, wie stark die frühen Nachkriegsdiskurse die Sichtweise der Bewohner*innen beeinflussen. Traditionen des Antikommunismus wurden nicht nur von Schäfer genutzt, um die Bewohner*innen der Colonia gegen die chilenische Linke aufzuhetzen, sie hatten auch Auswirkungen darauf, wie einzelne Männer in unserem Team betrachtet wurden. Also zum Beispiel: Wer Bart trägt, ist Kommunist. Auf der Ebene von Kommunikation hat die Sozialisation eine immense Auswirkung: Ihr Leben lang sind die Bewohner*innen dazu angehalten worden, andere zu denunzieren, um sich selber zu schützen. Dieses System von Gerüchten, über andere zu sprechen und vermeintliche Informationen weiterzugeben – das erschwert eine Arbeit für einen Erinnerungsort erheblich.

MD: Wie konnte Ihnen die langjährige Berufserfahrung in der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz für Ihre Arbeit mit den Opfergruppen der Colonia Dignidad helfen?

EG: Hilfreich war mit Sicherheit das Wissen um die Schwierigkeit bis hin zu Unwillen, sich mit einer gewaltbelasteten Vergangenheit auseinanderzusetzen. Das hat mich, glaube ich, an manche Situationen weniger aufgeregt herangehen lassen und letztlich auch die Betroffenen/Beteiligten merken lassen, dass es möglich ist, unterschiedliche Positionen zu einer Frage zu haben, sie kontrovers zu diskutieren (gerne auch emotional) und dennoch an einem Tisch zu sitzen. Hilfreich war außerdem die Erfahrung aus der Anti-bias-Arbeit. Wir haben sehr viele Methoden der Gestaltpädagogik und Anti-bias-Arbeit genutzt. Alle Gruppen empfanden es als hilfreich, wegzugehen von den herkömmlichen Gesprächsrunden, in denen manche nicht aufhörten zu sprechen und sie das Gefühl hatten, alles drehe sich im Kreis. Besonders wichtig waren die Erfahrungen durch die Seminare von „Verunsichernde Orte“, einem Modellprojekt, im Rahmen dessen Übungen entwickelt wurden, anhand derer Gedenkstättenmitarbeitende ihre Arbeit reflektieren können. Ich habe mit Erlaubnis der Autor*innen einige der Übungen für unsere Zwecke abgewandelt.

MD: Wie würden Sie die Villa Baviera als Erinnerungsort charakterisieren?

EG: Die Villa Baviera ist kein Erinnerungsort – oder höchstens in dem Sinne, wie Berlin einer ist. Die besonders geschichtsträchtigen Gebäude wird man von dem Rest der Siedlung abgrenzen (auch organisatorisch), dann kann man von der Gedenkstätte Colonia Dignidad in dem Ort Villa Baviera sprechen. Dass es in dem Dorf Villa Baviera dann auch Restaurants/Bistros/Cafés geben muss, wo sich Besucher*innen verpflegen können, scheint mir logisch. Alternativ wäre ein von der Gedenkstätte betriebenes Café/Restaurant, was aber nicht in einem der historisch bedeutsamen Gebäude sein könnte.

Die Mehrheit der Besucher*innen möchte historische Informationen und Emotionen – in der Regel in einem vertretbaren Verhältnis.

MD: Könnte man Ihrer Meinung nach von einem Tourismusbetrieb mit Gedenkorten oder von einem Gedenkort mit Tourismusbetrieb sprechen?

EG: Natürlich sind Besucher*innen von Gedenkstätten vielfach auch Tourist*innen. Nehmen wir die großen KZ-Gedenkstätten in Deutschland oder auch die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, wo die ausländischen Besucher*innen einen größeren Anteil ausmachen, als die Gäste aus Deutschland. Aber da die Häftlinge an diesen Orten sehr international zusammengesetzt waren, oder die Wannsee-Konferenz alle Jüdinnen und Juden Europas im Blick hatte, ist das auch logisch. Entscheidender ist, was die Gäste erwarten. Erwarten sie historische Informationen in für sie nachvollziehbar aufbereiteten Ausstellungen oder erwarten sie ein Gruselkabinett? Die Mehrheit der Besucher*innen möchte historische Informationen und Emotionen – in der Regel in einem vertretbaren Verhältnis. Vor allem aber lassen sie sich von den Mitarbeitenden der Gedenkstätten so betreuen, dass die Geschichte des Ortes und die Würde der Opfer berücksichtigt werden. So wie aktuell der Tourismus in der Villa Baviera gestaltet ist, ist das noch nicht möglich – es wäre aber auch eine Überforderung, das von den Bewohner*innen zu erwarten. Dazu bedarf es unterschiedlicher beruflicher Kompetenzen und vor allem richtige Rahmenbedingungen.

MD: In der medialen Berichterstattung wird der Tourismus- und Restaurantbetrieb in der Villa Baviera häufig scharf als Opferverhöhnung kritisiert. Wie kam es Ihres Erachtens dazu, dass sich mit dem „Zippelhaus“ einer der Schauplätze der Schäfer’schen Gewaltexzesse in ein Restaurant verwandelte?

EG: Meines Wissens ist den Bewohner*innen der Villa Baviera empfohlen worden, hier ein Restaurant einzurichten – mit dem Argument, die Chilen*innen lieben dieses Klischee der Deutschen. Also Bier, Sauerkraut, Lederhosen und solche Dinge.

MD: Auch unter den Bewohner*innen der Villa Baviera gehen die Meinungen auseinander: Während die einen sich eine Schließung des Restaurantbetriebes wünschen, sehen andere darin ein Symbol für wieder- oder neugewonnene Gestaltungsfreiheit von der Schäfer-Diktatur. Wo stehen Sie in diesem Diskurs?

EG: Seitdem ich mit den Bewohner*innen im Gespräch bin, habe ich immer deutlich gemacht, dass ich es für problematisch halte, das Restaurant im „Zippelhaus“ zu führen. Für sie selber ist es ein Ort, der mit schwierigen Erinnerungen verbunden ist. Ich habe in den letzten vier Jahren fast von jedem/jeder Gesprächspartner*in Erfahrungen von Demütigung und Schlägen gehört, die an diesen Ort gekoppelt sind. Neugewonnene Freiheit ist ausgesprochen wichtig. Sie sollte aber an anderen Dingen festgemacht werden können.

Das größte Konfliktpotential besteht in der Sorge, der Ort könnte von der Villa Baviera verantwortet werden und nicht frei zugängig sein.

MD: Wo sind sich die chilenischen und deutschen Opfergruppen einig; wo herrscht das größte Konfliktpotenzial?

EG: Sie sind sich darin einig, dass sie wollen, dass aus der Geschichte der Colonia Dignidad gelernt wird. Alle wollen einen Ort, wo sie ihre Angehörigen (die Fosas (dt.: Massengräber)) oder ihr Leid (das „Zippelhaus“ oder der Kartoffelkeller) betrauern/erinnern können. Sie waren sich auch einig darin, dass ihre Geschichte nicht zusammen erzählt, sondern an den spezifischen Orten präsentiert werden soll. Das größte Konfliktpotential besteht in der Sorge, der Ort könnte von der Villa Baviera verantwortet werden und nicht frei zugängig sein.

MD: Wie ist es Ihnen überhaupt gelungen, die Gruppen an einen Tisch zu bringen?

EG: Es ist gelungen, die unterschiedlichen Gruppen an einen Tisch zu bekommen, weil es eben keine homogenen Gruppen sind. Innerhalb der Gruppen gibt es auch Meinungsunterschiede – und darin liegt die Chance: die Schnittmengen manchmal anders zu definieren und eben nicht nur über die Frage, zu welcher Gruppe jemand gehört.

MD: Welche Themenbereiche zur Colonia Dignidad sollten Ihrer Meinung nach stärker in den Fokus wissenschaftlicher Forschung gelangen, um damit gegebenenfalls auch das inhaltliche Fundament der geplanten Gedenkstätte zu stärken?

EG: Mein Eindruck ist, dass aktuell einige gute und wichtige Arbeiten zur Colonia entstehen. Sie werden die Arbeit zur Gründung einer Gedenkstätte und zur Arbeit der Gedenkstätte selbst sicher unterstützen. So können die zusammengetragenen Quellen wichtiges Material für eine Ausstellung sein oder die geführten Interviews auch in die Ausstellungen aufgenommen werden. Darüber hinaus ist aber mein Eindruck, dass eine Gedenkstätte wichtig wäre, um die Diskurse in der Gesellschaft voranzubringen. Das können nämlich nicht die wissenschaftlichen Arbeiten.

MD: Was ist der nächste Schritt im Planungsprozess der Gedenkstätte?

EG: Eigentlich soll jetzt von zwei deutschen und zwei chilenischen Expert*innen ein Konzept für eine Gedenkstätte geschrieben werden. Als Expert*innen stehen im Moment aber nur Dr. Jens-Christian Wagner, Diego Matte und ich fest. Ich hoffe, dass die zweite chilenische Person bald gefunden wird und wir im September/Oktober unser Konzept formulieren können.

MD: Vielen Dank für Ihre Zeit.

Dr. Elke Gryglewski beantwortete die Fragen schriftlich via Email.