„So geschichtspolitisch umkämpft wie die Colonia ist kaum ein anderer Ort.“
Der Historiker Dr. Jens-Christian Wagner leitet seit 2014 die Stiftung niedersächsische Gedenkstätten. Seit 2017 ist er Teil einer Expertengruppe, die eine Gedenkstätte auf dem Gelände der ehemaligen Colonia Dignidad konzipieren soll. Im Interview erzählt er von seiner Arbeit in diesem geschichtspolitisch umkämpften Ort.
Interview mit Dr. Jens-Christian Wagner über die geplante Gedenkstätte in der Ex-Colonia Dignidad
Meike Dreckmann: Seit wann und wie genau sind Sie im erinnerungskulturellen Feld der ehemaligen Colonia Dignidad tätig?
Jens-Christian Wagner: Das erste Seminar mit ehemaligen Bewohner*innen der Villa Baviera sowie mit ehemaligen Folteropfern und Angehörigen von Verschwundenen habe ich Anfang 2017 in der Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz mitgemacht. Danach war ich bislang an drei Seminaren in Chile beteiligt, die teilweise auch in der Villa Baviera stattfanden. Zusätzlich war ich im Sommer 2018 in Chile und in Villa Baviera, um mir zusammen mit Abgeordneten des Deutschen Bundestages ein Bild vor Ort zu machen und um der gemischten Kommission der deutschen und der chilenischen Regierung zusammen mit Elke Gryglewski und zwei chilenischen Kolleg*innen unsere Vorstellungen vorzustellen, wie ein Gedenk- und Dokumentationsort zur Geschichte der Colonia Dignidad und der unterschiedlichen Opfergruppen aussehen könnte. Leider geht es mit der Einrichtung einer Gedenkstätte bzw. eines Dokumentationsortes nicht so schnell, wie sich das die meisten Beteiligten wünschen.
MD: Woran liegt das?
JCW: Zum einen liegt das an unterschiedlichen Vorstellungen der sehr heterogenen Opfergruppen, noch mehr aber, wie ich es sehe, an unterschiedlichen Vorstellungen auf deutscher und chilenischer Seite auch innerhalb der gemischten Kommission. Dabei muss man berücksichtigen, dass auf chilenischer Seite während des 2016 begonnenen gemeinsamen Prozesses ein Regierungswechsel stattgefunden hat. Statt von einer Mitte-Links-Koalition wird das Land nun von einer Koalition regiert, der auch frühere Pinochet-Anhänger angehören. Die kritische Auseinandersetzung mit der Diktatur und ihren Verbrechen, von denen etliche ja auch in der Colonia Dignidad begangen wurden, ist noch lange nicht Konsens zwischen den politischen Lagern in Chile – etwas, was wir aus dem Deutschland der 1950er und 1960er Jahre ja auch gut kennen. Ein weiterer sicherlich erschwerender Punkt sind die unsicheren oder ungeklärten Eigentumsverhältnisse der heutigen Bewohner*innen der Villa Baviera und derjenigen, die sich in Chile einen anderen Wohnort gesucht haben. Insbesondere letztere leben in sehr prekären Verhältnissen und erhoffen sich von dem Diskussionsprozess um eine Gedenkstätte nicht nur einen kritischen Umgang mit der Geschichte, der auch eigenes Leiden anerkennt, sondern vor allem erst einmal eine Lösung für ihre wirtschaftlichen Probleme.
Elke Gryglewski und ich stehen jedenfalls in den Startlöchern und haben eigentlich auch recht genaue Vorstellungen, wie ein solcher Ort aussehen könnte – Vorstellungen, die mit den verschiedenen Opfergruppen und auch den heutigen Bewohner*innen der Villa Baviera sowie en Ex-Bewohner*innen mehrfach diskutiert wurden.
Im August 2018 wurden Elke Gryglewski und ich sowie die beiden chilenischen Kolleg*innen von der gemischten Regierungskommission beauftragt, ein Konzept für eine Gedenkstätte bzw. einen Gedenkort zur Geschichte der Colonia Dignidad zu erarbeiten. Ich hoffe, dass das nach einem personellen Wechsel auf chilenischer Seite nun bald geschehen kann. Elke Gryglewski und ich stehen jedenfalls in den Startlöchern und haben eigentlich auch recht genaue Vorstellungen, wie ein solcher Ort aussehen könnte – Vorstellungen, die mit den verschiedenen Opfergruppen und auch den heutigen Bewohner*innen der Villa Baviera sowie en Ex-Bewohner*innen mehrfach diskutiert wurden. Im Kern geht es darum, vor Ort innerhalb der heutigen Villa Baviera an den konkreten historischen Orten/Gebäuden an die jeweiligen Opfergruppen zu erinnern, die dort gelitten haben: den Bewohner*innen, die zwischen 1961 und Anfang der 2000er Jahre Opfer von Folter sowie physischer und psychischer Gewalt in der Colonia Dignidad wurden (insbesondere den Kindern, die in den 1960er Jahren von Deutschland in die Colonia gebracht wurden und dort Opfer systematischen sexuellen Missbrauchs wurden; den chilenischen Oppositionellen, die während der Diktatur in den 1970er Jahren in die Colonia verschleppt und dort gefoltert und in vielen Fällen auch ermordet wurden; den chilenischen Missbrauchsopfern der 1980er und 1990er Jahre. Sie alle haben ein Recht auf differenzierende Würdigung und Anerkennung.)
Die Angehörigen brauchen einen Ort, an dem sie trauern können.
MD: Was macht Ihrer Meinung nach gelungene Gedenkstättenarbeit aus? Wann „reicht“ ein Denkmal und wann ist eine Gedenkstätte nötig?
JCW: Ein Denkmal hat eine würdigende Funktion für diejenigen, die damit geehrt werden oder an die erinnert werden soll. Meine Vorstellung von Gedenkstättenarbeit geht weiter: Es geht darum, kritisches Geschichtsbewusstsein und historisches Urteilsvermögen zu vermitteln: Gedenken braucht Wissen und Reflexion. Das geht nur in einer „arbeitenden“ Gedenkstätte mit Forschungs- und vor allem Bildungsarbeit sowie der dafür nötigen Infrastruktur wie Archiv und vor allem Dauerausstellung. Und natürlich geht es darum, die historischen Orte als Exponate zu zeigen und zugänglich zu machen – als „Schaustücke“ und zugleich als Beweismittel für die dort begangenen Verbrechen. Dafür brauchen wir die historischen Orte, und auch deshalb ist es so wichtig, dass die Dokumentationsstätte nicht irgendwo, etwa in Santiago, sondern in der heutigen Villa Baviera eingerichtet wird.
Doch trotz der Wichtigkeit einer auf Reflexion setzenden Dokumentationsstätte ist das Gedenken wichtig – insbesondere für die Angehörigen der Regimegegner, die in der Colonia von der DINA unter tätiger Beihilfe der Colonia-Führung ermordet wurden und als „verschwunden“ gelten. Die Angehörigen brauchen einen Ort, an dem sie trauern können.
MD: Während meines diesjährigen Forschungsaufenthaltes in der Villa Baviera habe ich etwas Interessantes erlebt: Einige Zeitzeug*innen, die mir vor drei Jahren sagten, dass es wichtig sei, „einen Schlussstrich unter die Vergangenheit“ zu ziehen, wünschten sich im Februar 2019 das Gegenteil. Sie nahmen auch Bezug auf die von Elke Gryglewski und Ihnen organisierten Gruppen-Seminare und erläuterten mir die Notwendigkeit einer Gedenkstätte auf dem Gelände der heutigen Villa Baviera. Was ist in den letzten drei Jahren passiert? Kann der Sinneswandel Einzelner als Erfolg Ihrer partizipativen Gedenkstättenkonzeption gewertet werden?
JCW: Ja, ich glaube, das ist ein Erfolg, der allen Beteiligten zuzuschreiben ist – vor allem den Seminarteilnehmer*innen aus verschiedenen Opfergruppen, die es sich wirklich nicht einfach gemacht haben.
In der deutschen Gedenkstättenarbeit sind wir bisweilen zu autoreferentiell.
MD: Was gefällt Ihnen an Ihrer Arbeit zu dem Thema und was waren und sind Ihre größten Herausforderungen in dem erinnerungskulturellen Feld rund um die Villa Baviera?
JCW: Es ist immer gut, über den Tellerrand zu schauen. In der deutschen Gedenkstättenarbeit sind wir bisweilen zu autoreferentiell. Da ist es gut, auf andere geschichtspolitische Konstellationen zu schauen – und auch von anderen zu lernen. Sehr beeindruckt bin ich etwa von der Arbeit des Museo de la Memoria in Santiago, mit dem wir immer wieder kooperiert haben. Die gegenwartsbezogene und in die Gesellschaft hinein gerichtete Arbeit ist beispielhaft.
Das erinnerungskulturelle Feld rund um die ehemaligen Colonia Dignidad ist aus diversen Gründen außerordentlich schwierig: 1. Sowohl die deutschen als auch die chilenische Regierungen haben sich lange Zeit schwer damit getan, zu ihrer Verantwortung zu stehen. 2. Die Opfergruppen sind sehr heterogen und haben nicht unbedingt identische Interessen. 3. Unter den Bewohner*innen der Villa Baviera, den sogenannten Colonos, gibt es Täter, Opfer und Personen, die beides sind. 4. Die heutigen Bewohner*innen und die Ex-Colonos haben unterschiedliche Interessen. 5. Unter den Colonos und Ex-Colonos herrscht bis heute ein anerzogenes tiefes Misstrauen untereinander und eine gewisse Neigung zu einem denunziatorischen Verhalten. 6. Auch unter den chilenischen Opferverbänden gibt es Spannungen, die politisch und sozial bedingt sind (die bäuerlich geprägten Opfergruppen aus der Umgebung von Parral haben andere Interessen als die Gruppen aus Santiago, in denen auch mittelständische Akademiker*innen vertreten sind). 7. Viel zu wenig präsent ist bislang die Gruppe der chilenischen Missbrauchsopfer, die sich aus verständlichen Gründen scheuen, öffentlich zu agieren.
Diese unterschiedlichen Interessen unter einen Hut zu bekommen, ist fast unmöglich. Deshalb ist es so wichtig, dass die Gruppen einander wenigstens respektieren und das Leid der jeweils anderen anerkennen – und auch die Unterschiede anerkennen. Dazu haben die von Elke Gryglewski organisierten Seminare erfolgreich beigetragen.
Und die beschauliche Ruhe in der Villa Baviera bietet für die Bildungsarbeit gute Möglichkeiten für intensive Gruppenformate, insbesondere Mehrtagesveranstaltungen.
MD: Gibt es in Ihren Augen auch etwas, dass gegen eine Gedenkstätte vor Ort sprechen könnte?
JCW: Das einzige Argument, dass ich ansatzweise nachvollziehbar finde, ist das der Abgelegenheit in der Provinz. Allerdings ist das eine Frage der Perspektive: Von Santiago aus betrachtet mag das so sein. Von der Großstadt Concepción aus sieht das schon anders aus. Und die beschauliche Ruhe in der Villa Baviera bietet für die Bildungsarbeit gute Möglichkeiten für intensive Gruppenformate, insbesondere Mehrtagesveranstaltungen.
MD: Inwiefern unterscheiden sich Gedenkstätten in Chile von Gedenkstätten in Deutschland? Ist es schwierig im Hinblick auf kulturelle Unterschiede eine Gedenkstätte zu errichten, in der sich alle deutschen und chilenischen Opfergruppen repräsentiert fühlen?
JCW: Es gibt nicht nur kulturelle Unterschiede, sondern vor allem politisch-gesellschaftliche: In Chile liegt die Diktatur erst knapp 30 Jahre zurück, in Deutschland die NS-Diktatur 75 Jahre. In Deutschland gibt es bezogen auf den Nationalsozialismus kaum noch zeitgenössische Erfahrungen, in Chile dagegen leben Täter und Opfer noch, und das in einer Gesellschaft, die politisch tief gespalten ist. Unter diesen Umständen haben die Gedenkstätten noch sehr viel stärker die Funktion, historische Wahrheit in die Gesellschaft hineinzutragen. Dass die NS-Herrschaft mörderisch und verbrecherisch war und dass auch in der DDR Menschenrechte systematisch verletzt wurden, stellt in Deutschland kaum jemand in Zweifel – auch wenn um die Erinnerung an das SED-Unrecht, siehe etwa Hohenschönhausen, teils heftig gekämpft wird. Trotzdem käme in Deutschland vermutlich kaum eine Gedenkstätte auf die Idee, mit dem Slogan „verdad y justicia“ anzutreten – jedenfalls nicht in Gedenkstätten zu NS-Verbrechen–,weil es aus der NS-Zeit generationell bedingt kaum noch Schuldige gibt und weil die Anerkennung der nationalsozialistischen Verbrechen gesellschaftlicher Konsens ist – auch wenn er von rechter Seite zunehmend in Frage gestellt wird.
So isoliert wie oft behauptet war die Colonia Dignidad gar nicht.
MD: Welche inhaltlichen Schwerpunktthemen sollten in einer Gedenkstätte auf dem Gelände der Villa Baviera nach aktuellem Kenntnisstand unbedingt berücksichtigt werden?
JCW: Zunächst einmal müsste die Geschichte der Colonia Dignidad dargestellt werden – beginnend mit der Sektengründung in Deutschland. Auch das politische und gesellschaftliche Klima der Nachkriegszeit muss dabei thematisiert werden, insbesondere die Nachwirkung des Nationalsozialismus, die sich auch in der totalitären Praxis der Colonia Dignidad zeigte. Selbstverständlich ist das Klima totalitärer Kontrolle sowie psychischer und physischer Gewalt und der sexuelle Missbrauch zu thematisieren – auch unter Gender-Perspektive. Allein schon die Sprache, die sich in der Colonia Dignidad entwickelt hat, ist sehr aussagekräftig. Extrem wichtig ist es, die enge Verbindung der Sekte zum Pinochet-Regime und insbesondere zur DINA darzustellen, und das nicht nur in den 1970er Jahren, sondern bis zum Ende der Diktatur und darüber hinaus. Hier spielen die Folterungen und Morde an chilenischen Regimegegner*innen eine große Rolle. Auch der Missbrauch an Jugendlichen aus der Umgebung der Colonia muss thematisiert werden, wie überhaupt die Einbindung der Colonia in ihr räumliches und gesellschaftliches Umfeld gezeigt werden muss: So isoliert wie oft behauptet war die Colonia Dignidad gar nicht (allein schon wegen der vielfältigen Geschäftsbeziehungen nach „draußen“). Das bedeutet natürlich auch, dass es viele Mittäter*innen außerhalb gab. In diesem Zusammenhang ist schließlich auch die Rolle der deutschen Botschaft und des Auswärtigen Amtes zu hinterfragen.
MD: Wissen Sie von einem Ort auf dieser Erde, der vergleichbar wäre mit der Villa Baviera? Ihrer Geschichte und ihrer Gegenwart?
JCW: Mit ihrer sehr konkreten Geschichte ist die Colonia Dignidad bzw. Villa Baviera einzigartig, auch wenn es bekanntlich leider sehr viele Orte auf der Welt gibt, an denen andere Regime- und Gesellschaftsverbrechen begangen wurden. So vielschichtig und bis heute geschichtspolitisch umkämpft wie die Colonia Dignidad ist aber kaum ein anderer Ort.
MD: Vielen Dank für den Einblick in Ihre Arbeit und Sichtweisen.
Jens-Christian Wagner beantwortete mir die Fragen via Email.